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Ausgabe:

Juni/1998

Spalte:

624 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hübner, Ingolf

Titel/Untertitel:

Wissenschaftsbegriff und Theologieverständnis. Eine Untersuchung zu Schleiermachers Dialektik.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1997. IX, 306 S. gr. 8 = Schleiermacher Archiv, 18. Geb. DM 228,-. ISBN 3-11-015659-8.

Rezensent:

Hermann Peiter

Angesichts des drohenden Auseinanderfallens von Theologie und Philosophie sucht Ingolf Hübner in seiner von der Theologischen Fakultät (dieselbe macht damit ihrem Gründer wieder alle Ehre) der Berliner Humboldt-Universität angenommenen, für die Druckfassung an einigen Stellen überarbeiteten Dissertationschrift eine Auseinandersetzung mit der "Dialektik", die Schleiermacher (im folgenden = Schl.) als Organon aller Wissenschaft verstehe (V). So dürfte auch eine vorwiegend philosophisch interessierte Leserschaft auf ihre Kosten kommen, wenn sie sich etwa in H.s Kant- und Schelling-Darstellung oder in H.s 4. Teil (= "Rezeption und Wirkungen der Dialektik") vertieft. Schl.s Versuch, die Balance zwischen transzendentalen und methodologischen Voraussetzungen bzw. Argumentationen durch einen existentiellen Bezug zu halten, zeige sowohl die Grenzen seiner spekulativen Durchdringung als auch die seiner empirischen Konkretionen (247). Während Terrence N. Tice schreibt: Schl. "chooses mostly to refer back to the Greeks, especially Plato" (Dialectic or, The Art of Doing Philosophy, 1996, page XIV), behauptet H. kurzschlüssig, in Schl.s Dialektikverständnis ließen sich nur äußerliche Bezüge zur Philosophie Platons feststellen (22).

Seinen 1. Teil widmet H. der Dialektik der Subjektivität, der Dialektik der Einheit, des Daseins, der Intersubjektivität, der Dialektik als kommunikativer Interaktion sowie der Dialektik des Wissens. Schl. erweitere den Begriff der Subjektivität, indem er an dessen Stelle das Selbstbewußtsein mit seinen Implikationen setze (34). - In seinem 2. Teil legt H. auf überzeugende Weise dar, daß Schl. im Prozeß der Wissensbildung mit einer anhaltenden Differenz des Denkens und einer Relativität des Wissens rechnet und sich der Empirik und Individualität in der Wirklichkeit bewußt ist (125). Wo bleibt, frage ich, die theologische Parallele?

"Die Positivität der Theologie besteht nicht in der Positivität der Kirche, sondern in der aus dem Wesen des Christentums sich ergebenden Aufgabe der Kirchenleitung", steht in H.s 3. Teil (S. 134) zu lesen. Auf "Eigentümlichkeit" gedeutet würde "Positivität" m. E. aufhören, ein in diesem Zusammenhang unverständliches Wort zu sein. Eigentümlichkeit kommt der Theologie und der Kirche in gleichem Maße zu.

Nach H. bringt die Theologie ihren Gegenstand nicht hervor, sondern expliziert dessen Gegebenheit (130). In dem von H. benutzten Sammelband "Schl. und die wissenschaftliche Kultur des Christentums" (meinen Beitrag darin berücksichtigt H. nicht) hatte ich einschränkend daran erinnert, daß positive Wissenschaften "nicht blos ein Seyn darstellen, sondern eines hervorbringen wollen". Auch H. kommt schließlich darauf, daß die Theologie "in der Perfektion einer Aufgabe zugleich produktiven Charakter" hat (133).

Auch für andere positive Wissenschaften als die Theologie ist an einer Aufgabe nicht das Wichtigste, daß sie eine gegebene, sondern daß sie eine besondere (eigentümliche) ist. "For a physician or a lawyer, the most important matter, namely health or justice, is not given but is not yet existent" (mein Beitrag in "Papers of the Schleiermacher Group", AAR, San Francisco 1997, p. 18). "What is given to a theologian can be just as disagreeable as the back injury with which a physician sees oneself confronted or as the wrong that calls for a lawyer’s attention" (p. 19; vgl. unten meine Bemerkungen zu H.s 5. Teil!).

Ein produktiver Wissenschaftsbegriff muß für H. nicht nur deskriptive, sondern zugleich normative Elemente umfassen (138). Eine Wissenschaft wie die Christliche Sittenlehre hält sich freilich in der Form der schlichten Beschreibung (meine von H. nicht berücksichtigte textkritische Ausgabe von 1983, 50 f). Das Neue, das über das Altbewährte hinausgeht, verdankt sich keinen normativen, sondern divinatorischen Elementen.

Für H. zeigt die Frage nach dem Verständnis der geschichtlichen Veränderungen, wie die von 1989, daß auch das Verstehen der Gegenwart einer Öffnung der Denkansätze bedarf (3). Zwar schließt H. sich an einer Stelle der gängigen Auffassung an, für die Entstehung und das Verständnis der Theologie sei deren Funktion konstitutiv (194). Demzufolge müßte ein princeps ecclesiae, den Schleiermacher als "Kirchenfürsten" bezeichnet, sich wohl oder übel dazu bequemen, das christliche Pendant zu einem kommunistischen Funktionär unseligen Angedenkens zu werden. Auf einen solchen "geistigen" Verwandten legt indessen H. nicht den geringsten Wert. An anderer Stelle warnt er davor, die Theologie auf die bloße Funktion einer empirischen Kirche (welche Kirche wäre nicht zugleich "empirisch"?) zu verkürzen (155). Die Funktionen, die Funktionäre haben, üben sie im Rahmen einer Herrschaft aus. In der Kirche gibt es zwar geistige Überlegenheit, aber keine Herrschaft.

In seinem 5. Teil behauptet H. u. a., das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl qualifiziere als Sein Gottes in uns bruchlos das Sein des Menschen; daher seien Negationen des Seins, wie sie theologisch mit Sünde und Kreuz zu bezeichnen wären, in Schl.s theologischem Ansatz nicht adäquat denkbar (277). Ist das "Außer uns" (CG1, Bd 3, 29), ohne das es keine schlechthinnige Abhängigkeit gäbe, ein "In uns"? Ungleich fruchtbarer dürfte es sein, wie H. und gemeinsam mit ihm um eine Deutung des entscheidenden, von anderen Interpreten viel zu wenig beachteten Ausdrucks "unmittelbares Existentialverhältniß" (s. auch in H.s Index) zu ringen.