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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1241–1243

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Bolle, Rainer, Knauth, Thorsten, u. Wolfram Weiße [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Hauptströmungen evangelischer Religionspädagogik im 20. Jahrhundert. Ein Quellen- und Arbeitsbuch. Hrsg. unter Mitarbeit v. H. Gloy, F. Steffensky u. G. Mitchell.

Verlag:

Münster-New York-München-Berlin: Waxmann 2002. 8, VIII, 403 S. gr.8 = Jugend - Religion - Unterricht, 8. Kart. Euro 25,50. ISBN 3-8309-1223-4.

Rezensent:

Michael Wermke

Wissenschaftliche Quellen- und Arbeitsbücher erfreuen sich insbesondere unter Studierenden besonderer Beliebtheit, zumal wenn sie einen gewissen Vollständigkeitsanspruch erheben. In vorliegendem Fall sollen die Hauptströmungen der Konzeptionsentwicklung im Bereich der evangelischen Religionspädagogik anhand exemplarischer fachpolitischer und -didaktischer Texte repräsentiert werden. Unter Lehrenden werden diese Werke mit einer gewissen Skepsis betrachtet, sollen doch die Studierenden durch solch ein Sammelwerk nicht der eigenen Quellensichtung und -gewichtung enthoben werden. Allerdings versammeln Quellenbücher oft nur schwer erreichbare Texte, die anderenfalls leicht aus dem Blick gerieten. Insofern ist die Herausgabe eines Quellenbuches sehr verdienstvoll, zumal eine solche Tätigkeit vor der ebenso selbstredenden wie verantwortungsvollen Aufgabe steht, eine Auswahl gewissenhaft und ausgewogen vorzunehmen. Dies gilt um so mehr, wenn es sich um eine Re-Konstruktion geschichtlicher Bedeutsamkeit handelt: Die Entscheidung über die Repräsentativität eines Textes für eine bestimmte Epoche ist zuallererst den Prämissen der jeweiligen Gegenwart geschuldet. Die eigentliche methodische Herausforderung besteht dann auch in der Transparenz entsprechender Auswahlkriterien und hier liegt auch die Schwäche dieses Quellenbuches.

Zunächst gilt es jedoch hervorzuheben, dass es den drei Herausgebern gelungen ist, die Bedeutung der noch relativ kurzen Geschichte der Religionspädagogik für die gegenwärtigen Debatten um die Stellung des Religionsunterrichts im Spannungsfeld von Staat und Kirche und um das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis der Religionspädagogik im Verhältnis zur Theologie und Pädagogik zu erfassen und sich hierbei selbst deutlich zu positionieren.

Die Kapiteleinteilung folgt der hinlänglich bekannten Epochalisierung: Die ersten beiden Kapitel beziehen sich auf die Forderung eines eigenständigen schulischen Religionsunterrichts im ausgehenden deutschen Kaiserreich und den Versuch der konzeptionellen Neuverortung in der Weimarer Republik. Sehr zu begrüßen ist die ausführliche Darstellung der Religionspädagogik in der Zeit des Nationalsozialismus im dritten Kapitel. Erwartungsgemäß beziehen sich die drei folgenden Kapitel auf die Phasen der Evangelischen Unterweisung in den 1940er und 50er Jahren, des hermeneutischen Religionsunterrichts in den 60er Jahren und schließlich des problemorientierten Religionsunterrichts in den 70er Jahren, wobei diese Epochengliederung im Dekadenrhythmus eher doch idealisierend ist. Ganz im Zeichen des Pluralismus nehmen die Autoren für die Entwicklungen in den 80er und 90er Jahren keine vereinheitlichenden Tendenzbeschreibungen mehr vor, sondern versuchen die jeweiligen Entwicklungen in ihrer paradigmatischen Offenheit zu erfassen: Religionspädagogische Diskussion in den 80er Jahren - mit der dann doch klaren Schwerpunktsetzung in den Bereichen Symbol- und Bibeldidaktik - und Zwischen Säkularisierung und religiöser Pluralisierung. Die Entwicklung in den 90er Jahren mit einer Ausrichtung auf die konzeptionelle Verortung des Religionsunterrichts. Die einzelnen Kapitel verfügen über knappe, informative Einleitungen und über weiterführende Literaturlisten. Für die Arbeit in den Seminaren dürften die Unterrichtsbeispiele besonders reizvoll sein. Sehr zu bedauern ist, dass der Religionsunterricht in Ostdeutschland außerhalb von Brandenburg unberücksichtigt bleibt.

Den Herausgebern ist gewiss zuzustimmen, dass in Zukunft wohl kein festgelegtes Einheitsmodell von RU, sondern regional unterschiedliche Konzeptionen und Entwürfe vorfindbar sein werden (344), obgleich neuere Lehrpläne und Unterrichtswerke durchaus erfolgreich einem integrativen Weg folgen. Umso bedenklicher ist dann jedoch das Anliegen der Herausgeber, entgegen ihrem Anspruch auf Repräsentativität die Darstellung der Hauptströmungen der religionsdidaktischen Diskussion nach 1945 vor allem im Interesse einer Rekonstruktion der problemorientierten Konzeption zu betreiben: Während nach Auffassung der Herausgeber das Scheitern der Konzeption der Evangelischen Unterweisung auf inhärente konzeptionelle Schwächen (132) zurückzuführen sei, soll der problemorientierte Religionsunterricht recht schnell zu einer "komplexe[n] religionspädagogische[n] Gesamtkonzeption" herangereift sein, die dann auch die didaktischen Unzulänglichkeiten der hermeneutischen Konzeption bloßlegte (169). Ab Mitte der 70er Jahre sei jedoch dieses Konzept auf einen "massiven Gegenwind in Gesellschaft, Kirche und Erziehung" getroffen, "noch bevor das in ihm liegende Potential voll entfaltet werden konnte" (224 f.). Dieses Potenzial könne nun aber unter den gewandelten Vorzeichen des interreligiösen und interkulturellen Lernens im so genannten Hamburger Modell eines RU für alle fruchtbar gemacht werden (344). Diese zu eingängige Darstellung der Geschichte der Religionspädagogik provoziert die Rückfrage, ob sie nicht vielmehr so zu sehen ist, dass die Evangelische Unterweisung einem zunehmenden gesellschaftlichen Gegenwind ausgesetzt war und eher der problemorientierte Religionsunterricht aus konzeptionellen Gründen scheiterte, weil er seine konzeptionelle Fahne faktisch, wenn auch ungewollt, stets an den gesellschaftlichen Problemen ausrichtete.

Jedenfalls erklärt die einseitige Favorisierung einer bestimmten religionsdidaktischen Konzeption, warum sich die Darstellung der Hauptströmungen der religionspädagogischen Konzeptionsentwicklung in jener Zeit auf fachpolitische Verlautbarungen beschränkt, die sich ihrer Tendenz nach für eine Öffnung des Religionsunterrichts und gegen seine konfessionelle Orientierung aussprechen. In der Tat ist in der damaligen Zeit eine hitzige wie produktive fachpolitische Auseinandersetzung um den RU für alle geführt worden, die in der Öffentlichkeit mit viel Interesse wahrgenommen wurde. Die Diskussionen um die EKD-Denkschrift Identität und Verständigung (1994) und um das - in dem Quellenbuch unbeachtet gebliebene - Bischofswort Die bildende Kraft des Religionsunterrichts (1996) haben jedoch sehr deutlich gemacht, dass die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts - ob im bisherigen Modell der konfessionellen Trennung, der konfessionellen Kooperation oder im Fächerverbund - noch lange nicht beendet ist. Man wird die fachpolitische Debatte um den Religionsunterricht vor allem außerhalb von Hamburg und Brandenburg (LER) in den 90er Jahren und auch in der Zukunft nicht verstehen, wenn die konfessionelle Bindung des Religionsunterrichts wie im vorliegenden Quellenbuch schlicht unterschätzt wird.

Die Beschränkung der Hauptströmungen in den 90er Jahren auf die fachpolitische Diskussion um das Modell eines allgemeinen Religionsunterrichts ignoriert aber nicht nur die Zukunftsfähigkeit des konfessionell orientierten Religionsunterrichts, sondern auch die in diesen Jahren geführte Diskussion um die Zeichendidaktik (Michael Meyer-Blank u. a.) und die neueren symboldidaktischen Ansätze (Peter Biehl, Festsymbole 1999). Auch wenn beide didaktische Entwürfe für die Konzeption eines offenen Religionsunterrichts ohne Interesse sein sollten, wäre jedoch spätestens an dieser Stelle eine entsprechende Kommentierung der Auswahlkriterien von Nöten gewesen, damit die Leser nicht den Anschluss zu den gegenwärtigen didaktischen Diskussionen (z. B. um die Performative Didaktik) verlieren.

Natürlich spricht nichts dagegen, sich für eine Renaissance des problemorientierten Religionsunterrichts angesichts globaler Herausforderungen zu engagieren und in die religionspädagogische Theoriebildung die Bedeutung ökonomischer, politischer und sozialer Verflechtungen des Lebens wieder stärker zu integrieren. Ob das Hamburger Modell für sich jedoch den Anspruch erheben darf, eine Hauptströmung der evangelischen Religionspädagogik zu sein, muss sich erst noch zeigen, ihr mainstream ist es ganz gewiss nicht.