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Ausgabe:

November/2004

Spalte:

1218–1220

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kück, Cornelia

Titel/Untertitel:

Kirchenlied im Nationalsozialismus. Die Gesangbuchreform unter dem Einfluß von Christhard Mahrenholz und Oskar Söhngen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 323 S. gr.8 = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 10. Geb. Euro 48,00. ISBN 3-374-02095-X.

Rezensent:

Konrad Klek

Der Titel lässt ein neues Kapitel "Enthüllungsjournalismus" erwarten: Nachdem in den 1990er Jahren eine schließlich unter dem Titel "Kirchenmusik im Nationalsozialismus" zusammen- gefasste Aufsatzreihe für Furore sorgte, welche den von Oskar Söhngen 1954 errichteten Mythos "Kämpfende Kirchenmusik" gründlich zerstörte, ist jetzt speziell das Gebiet Gesangbuchreform dran, das damals höchstens am Rande im Blick war. Auch hier haben bisher Selbstdarstellungen aus der Feder der beiden Hauptmatadoren Söhngen und Mahrenholz aus den Jahren 1949 und 1950 die Sicht der Dinge auf den Entstehungsprozess des 1950 eingeführten Evangelischen Kirchengesangbuchs (EKG) bestimmt, namentlich bei den Hymnologen. Die Vfn. tritt nun an, mit der Methodik "kirchengeschichtlicher Fragestellung" solche Auto-Historiographie kritisch zu hinterfragen.

Sie rekonstruiert minutiös anhand von in landeskirchlichen Archiven greifbaren einschlägigen Sitzungsprotokollen und Schriftverkehr-Beständen die komplexen Vorgänge "auf dem Weg zum Reichsgesangbuch" von 1933 bis 1945, nachdem sie zunächst wesentliche Stationen der Gesangbucharbeit vor 1933 und die wachsende Bedeutung der Singbewegung für die Gesangbuchfrage umrissen hat. Dabei gelingt es ihr einerseits, die Verflechtung der Kommissionsbildungen mit kirchlichen und kirchenmusikalischen Gleichschaltungsprozessen transparent zu machen, was zur Abkoppelung der Gesangbucharbeit von landeskirchlich legitimierten Gremien führte, andererseits die keinesfalls kritiklose Aufnahme der verschiedenen Liedsammlungen zu belegen, die als Vorstufe zur Konzeption des EKG gelten können. Die "kritische Bilanz" im Schlusskapitel korrigiert präzise die Einlinigkeit, landeskirchliche Legitimation und Erfolgsstory suggerierenden Darstellungstendenzen von Söhngen und Mahrenholz. Auch die vermeintlich stets klare Ablehnung aller deutsch-christlichen Tendenzen wird durch Aufweis der eigenen Entjudungsaktionen z. B. in einem "Zionismen-Ausschuss" und der Verhandlungen mit den Bremer DC-Gesangbuchmachern in ein anderes Licht gerückt. Christhard Mahrenholz, vor kurzem aus Anlass seines 100. Geburtstages abermals gerühmt in ungebrochener Väterhuldigungsmanier, erscheint nun als unermüdlicher Strippenzieher in eben alle Richtungen, dem es so tatsächlich gelingt, seine mit Singbewegung und liturgischer Erneuerung korrelierenden Vorstellungen eines "Liedkanon[s]" als Gesangbuchprofil für das EKG durchzusetzen. Leider wird der Weg bis zur Beschlussfassung des EKG nach 1945 nicht mehr vollständig weiterverfolgt, da hier die vorgeordnete Kategorie "Nationalsozialismus" nicht mehr greift.

Die Intention der Vfn. ist, wie im Schlusssatz formuliert, aufzuweisen, dass sich mit der Zentralstellung des "Reichsobmanns" Mahrenholz im Kirchenchorverband, welcher die Gesangbucharbeit an sich gezogen hatte, "auch im hymnologischen Bereich eine überaus deutliche Affinität zum Führerprinzip durchgesetzt hatte."

Diesem Resümee ist nicht zu widersprechen. Als problematisch erachtet der Rezensent jedoch wie bei vielen ähnlichen Formulierungen in dieser Arbeit, dass ein Wort wie "Führerprinzip" offensichtlich politisch wertend gesetzt wird, eine sorgfältige Trennung zwischen Erhebung des (Akten-)Befundes und Wertung mit Diskussion der Wertungskriterien aber nicht stattfindet. Das "Führerprinzip" etwa gehört essentiell zur Singbewegung, die weit vor 1933 entstanden ist und darum nicht eo ipso unterschwellig für "braun" erklärt werden kann, ebenso wenig wie die 1931 gegründete Michaelsbruderschaft, deren Mitglied Mahrenholz war. Der zur Singbewegung übergelaufene "Cantor Schwabens", Richard Gölz, später KZ-Insasse und als Judenverstecker in Yad Vashem geehrt, hatte beim Kirchengesangverein schon 1931 eine Palastrevolution angezettelt, um das "Führerprinzip" durchzusetzen. Die kritische Methode der "kirchengeschichtlichen Fragestellung" müsste also sorgfältiger auch auf die eigenen Wertungskriterien angewandt werden. Zudem scheint hier eine fast naive Aktengläubigkeit gegeben. Gerade unter totalitären Systemen verraten Formulierungen in Akten aber doch nur bedingt etwas über die Einstellungen der Beteiligten.

Was konträr zum Titel in dieser Arbeit eigentlich gar nicht vorkommt, ist das Kirchenlied selbst. Es erscheint höchstens in Fußnoten als Aufzählung von charakteristischen Liedtiteln, vorrangig um politisch Anrüchiges zu belegen. Das hymnologisch anspruchsvollere Geschäft einer ausgewogenen inhaltlichen Charakterisierung von Gesangbüchern und Liedsammlungen unterbleibt weitgehend. Der diesbezüglich nicht vorgebildete Leser erfährt so vor allem nichts Inhaltliches über den zentralen Ausgangspunkt der Bestrebungen, das Deutsche Evangelische Gesangbuch (DEG) von 1915. Nicht im Blick sind schließlich die Praxis von "Kirchenlied im Nationalsozialismus", die faktische Rezeption von bestimmten Liedern in den verschiedenen Bezugsfeldern (z. B. Kirchenchöre, Verbände der kirchlichen Jugendbewegung, Bekennende Kirche), die existentielle Bewährung vieler dann ins EKG aufgenommener alter Lieder in den Kriegsnöten. - Es wäre journalistisch zwar weniger spektakulär, sachlich aber korrekter gewesen, den ursprünglichen Titel der in Bonn im Jahre 2002 angenommenen Dissertation beizubehalten: "Zwischen DEG und EKG: Die Entwicklung der Gesangbucharbeit unter dem Einfluß von ...".

Als gründliche, ob der Detailfülle manchmal auch ermüdende Quellenstudie über die in Akten greifbaren Kommissionsprozesse ist dieses Buch gewiss ein Meilenstein der hymnologiegeschichtlichen Forschung. Die im Editorial der Buchreihe postulierte Zusammenführung von "kirchenhistorischen und systematisch-theologischen Studien" wird durch diese Vorgehensweise aber eher erschwert als gefördert.

Kritisch bemerkt sei außerdem, dass bei den an und für sich löblichen "biographischen Angaben zu ausgewählten Personen", welche den Anhang mit diversen Registern einleiten, jüngere Monographien und auch Standardwerke aus der Begleitliteratur zum 1994 erschienen Evangelischen Gesangbuch offensichtlich nicht im Blick waren und so einige ärgerliche Leerstellen zu konstatieren sind (z. B. Paul Geilsdorf, Julius Smend).