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Ausgabe:

Oktober/2004

Spalte:

1049–1051

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Liss, Hanna

Titel/Untertitel:

Die unerhörte Prophetie. Kommunikative Strukturen prophetischer Rede im Buch Yesha'yahu.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 342 S. gr.8 = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 14. Geb. Euro 48,00. ISBN 3-374-02055-0.

Rezensent:

Peter Höffken

Hanna Liss entwickelt in ihrer Habilitationsschrift (Universität Halle-Wittenberg, Fach Judaistik) ihre spezielle These einer "kommunikativen Nicht-Entsprechung" von Gott und Prophet auf der einen und "diesem Volk" auf der anderen Seite von einer Auslegung von Jes 6 her. Es ist die Berufungserzählung des Propheten (34 ff.). Von da aus geht sie auf weitere Texte ein, die einem weit reichenden Konsens zufolge mit Jesaja von Jerusalem im 8. Jh. zu verbinden sind. Es sind in der Abfolge der Behandlung folgende Texte im Blick: Jes 7* (72 ff.); 5,18 f. und 8,11-15 (93 ff.); 28,7-22 (117 ff.); 10,5-15* (141 ff.); 22,1-14 (171 ff.); die Zeichenhandlungen in 8,1-4 und 20 (190 ff.); endlich 29,9 f. u. a. in Bezug zu 6,9 ff. Ein weiterer Abschnitt befasst sich mit den genannten Texten als so genannten "kommunikativen Handlungsspielen" unter besonderer Bezugnahme auf "dieses Volk" in Protojesaja (212 ff.). Abschließend folgt eine Auslegung der Bezugnahmen auf verschriftete Prophetie in Jesaja: 8,16-18 und 30,8-11 (233 ff.). Nach einem Ausblick (272 ff.) folgt ein englisches Summarium (288ff.), das sehr einfach formuliert, also gut nachvollziehbar ist. - Literaturverzeichnis und Stellenregister beschließen die Arbeit.

Die Kategorie der "kommunikativen Nicht-Entsprechung" wird eingeführt auf Grund der Analyse von Jes 6. Durch göttliche Intervention wird der Prophet der Lage des Volkes (V. 5) entzogen (V. 6-7), auf Gottes Seite gestellt und mit der Proklamation (V. 9) beauftragt. Dadurch verbleibt "dieses Volk" (dann als die Eliten des Staates Juda dechiffriert) in dem vorgängigen Status "unreiner Lippen" verhaftet. Diese Sicht prägt dann die gesamte jesajanische Botschaft. Die weiteren Analysen dienen dazu, diese kommunikative Nicht-Entsprechung zwischen Prophet (Gott) und Volk aufzuweisen. Insofern prägt dieses Kapitel die gesamte Botschaft und das Auftreten Jesajas vom Todesjahr des Königs Usija bis zum Ende des Wirkens 701 v. Chr. Damit wird einerseits unverkennbar die Sichtweise der Opponenten Jesajas rehabilitiert: Da sie waren, wie sie waren, mussten sie ihre politischen Optionen gestalten, wie sie es machten. Das, was der Prophet zu sagen hatte, war hier nicht annehmbar, da nicht kommunizierbar, weil der Prophet von einer durch Gott im Wort der Botschaft gesetzten Zukunft sprach, die für die Zeitgenossen ein ungedeckter Scheck bleiben musste und obendrein das bisher traditionell Übliche in Staat und Religion Judas auf den Kopf stellte. Erst a posteriori wird die Jesajatradition und deren schon mit Jesaja anhebende Verschriftung (8,1-4.16; 30,6) zur Denk- und Entscheidungshilfe für Spätere (d. h. zunächst die Eliten Judas). Einen Spiegel dieser Wirkungen kann man in Kap. 7 und 36-39 finden. Diese Botschaft ist also für die Zeitgenossen nicht in ihre gesellschaftliche und politische Praxis einholbar und bleibt daher unverständlich. Die Botschaft mithin führt dazu, dass sie das tun, was sie immer schon getan haben.

Dabei wird der literarisierten Jesaja-Überlieferung eine Tendenz unterstellt, die sich scharf vom Modell der Jesaja-Literatur als Oppositionsliteratur absetzt: Die Verschriftung der Botschaft ist ein offizielles Dokument, gerichtet an die Führungselite des Staates Juda (bes. 255 ff.). Aus diesem Grunde müssen in Kap. 8,11-16 die Akzente neu gesetzt werden: Die in 8,12 f. Angesprochenen werden als Mitglieder des Königshauses verstanden, während die Gruppe "dieses Volk" mit den gesellschaftlichen Eliten in Staat und Tempel gleichgesetzt werden. Auch die "Schüler" in 8,16 fallen dahin. Ich muss gestehen, dass ich das wenig überzeugend finde. Die Sicht der Genese des Zusammenhangs von 6-8 wird dabei differenzierend gesehen: zunächst war Kap. 8* (jesajanisch) formuliert worden; nach 701 kommt Kap. 6 dazu; Kap. 7 ist das Produkt der späteren Führungseliten um 600 und will die "theopolitische" Sicht der Dinge bei Jesaja mit der realpolitischen konfrontieren (bes. 91 f.): Ahas konnte gar nicht anders, als er tat. Es gab keine gemeinsame Verstehensbasis zum Propheten. Insofern ist natürlich der Denkschrifthypothese Abschied gegeben (bes. 60 ff.). Eine kritische Auseinandersetzung mit der Spätdatierung von Kap. 6 (Volltext) durch U. Becker, Jesaja - von der Botschaft zum Buch (vgl. die Rez. in ThLZ 123 [1998], 581-583) bleibt zu beachten (166 ff.).

Insofern ist die Arbeit ein Stück weit eine Rehabilitation der so genannten Gegner Jesajas. Sie sind schuldlos Schuldige. Der Versuch, Kap. 6 als Universalschlüssel für die Botschaft Jesajas zu verstehen, hat freilich doch enge Grenzen, wenn man sich an Sätze erinnert wie "sie wollten nicht hören" (30,9, die jesajanische Herkunft mit L. einmal vorausgesetzt). So kann man meines Erachtens nur formulieren, wenn man Kap. 6 nicht im Blick hat. Anders stehen die Dinge wohl in Kap. 8,1-4, wo eine solche Bezugnahme auf das in Kap. 6 Aufgetragene gut herausgearbeitet wird. Das betrifft zunächst die Artikulationsebene des Textes (nur Jesaja erfährt, was die Bedeutung der Tafelaufschrift ist). Für die genauere Auffassung dürfte dann aber die Zeit der Verschriftung von großem Gewicht sein, denn der Leser erfährt ja nun, was Jesaja mitgeteilt wurde, und er kann rückblickend die Wahrheit dieses Wissens konstatieren (sofern der Text in größerer oder fernerer Nähe zu den Ereignissen von 734-732 verfasst wurde). Die Beute von Samaria und Damaskus ist nun beim assyrischen König angekommen. Insofern wird das - wie L. richtig betont - rückblickende Erkennen durch die Texte auf unterschiedliche Weise realisiert. Nicht alles bleibt futurisch, wenn es literarisch vorliegt.

Dass der Auftrag in 6,9 f. darauf ziele, dass das Volk in dem Status unreiner Lippen "verbleibt" (so 54 u. ö., engl. 293), scheint vor allem V.10 zu statisch zu verstehen: Die dort verwendete Metaphorik ("dieses Volk" als Person dargestellt) zielt erheblich weiter: Es geht um eine umfassende Desorientierung, dem Volk vergeht Hören und Sehen (vgl. dazu 34-42).

Die Arbeit weist freilich darauf hin, dass eine vorschnelle Identifizierung des Auslegers mit der Position des Jesaja Probleme hat. Auf ihrem Hintergrund stellt sich wohl die Aufgabe, sie im Gegenüber zu den Adressaten oder Gesprächspartnern in illo tempore neu zu gewichten. Für die Gesamtinterpretation scheint mir wichtig, dass nicht nur wesentliche Momente der Botschaft Jesajas eine rigide Neufassung tradierter Religion beinhalteten, sondern dass eine entsprechende Herausforderung durch die assyrische Expansion auch auf politischem Gebiet stattfand, die tradierte Formen des Politikverständnisses (Bündnisse von kleinen und mittleren Staaten, unter Umständen mit Ägypten) überbot bzw. ad absurdum führte. Der Vfn. ist mithin für ihre Herausforderung bisheriger Lesungen des Protojesaja zu danken.