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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

936–938

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Grelot, Pierre

Titel/Untertitel:

Une lecture de l'épître aux Hebreux.

Verlag:

Paris: Les Éditions du Cerf 2003. 212 S. 8 = Lire la Bible, 132. Kart. Euro 23,00. ISBN 2-204-07087-4.

Rezensent:

Martin Karrer

Grelot, ein wichtiger Vertreter katholischer Exegese in Frankreich, fasst in unserer Studie seine Sicht des Hebr zusammen, nicht in einem großen Kommentar und als Emeritus fern von Bibliotheken, wie er auf S. 7 schreibt, aber um so konzentrierter (und natürlich doch unter Benützung wichtiger französischer Literatur: Spicq, Vanhoye u. a.).

Nennen wir vorab seine These: Die Adressaten des Hebr sind jüdischer Herkunft. Sie waren dem Jerusalemer Tempel verbunden (11 f., Anm. 1 u. ö.) und lebten wohl in der Umgebung Antiochias (190). In die Gemeinde Christi haben sie gefunden, sind aber durch ihre alte Bindung an den Tempel in ihr verunsichert (waren sie sogar Priester?; s. 191 im Verweis auf Spicq). Der Autor des Hebr, gleichfalls jüdischer Herkunft und kulturell Alexandriner (143; daher vielleicht Apollos, 11), begegnet dem mit der Kraft hoher Theologie (vielleicht noch kurz vor dem Jahr 70; 191 u. ö.). In den Grundlagen stimmt er mit Paulus überein (9). Doch in eigener Weise argumentiert er mit Zitaten der Schrift und konzentriert sich auf kultisch-priesterliche Themen, kulminierend im Hohepriestertum Christi. Daher erschließt er Christi Person und Werk (Tod, Auferstehung und Mittlerschaft) in einzigartiger Perspektive. Alte Kommentare - namentlich die Kirchenväter (Kyrill zum Opfer, 26 ff., Theodor von Mopsuestia zum Priestertum Christi, 85 ff. usw.; zu Thomas von Aquin vgl. 8) - helfen, das zu verstehen.

Die Darlegung teilt G. in eine fortschreitende Kurzkommentierung des Hebr (15-140) und die theologische Untersuchung (141-204). Erstere hält er sehr knapp und vor allem als Anregung für die Leser und Leserinnen, selbst weiter am Text zu arbeiten. Auf die vielen umstrittenen Details des Hebr geht er so kaum ein. In etlichem sucht er eine "mittlere" Linie (z. B. 49 f. zu 6,8: Apostasie meine nicht ideologisches Versagen, sondern ein öffentliches Zerreißen der Christusbeziehung, das in der Epoche des Hebr, lang vor den späteren kirchlichen Erfahrungen, keine Versöhnung erlaube). Das Verhältnis zu Paulus bestimmt er allmählich aus dem Gespräch mit den Adressaten näher: Während Paulus besonders über juridische Aspekte (das Gesetz) habe korrespondieren müssen, nötigten die alten Hoffnungen seiner Leser auf Tempelkult und Reinigungsriten den Hebr zu seinen anderen Schwerpunkten (95 u. ö.), ohne dass die theologische Nähe sich auflöste.

Die theologische Untersuchung konzentriert G. auf Christologie (147-171) und Schriftverwendung (173-188). Er setzt konventionell beim Mensch gewordenen Sohn Gottes (147 ff.) und den christologischen Titeln ein (149 ff.) und konstatiert das volle Vorhandensein einer Inkarnationslehre im Hebr (153). Von dort geht er zum Hohepriestertum Jesu über. Es enthält, wie er durch Ps 110 erschließt, zusammen mit der kultischen eine königliche Dimension (155 f.), wie der Hebr auch sonst lediglich den Titel "König" christologisch vermeide, um zeitgenössischen Verzerrungen zu entgehen, aber die Attribute von Thron und Szepter hochschätze (149 f.). Gen 14 fügt dem noch einen Akzent auf der Tributpflichtigkeit Abrahams und damit der Abrahamnachkommen einschließlich Levis an Melchisedek bei. Übertragen ergibt sich die überlegene Dignität des Christus nach der Ordnung Melchisedeks über das levitische Priestertum (155 ff.; Hebr 7,4-10). Der königliche Priester Christus besiegelt durch das erlösende Opfer in seinem Tod und seiner Verherrlichung einen neuen Bund und eine Sündenvergebung, die die Verunsicherung der Hebr-Adressaten ausräumen, und übt in seiner Herrlichkeit die Intercessio aus, die Paulus in Röm 8,27-34 signalisierte (157 ff.). Der Glaube antwortet darauf, laut G. nah zum Glaubensverständnis des Paulus.

Der Schriftgebrauch rundet die Beobachtungen ab: Der Autor des Hebr, selber Jude und - wie gesagt - an Juden schreibend, benützt eine in seiner Zeit (vor der pharisäisch-rabbinischen Reorganisation jüdischer Schriftbenützung) legitime, auch von Jerusalemer Autoritäten anerkannte Fassung von Israels Schriften, nämlich die griechische Fassung der Septuaginta. Er setzt dort gemäß seinen Hauptgedanken Schwerpunkte (bes. auf Gen, Ps und Jer), aber bleibt stets bedacht, innerjüdisch-schriftbezogen zu argumentieren (173-180). Gleichzeitig vernimmt er Christus als Schlüssel zur heiligen Geschichte und berücksichtigt das in den Prinzipien der Interpretation. Seine Betrachtung Christi transformiert die Wahrnehmung der Realitäten aus Israels Schriften durch Typologie und christliche Lektüre in ein symbolisches System der Präfigurationen (s. 180- 186 zu den Kap. 8,5 bis 11 und 197 f. zur Präfiguration des Aufstiegs Christi in den Himmel über den Eintritt des aaronitischen Hohepriesters mit dem Blut der Opfer ins irdische Heiligtum).

Überschauen wir die Auslegung, beeindruckt sie durch ihre innere Stringenz. Es gelingt G., eine Lektüre des Hebr unter jüdischen Voraussetzungen zu entwerfen und damit stillschweigend Antijudaismusvorwürfe gegen den Hebr zu entkräften (nebenbei reduziert seine Skizze der Typologie die Momente der eschatologischen Antithese und Aushebelung des Alten, die das Modell im deutschen Raum depravierten). Zugleich trägt er das als seit der Alten Kirche vorbereitete Auslegung vor. So wird der Hebr zu einer grundlegenden Schrift der Kirche. Diese Stärke ist höher zu gewichten als das durch die Knappheit der Darlegung bedingte, durchgehende Problem:

Exegetische Einzelentscheidungen können an vielen Orten anders getroffen werden. Selbst G.s Entscheidungen über Autor, Adressaten und Datum lassen sich mit guten Gründen anzweifeln (und der Rez. tut das). Zeitlich mag der in die Epoche des frühen Christentums zu datierende Hebr weiter von Paulus ab liegen (und 13,22 f. primär die Mühe der Gesprächsaufnahme spiegeln). Viele Ausleger werden schließlich den Einzelexegesen gegenüber der systematischen, ausgleichenden Kraft G.s ein größeres Eigengewicht geben. All das beschränkt zusammen mit der geringen Rezeption deutsch- und englischsprachiger Literatur die Nutzbarkeit des Buches.