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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

935 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Donfried, Karl Paul

Titel/Untertitel:

Paul, Thessalonica, and Early Christianity.

Verlag:

London-New York: Sheffield Academic Press 2002. XXXVIII, 347 S. 8. Kart. £ 19,99. ISBN 0-567-08904-5.

Rezensent:

Traugott Holtz

Das Buch sammelt Beiträge des Autors, die bis auf zwei bereits zuvor (z. T. mehrfach) veröffentlicht worden sind; einer lag bisher nur auf Deutsch vor, einige andere sind durch (kurze) Nachträge ergänzt.

Eigens für diesen Band geschrieben ist nur ein Beitrag, durch den die Diskussion des Themas Rechtfertigung und Endgericht bei Paulus fortgeführt wird, das D. auf dem Colloquium Biblicum Lovaniense 1974 behandelt hatte. Und zwar geschieht das in instruktiver Auswertung einschlägiger Qumran-Texte sowie mit besonderem Blick auf das Lutherisch-Katholische Konsensdokument zur Rechtfertigungslehre 1999. Das Engagement D.s am ökumenischen Dialog, das sich damit bekundet, bestimmt das Lebenswerk D.s insgesamt, erweitert um die Begegnung mit dem Judentum, dessen historische Komplexität besonders hinsichtlich der Situation der Entstehung des Christentums er deutlich stärker berücksichtigt, als es in der gegenwärtigen diesbezüglichen Debatte in der Regel der Fall ist. Ein Signal für beides dürfte die Widmung des Buches sein; sie gilt einem für die Erforschung der Geschichte des Frühjudentums hervorragend wichtigen jüdischen Forscher, S. Talmon, sowie einem US-amerikanischen und einem deutschen katholischen Neutestamentler, J. A. Fitzmyer und K. Kertelge.

Gleichfalls zuvor noch nicht veröffentlicht war der erste Aufsatz, der eine Inaugurationsrede D.s von 2001 am Smith-College in Northampton, MA, wiedergibt. Er eignet sich gut zur Einführung, da er den religionsgeschichtlichen Horizont markiert, der nach D. für Paulus bestimmend ist. Freilich ist D. im Zuge der begründeten Absage an ein lange Zeit dominantes Verständnis des Apostels von der Religion des hellenistischen Synkretismus her, nach meinem Urteil zu einseitig auf das palästinische Judentum konzentriert. Zwar hebt er nachdrücklich - und in für die gesamte Debatte um die gegenwärtig brisante Frage des Verhältnisses Juden-Christen fundamental hilfreicher Weise - "the rich and controversial pluriformity of late Second Temple Judaism" (6) hervor, fasst dann aber doch nur die in der Qumran-Literatur begegnende (essenische) Gemeinschaft genauer in den Blick. Er hält es für wahrscheinlich ("probable"), dass Paulus mit essenischen Kreisen in Kontakt stand, etwa in Jerusalem (13). Da auch Jesus von einem Judentum her, wie es sich in der Qumran-Literatur reflektiert, verstanden werden muss und das gerade an den Elementen aufweisbar ist, die Paulus mit essenischem Denken verbinden, rücken für D. Paulus und Jesus, aber eben auch das qumranisch bezeugte Judentum viel enger zusammen als gemeinhin vorausgesetzt. 1Thess, Anfang der 40er Jahre geschrieben, markiert besonders deutlich diese Position des Paulus, nicht im Sinne einer Entwicklungsstufe freilich, sondern - eher umgekehrt - als situativ bedingtes Zeugnis solchen paulinischen Fundaments.

Der gesamte Band zeigt schön, wie sich dieses Verständnis des Paulus bei D. herausgebildet hat. Denn er ist thematisch weitgehend auf die Thessalonicher-Korrespondenz ausgerichtet, so dass die Entfaltung des Urteils anhand eines gleichen Gegenstands sichtbar wird. Allerdings sind die Beiträge nicht chronologisch geordnet, sondern unter gewissen sachlichen Gesichtspunkten, die in der Vorrede ("Preface") entfaltet werden. Einige sind thematisch auch nicht auf 1/2Thess konzentriert, alle aber auf Paulus; nur der Letzte nicht auf Aspekte seiner Theologie, sondern (unter Bezug auf seinen Beruf und 2Tim 4,13) auf ihn als vermutlichen Promotor der Kodex-Form als Mittel der schriftlichen Kommunikation im frühen Christentum.

Zu den (beiden) Thessalonicher-Briefen sind die wichtigsten Äußerungen D.s, der sich mit ihnen schon lange intensiv beschäftigt, in diesem Band versammelt, mit Ausnahme freilich der wichtigen Darstellung von 1/2Thess in der von J. D. G. Dunn betreuten Reihe "New Testament Theology", Cambridge 1993. In der Frage der Chronologie, der sich ein eigener Beitrag widmet (s. auch ABD I, 1011-1022), schließt sich D. der neuerlich häufiger vertretenen frühen Datierung der Thessalonicher-Korrespondenz an, freilich mit einer bemerkenswerten Differenz zur geläufigen Form dieser Hypothese, nach der sich dadurch der gleichsam unpaulinische Charakter des doch unbestritten paulinischen 1Thess erklärt, der so zu einem Dokument einer zuvor postulierten Antiochia-Theologie wird. D. ist von solchem "pan-Antiochenism" abgerückt, er erkennt in 1Thess vielmehr einen Zeugen für "a pre-Antiochia, Palestinian influence", der Verbindungen zum Denken der Qumran-Gemeinde erkennen lässt (XXVI). Damit wird der Brief zugleich über die hellenistische Gemeinde in Antiochia hinweg zur Brücke zu der Verkündigung Jesu, die Nähe zum essenischen Denken zeigt. Paulus ist so nicht länger scharf von Jesus zu scheiden; "rather Paul may well serve as one of Jesus' earliest interpreters" (19). Die Absage an ein Verständnis des 1Thess von einer fiktiven antiochenischen Theologie her ist nach meinem Urteil zweifellos berechtigt, der Rückgriff auf Palästina (Qumran ... Jesus) aber doch reichlich gewagt, zumal die Frühdatierung der thessalonischen Korrespondenz kaum überzeugen kann.

Auch hinsichtlich der geschichtlichen Situation der Gemeinde vertritt D. eine Position, die der weithin herrschenden nicht entspricht. Er hält die "Entschlafenen", über die 1Thess 4,14 ff. handelt, für Opfer der Verfolgung der Gemeinde durch Anhänger paganer Kulte, die - auch vermittelt über den Kabirus-Kult- besonders Rom und seiner Herrschaft verpflichtet waren. Damit wäre, sollte diese Annahme tatsächlich zutreffen, die Reihe christlicher Märtyrer politisch motivierter Gewalt eindrucksvoll zeitlich nach vorne bereichert!

Hervorzuheben ist schließlich die Einordnung von 2Thess durch D. in den unmittelbaren paulinischen Bereich; zwar nicht als Brief des Paulus selbst, sondern eines seiner Mitarbeiter, vermutlich Timotheus, und - "in a reasonable intervall" - an die gleiche Gemeinde wie 1Thess.

Das Buch bietet manche weitere Einsichten und Anregungen. D. hat den internationalen Diskurs insbesondere über die frühesten Briefe des Paulus begleitet und bereichert, gerade indem er so etwas wie ein Pfeiler in der Brücke ist, die US-amerikanische und deutsche neutestamentliche Arbeit verbindet. Man hofft umso mehr, dass er bald einen großen Kommentar zur Thessalonicher-Korrespondenz vorlegen kann.