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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

797–799

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theobald, Michael

Titel/Untertitel:

Studien zum Römerbrief.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2001. X, 599 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 136. Geb. Euro 109,00. ISBN 3-16-147519-4.

Rezensent:

Rainer Kampling

In einem der in diesem Sammelband abgedruckten Artikel findet sich die Einlassung M. Theobalds zum ökumenischen Gespräch auf biblischer Grundlage: "Hier melden sich drängende Fragen an, die man nicht ängstlich, sondern im Blick auf die gemeinsame Heilige Schrift beherzt und mit mehr Mut angehen sollte, als es gewöhnlich geschieht." (Das Gespräch geht weiter! Replik auf W. Löser, Rechtfertigung und sakramentale Kirche [ThPh 73, 1998, 321-333], 240-249; 247).

Indirekt hat damit der Autor sein eigenes exegetisches Arbeiten beschrieben: Seine Arbeiten zu Paulus und dessen Römerbrief stellen sich den aktuellen Fragen, die aus der kleinen innerkirchlichen Ökumene und der großen zwischen Israel und Kirche erwachsen. Sie wollen auf streng historisch-kritischer Basis den Apostel in diese Debatten einbringen, die ohne ihn nicht statthaben könnten und in denen seiner Theologie normierender Charakter zukommt (vgl. nur: Der Kanon der Rechtfertigung [Gal 2,16; Röm 3,28]. Eigentum des Paulus oder Gemeingut der Kirche?, 164-225; Rechtfertigung und Ekklesiologie nach Paulus. Anmerkungen zur "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre"; 224-240). Th. tut dies gewiss nicht ängstlich, sondern mit viel Mut, sei es in seinen ökumenischen Perspektiven (vgl. etwa seine Folgerungen in dem Beitrag: Concupiscentia im Römerbrief. Exegetische Beobachtungen anläßlich der lutherischen Formel "simul iustus et peccator", 250-276), sei es in mehr innerkatholischen Fragestellungen, die er freilich im Blick auf die Schrift ökumenisch weitet (vgl. seine bibeltheologisch brillante Lektüre der Enzyklika "Veritatis Splendor": Das biblische Fundament der kirchlichen Morallehre, 519-536; oder seine Bemerkungen zu: Röm 1,26 f.: Eine paulinische Weisung zur Homosexualität? Plädoyer für einen vernünftigen Umgang mit der Heiligen Schrift, 511-518; eine Rezeption dieser Überlegung würde manche pastorale Herzlosigkeit verunmöglichen).

Diese Art der beherzten Exegese ist augenscheinlich davon getragen, dass "Heilige Schrift" für Th. eben nicht eine Bezeichnung der Bibel unter anderen ist, sondern das es die sachgerechte Benennung ist, da sie vom Heil in Jesus Christus zeugt. Kaum einer dieser Beiträge kommt ohne den Hinweis auf die bleibende Bedeutung und bleibende Forderung des Wortes im Je-Jetzt der Kirchen aus. Die verschiedenen Beiträge zeigen auf das Eindringlichste, was Exegese vermag: Das Wort der Schrift erinnernd zu vergegenwärtigen und, wo und wenn nötig, das Wort gegen sein Vergessenwerden zum Widerspruch zu bringen.

Mit diesem Band hat Th., der sich bereits in seiner Dissertation (Die überströmende Gnade. Studien zu einem paulinischen Motivfeld [FzB 22], Würzburg 1982) Paulus widmete, die dritte monographische Veröffentlichung zum Römerbrief (Römerbrief [Röm 1-11] [SKK.NT 6/1], Stuttgart 1992,21998; Römerbrief [Röm 12-16] [SKK.NT 6/2], Stuttgart 1993, 22001; Der Römerbrief [EdF 294], Darmstadt 2000) vorgelegt. Hier sind 23 Beiträge aus 20 Jahren versammelt, die von der bleibenden, intensiven und ertragreichen Beschäftigung des Autors mit Paulus zeugen, dem nach Th., da er "... als einziger Theologe des Neuen Testamentes" auf der Basis der "kanonischen Zeugnisse des Lehrsatzes von der Rechtfertigung ... eine kontextuelle Rechtfertigungslehre entworfen hat, ... in einer Theologie des Neuen Testamentes zweifellos der Vorrang [gebührt]" (225). - Die Aufsätze sind nach Oberthemen geordnet:

Erste Orientierung: 1. Warum schrieb Paulus den Römerbrief?; 2. Verantwortung vor der Vergangenheit. Die Bedeutung der Traditionen Israels für den Römerbrief; Die Gottesfrage: 3. Das Gottesbild des Paulus nach Röm 3,21-31; 4. Zorn Gottes. Ein vernachlässigter Aspekt der Theologie des Römerbriefs; Christologische Perspektiven: 5. "Dem Juden zuerst und auch dem Heiden". Die paulinische Auslegung der Glaubensformel Röm 1,3 f.; 6. "Sohn Gottes" als christologische Grundmetapher bei Paulus; 7. Der Einsamkeit des Selbst entnommen - dem Herrn gehörig. Ein christologisches Lehrstück des Paulus (Röm 14,7-9); Zur Lehre von der Rechtfertigung: 8. Der Kanon von der Rechtfertigung (Gal 2,16; Röm 3,28). Eigentum des Paulus oder Gemeingut der Kirche?; 9. Rechtfertigung und Ekklesiologie nach Paulus. "Anmerkungen zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre"; 10. Das Gespräch geht weiter! Replik auf W.Löser, Rechtfertigung und sakramentale Kirche; 11. Concupiscentia im Römerbrief. Exegetische Beobachtungen anläßlich der lutherischen Formel "simul iustus et peccator". Kirche und Israel: 12: Der "strittige Punkt" (Rh.a.Her. 1,26) im Diskurs des Römerbriefs. Die propositio 1,16f. und das Mysterium der Errettung ganz Israels; 13. Kirche und Israel nach Röm 9-11; 14. "Prophetenworte verachtet nicht!" (1Thess 5,20). Paulinische Perspektiven gegen eine institutionelle Versuchung; 15. Mit verbundenen Augen? Kirche und Synagoge nach dem Neuen Testament. Verständiger Glaube: 16. "Abraham sah hin". Realitätssinn als Gütesiegel des Glaubens (Röm 4,18-22); 17. Glaube und Vernunft. Zur Argumentation des Paulus im Römerbrief; 18. Angstfreie Religiosität. Röm 8,15 und 1Joh 4,17 f. im Licht der Schrift Plutarchs über den Aberglauben; Zur paulinischen Ethik: 19. "Zur Freiheit berufen" (Gal 5,13) - Die paulinische Ethik und das mosaische Gesetz; 20. Erkenntnis und Liebe. Kriterien glaubenskonformen Handelns nach Röm 14,13-23; 21. Röm 1,26 f.: Eine paulinische Weisung zur Homosexualität? Plädoyer für einen vernünftigen Umgang mit der Heiligen Schrift; 22. Das biblische Fundament der kirchlichen Morallehre; Ausblick: "Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern suchen die zukünftige" (Hebr 13,14). Die Stadt als Ort der frühen christlichen Gemeinde.

Aus welchen Gründen der Artikel "Prophetenworte verachtet nicht!" (1Thess 5,20). Paulinische Perspektiven gegen eine institutionelle Versuchung unter die Thematik "Kirche und Israel" subsumiert wurde, ist nicht einleuchtend, und die Aufnahme von "Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern suchen die zukünftige" (Hebr 13,14). Die Stadt als Ort der frühen christlichen Gemeinde in die Sammlung von Beiträgen zum Römerbrief bleibt ohne rechte Begründung.

Es würde den Rahmen sprengen, alle Beiträge hier zu würdigen. Daher sei auf zwei Beiträge besonders hingewiesen, die je auf ihre eigene Art die exegetisch-theologische Arbeitsweise des Autors belegen. In dem bisher nicht publizierten Beitrag Zorn Gottes. Ein vernachlässigter Aspekt der Theologie des Römerbriefs weist Th. nach, dass die Vorstellung des Zornes Gottes ein dem Paulus aus der Apokalyptik zugewachsenes Motiv ist, das aber vom Apostel in seine Theologie integriert wurde. Gegen andere Entwürfe betont Th. den eschatologischen Charakter der Vorstellung; den Zorn Gottes mit geschichtlich Stattgehabtem zu identifizieren, lehnt er daher strikt ab. Der Zorn Gottes als endgültiges Gericht ereignet sich, indem Sterben "Sterben in die absolute Gottesferne hinein" (95) bedeutet. Eine allgemeine Auferstehung der Toten sei mit der paulinischen Konzeption unvereinbar. Th. meint, dass das Motiv des Zornes Gottes nicht zum "Gegenstand des Evangeliums selbst" gehört, das aber erst von hierher "seine eigentliche Pointe, erst richtiges Profil gewinnt" (99). Hier sei immerhin angefragt, ob nicht doch die Aussage vom Heil in Christus strukturell zwingend einer Benennung des Unheils bedarf, um überhaupt einen Grad der Stringenz zu gewinnen. Die Rede vom Zorn Gottes gehörte demnach zum Evangelium, insofern sie dessen Explikation in negativo ist. Den Gedanken der Apokatastasis verwirft Th. strikt, obwohl er zugesteht, dass im Falle Israels der Zorn sich auf Rettung hin bewegt (vgl. 99-100). Ob der Belegvers (Röm 11,32) nicht doch zu weiterer Reflexion Anlass gibt, ist durchaus zu bedenken, zumal Th. an anderer Stelle zu formulieren weiß: "Heil für alle nur durch Jesus Christus (solus Christus), aber im Falle Israels deshalb auch (und vielleicht nicht nur im Falle Israels): Heil an der Kirche vorbei!" (345). Hiermit kommt der zweite Beitrag in den Blick: Mit verbundenen Augen? Kirche und Synagoge nach dem Neuen Testament. Ausweislich der Fußnote handelt es sich hierbei um einen Vortrag, der im Rahmen einer Ringvorlesung gehalten wurde. Es ist beachtenswert, auf welchem Niveau, mit welcher Präzision und in welcher thematischen Fülle die exegetisch-theologischen Probleme des Verhältnisses von Kirche und Israel nach dem Neuen Testament herausgearbeitet werden. Dieser Beitrag erfüllt alle Ansprüche eines Basisartikels zum Themenkomplex, an dem man nicht vorbeigehen kann. Dem Autor gelingt es nachdrücklich, seine Einsicht zu belegen, dass "das Nein der Synagoge zu Christus zu einem Gottesrätsel" (390) wird (vgl. auch 93: "Das Israel-Rätsel erscheint hier bereits als Gottes-Rätsel !"). Wie aber Kirche im Glauben an das Heil durch Jesus Christus mit der Wirklichkeit Israels als Volk Gottes leben muss (die in diesem Kontext geäußerte Kritik an christologischen Entwürfen von H.-J. Kraus und B. Klappert ist m. E. überzogen; von "einer Halbierung der Christologie" zu sprechen, ist doch recht arg), das kann die Kirche von Paulus und Röm 9-11 lernen. Th. benennt dabei einen konkreten Punkt: "Das hat die Kirche zu respektieren, das heißt: Sie muss anerkennen, dass Gott Israel erretten wird - ohne sie, an ihr vorbei, was aber nicht heißt: ohne Christus. Sie bekräftigt das dadurch, dass sie prinzipiell auf Judenmission verzichtet." (393) Auch hier zeigt sich, dass Exegese für Th. ihren Ort in der Ecclesia hat, auf deren Praxis sie von der Schrift her einwirken muss, und zwar um der Schrift und der Kirche willen.

Diese Sammlung von Aufsätzen ist unverzichtbar für das Sprechen über das Verhältnis von Kirche und Israel und die Erforschung des Römerbriefes. In der Reihe Stuttgarter Kleine Kommentare hat Th. einen Kommentar von fast 600 Seiten vorgelegt; dennoch würde man sich nach der Lektüre dieses Bandes einen großen, "klassischen" Kommentar des Autors wünschen.