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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

771–773

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Henze, Matthias

Titel/Untertitel:

The Syriac Apocalypse of Daniel. Introduction, Text, and Commentary.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2001. VIII, 158 S. m. 10 Abb. gr.8 = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 11. Kart. Euro 34,00. ISBN 3-16-147594-1.

Rezensent:

Michael Tilly

Die syrische Daniel-Apokalypse (syrDan) ist ein eindrückliches Zeugnis der apokalyptischen Literatur der syrischen Kirche, das zahlreiche sprachliche und inhaltliche Gemeinsamkeiten mit antiken jüdischen apokalyptischen Texten aufweist. Mit der hier zu rezensierenden Textedition, Einleitung und Kommentierung der einzigen erhaltenen Handschrift (Harvard Ms Syr 42, fol. 117r-122v) hat H., Assistant Professor an der Rice University in Houston, Texas, zugleich ihre erste Übersetzung in eine gesprochene neuzeitliche Sprache vorgelegt. Die Einleitung (1- 32) beginnt mit einer Beschreibung der in "inelegant Serto" (1) geschriebenen und nahezu ausnahmslos unvokalisierten Handschrift. Als Bestandteil eines umfangreicheren, aus mehreren unterschiedlichen Schriften bestehenden Sammelbandes, dessen Entstehung H. im 12. oder 13. Jh. vermutet (2), ist der Text von syrDan offenbar vollständig erhalten. Der Versuch einer traditionsgeschichtlichen Einordnung dieser Schrift beginnt mit einer Auflistung aller apokalyptischen Texte in arabischer, armenischer, koptischer, griechischer, hebräischer, persischer, slawischer und syrischer Überlieferung, die Daniel als Offenbarungsempfänger zugeschrieben werden (3-5). Einen deutlichen traditionsgeschichtlichen Bezug zu syrDan weise hiervon jedoch allein eine andere syrische apokalyptische Schrift auf, die ebenfalls nur in einem einzigen Manuskript erhalten ist, nämlich "Vom jungen Daniel über unseren Herrn und das Ende" (hrsg. von H. Schmoldt, Hamburg 1972). Die ursprüngliche Sprache beider Texte sei das Syrische (8), was anhand des Fehlens von Gräzismen, der alleinigen Bezugnahme auf den Bibeltext der Peschitto und der Schreibung der biblischen Personen- und Ortsnamen deutlich werde. Dies und die Beobachtung, dass zahlreiche Passagen Parallelen aufweisen, deute auf eine enge Verbindung zwischen den beiden apokalyptischen Schriften hin: "The two texts preserve variant accounts of the same apocalypse" (11).

Auffällig sei die Abwesenheit jeglicher erkennbarer Bezugnahmen und Anspielungen auf historische Ereignisse (11) in syrDan. Anhaltspunkte für eine grobe Datierung des terminus a quo biete allein die Abhängigkeit hinsichtlich des Motivinventars von der um 630 n. Chr. in Nordmesopotamien entstandenen syrischen Alexanderlegende (13). Der terminus ante quem werde durch die um 690 n. Chr. abgefasste syrische Apokalypse des Pseudo-Methodius determiniert, die unbeschadet ihrer immensen Verbreitung keinen Einfluss auf syrDan hatte (14): "All of this suggests a date of composition ... during the first half of the seventh century" (15). Die enge Beziehung zu Apk weise darauf hin, dass syrDan nicht im Bereich der ostsyrischen nestorianischen Kirche entstanden ist, wo das letzte Buch der Bibel zunächst nicht in den Kanon verbindlicher Heiliger Schriften aufgenommen wurde (17).

Die in syrDan erhaltene apokalyptische Überlieferung zeige bemerkenswert wenig Ähnlichkeit zu zeitgenössischen gattungsähnlichen Texten, jedoch eine enge Verwandtschaft mit antiken jüdischen "historischen" Apokalypsen wie äthHen, syrBar und IV Esr (17). Zu solchen verwandten theologischen Konzepten und sprachlichen Formen gehörten z. B. die Vorstellung von der Präexistenz des Messias (18), die Gegenüberstellung der gegenwärtig erfahrbaren Welt und der zukünftigen Welt (19) und die Vorstellung der "messianic woes describing the onset of chaos" (21) vor der Parusie, bei deren Schilderung der Autor von syrDan sämtliche Register des Motivkomplexes Theophanie zieht. Dies alles zeige eine deutliche Verbindung zum jüdischen, insbesondere auch zum rabbinischen Traditionsbereich: "The author was familiar with Jewish apocalyptic and incorporated a significant body of material from that time into his own work" (22).

Die literarische Analyse von syrDan thematisiert die Gliederung des Textes in einen "geschichtlichen" Teil (Kap. 1-13), der die Erlebnisse Daniels von seiner Deportation bis zu seiner Rückkehr nach Persien erzählt, und einen umfangreicheren "eschatologischen" Teil (Kap. 14-40), der in Form einer sorgfältig komponierten "single, uninterrupted vision" (27) das endzeitliche Geschehen schildert. Der besondere Wert von syrDan für die Erforschung der Verständnistradition der antiken apokalytischen Überlieferung in Judentum und Christentum liege vor allem in der deutlichen Bezeugung zahlreicher sprachlicher und inhaltlicher Elemente dieser Überlieferung. - Die von H. vorgenommene Unterteilung des syrischen Textes (33-63) entspreche den Sinneinheiten; der sprachlichen und inhaltlichen Differenz zwischen dem narrativen und dem poetischen Teil entspricht die unterschiedliche Druckgestalt (31 f.). In den Fußnoten zum Text finden sich die zitierten Bibelstellen, alternative Lesarten mehrdeutiger Stellen im Manuskript, Hinweise auf Korrekturen und Glossen sowie Begründungen textkritischer Entscheidungen.

Die englische Übersetzung von syrDan (64-118) bleibt sehr eng an der syrischen Vorlage. Sie ist dennoch gut lesbar und kommt nahezu ohne Ergänzungen, Parenthesen und Umstellungen aus. Die fortlaufende Kommentierung in Form von Anmerkungen bietet Erklärungen zum Inhalt und zur sprachlichen Gestalt des Textes, zu Personen, Sachen, theologischen Konzepten und Motiven. Geboten werden durchweg biblisches, antikes jüdisches und altkirchliches Vergleichsmaterial bzw. Parallelen. Mit der Annahme von Bezugnahmen auf historische Ereignisse im Text von syrDan ist H. dabei äußerst zurückhaltend (z. B. 83, Anm. 94). Die Arbeit endet mit einer ausführlichen Bibliographie der herangezogenen Textausgaben, Übersetzungen und Kommentare (119-122) und der Sekundärliteratur (122-129). Beigegeben sind ein gut lesbares Faksimile des edierten Manuskriptes (131-143), ein Verzeichnis der Sachen (145), der neuzeitlichen Autoren (146), der Stellen (147-157) sowie der wichtigsten syrischen Namen und Begriffe (158).

Mit dieser philologisch exakten Textedition und Übersetzung von syrDan sowie mit seiner ausführlichen Einleitung und kenntnisreichen Kommentierung hat H. eine hoch interessante und ergiebige Quelle für die Untersuchung der Auslegungstradition der Bibel im frühmittelalterlichen syrischen Christentum erschlossen. Zu bemängeln ist allein, dass manche Literaturhinweise recht ungenau sind (z. B. 68, Anm. 30) und dass die Zitation der rabbinischen Texte zuweilen unvollständig ist (z. B. 70, Anm. 37). An einigen Stellen vermisst man erläuternde Anmerkungen. So bedarf z. B. die Textaussage, dass allein Beschnittene die eschatologische Gottesstadt betreten dürfen (Kap. 39), eines Kommentars.

Die verdienstvolle Arbeit H.s macht diesen Text der wissenschaftlichen Diskussion zugänglich. Sie stellt zugleich einen wichtigen Beitrag zum aktuellen Gespräch über die Formen und Funktionen "apokalyptischer" Texte im antiken Judentum und im frühen Christentum dar.