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Ausgabe:

Juli/August/2004

Spalte:

759–762

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Leeming, H., and K. Leeming [Eds.]

Titel/Untertitel:

Josephus' Jewish War and its Slavonic Version.

Verlag:

A Synoptic Comparison of the English Translation by H. St. J. Thackeray with the Critical Edition by N. A. Mescerskij of the Slavonic Version in the Vilna Manuscript translated into English by H. Leeming and L. Osinkina. Leiden-Boston: Brill 2003. XXII, 696 S. 4 = Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums, 46. Geb. Euro 219,00. ISBN 90-04-11438-6.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Schon lange ist es bekannt, dass Der Jüdische Krieg des Flavius Josephus auch in einer eigenwilligen altrussischen Übersetzung vorliegt. Seit G. N. Bonwetsch in seiner Bibliographie von 1893 eine erste Zusammenstellung der damals bekannten Handschriften in Westeuropa vorgelegt hatte, waren es bald darauf vor allem die Arbeiten des Dorpater Gelehrten A. Berendts (1906, 1908, 1924/26), der in deutscher Übersetzung Teile jener altrussischen Fassung erschloss. Seine Bemühungen galten hauptsächlich einer Reihe von Zusätzen, die in der Folge das Interesse der exegetischen Zunft auf sich zogen: So machte z. B. R. Eisler (1929/30) jene Zusätze zur Grundlage für seine umstrittene Sicht der Jesusbewegung, W. Bienert (1936) wiederum widmete dem speziellen Jesuszeugnis des slawischen Josephus eine umfangreiche Untersuchung. Eine komplette Übersetzung durch Berendts gelangte jedoch nur teilweise zur Ausführung (Buch I-IV), so dass auch die Diskussion bei den anfänglichen Thesen stehen bleiben musste. Unterdessen hatte V. M. Istrin eine erste kritische Edition des vollständigen Textes angefertigt, die 1934 und 1938 postum von A. Vaillant in Paris veröffentlicht wurde (mit französischer Übersetzung durch P. Pascal); sie basierte auf derselben, auch von Berendts benutzten Hs. Nr. 651/227 der Moskauer geistlichen Akademie, ehemals des Volokolamsker Klosters. Die gründlichste Aufarbeitung nahm jedoch Nikita Alexandrovic Mescerskij in Angriff, dessen Istorija Iudejskoj Vojny Iosifa Flavija v drevnerusskom perevode 1958 in Moskau erschien. Er stellte den Text auf einer neuen handschriftlichen Grundlage vor, begleitet von einer ausführlichen Einleitung sowie einem dem Text angefügten Kommentarteil. Diese Arbeit wird im vorliegenden Band der Reihe in englischer Übersetzung zugänglich gemacht - wobei Mescerskij Text, von H. Leeming und L. V. Osinkina übersetzt, synoptisch neben der englischen Übersetzung des griechischen Textes durch H. St. J. Thackeray, wohlbekannt aus der Loeb classical library (2 Bde. 1927/28), steht.



Die maßgebliche Edition des slawischen Josephus tritt damit also nach 45 Jahren erstmals vor das Forum der englischsprachigen Bibelwissenschaft - die bislang (abgesehen von einer separaten englischen Vorstellung der Zusätze durch Thackeray 1919, wiederholt als Appendix seiner Übersetzung von 1928) noch überhaupt keine Übersetzung kannte. Zwei kurze Essays von Ljubov V. Osinkina und Leonid V. Finkelstein beleuchten den zeitgeschichtlichen Kontext, in dem die Arbeit Mescerskij entstanden ist. Hier kommt das bewegende Schicksal eines Gelehrten in den Blick (1906-1987), der auch im nachrevolutionären Russland die Tradition altslawischer Literaturgeschichtsforschung fortsetzte. Die Arbeit zum slawischen Josephus, die 1932 mit einem innovativen Aufsatz begann, wurde durch verschiedene Repressalien der Stalindiktatur unterbrochen: Auf fünf Jahre Haft, die Mescerskij als Holzfäller im Gulag verbrachte, folgten mehrere Jahre der Verbannung. Sein Eintritt in die akademische Lehrtätigkeit nach der Tauwetterperiode (1963-1978 als Professor an der Universität Leningrad) ermöglichten weitere wichtige Arbeiten - namentlich zur theologischen Literatur aus der Zeit der Kiever Rus' (988-1237). In sensibler Weise reflektiert Finkelsteins Essay Ansatz und Sprachgebrauch Mescerskij, die sich nur innerhalb des sowjetischen Wissenschaftsbetriebes in den 50er Jahren verstehen lassen.



Damit werden aber auch schon die Grenzen des Buches sichtbar. Indem es noch einmal die bislang bedeutendste Stimme aus der Forschung zum slawischen Josephus zu Gehör bringt, bleibt es gleichzeitig auf dem damaligen Forschungsstand stehen. Kein Beitrag informiert über die Diskussion seit 1958. Die einzige Bibliographie des Bandes ist die damalige von Mescerskij, die selbst die Literatur ihrer Zeit nur sporadisch bietet (Bienert 1936 z. B. fehlt). Welche theologischen Debatten die eigentümlichen Lesarten der slawischen Fassung ausgelöst haben, erfährt man nicht. Durchgängig stellt Mescerskij die hohe Qualität der altrussischen Übersetzung heraus. Die philologische Analyse lässt sich indessen erst verifizieren, wenn sie mit einer theologisch-exegetischen Betrachtung Hand in Hand geht - hier hätte vor allem das Gespräch mit Bienert fruchtbar werden können.

Die folgende Würdigung beschränkt sich darauf, die - schon 1958 vorgelegten - Ergebnisse Mescerskij noch einmal zu skizzieren. Ein forschungsgeschichtlicher Abriss konzentriert sich weitgehend auf die Arbeiten von A. Berendts, R. Eisler und V. M. Istrin. Anders als Berendts und Istrin benutzte Mescerskij mit dem Codex Nr. 109/147 der Vilnaer Öffentlichen Bibliothek (zu dem die Genannten keinen Zugang hatten) eine neue Textgrundlage; dieser Codex eröffnet auch seine Liste der Handschriften, die 30 Einträge (acht bei Bonwetsch, 17 bei Berendts, acht bei Istrin, 20 bei Bienert) enthält. Der Vilnaer Codex erfährt sodann eine eingehende Beschreibung: er gehört der Chronographen-Fassung an, die Mescerskij von einer separaten Fassung unterscheidet; alle Handschriften datieren in die Zeit des 15. bis 18. Jh.s. Was Mescerskij dann zu Leben und Werk des Josephus zu sagen hat, kann dem heutigen Forschungsstand nicht mehr genügen. Um so kompetenter fällt der Vergleich zwischen der slawischen Übersetzung und dem griechischen Text (nach der Edition von Niese) aus: Die Auflistung von Lücken und Zusätzen im slawischen Josephus lässt alle früheren Beobachtungen weit hinter sich. Dabei beantwortet Mescerskij die Frage, ob die überschüssigen Passagen (er referiert insgesamt 41 gegenüber acht bzw. neun bei Berendts) als Hinzufügungen oder als ursprünglicher Text zu betrachten seien, mit der Mehrzahl der - wenn auch von ihm nicht genannten - Exegeten als späte Ausgestaltungen des griechischen Textes auf slawischem Boden: "The bulk of the additions came from the Old Russian translator and were the fruit of his literary creativity, for they are closely interconnected from the ideological and stylistic viewpoint, and reveal precisely why the Old Russian translator and his readers were interested in the Jewish War." (39) In einer sorgfältigen linguistischen Analyse arbeitet Mescerskij die Welt jenes Übersetzers heraus, den er im 11. Jh. im ostslawischen Raum am Werke sieht und einer Schule zuordnet, deren literarische Produktivität in einer ganzen Reihe von Übersetzungen ihren Niederschlag gefunden habe. Kenntnis- und materialreich trägt Mescerskij alle Spuren zusammen, die der Jüdische Krieg in der russischen Literatur hinterlassen hat. Breiten Raum nimmt noch einmal die erneute Identifikation von Fragmenten der altslawischen Übersetzung des Josippon ein - jener im Italien des 10. Jh.s entstandenen hebräischen Kurzversion des Jüdischen Krieges, die als eine Art "particular literary rival and competitor" (84) auch im slawischen Bereich weite Verbreitung fand. Alles in allem gilt sein ganzes Interesse dem Anliegen, den slawischen Josephus als ein herausragendes Dokument für die Eigenständigkeit und Souveränität der sprachlich-kulturellen Entwicklung in der Kiever Rus' zu reklamieren: Es ist ein Werk, "worthy to be called the pride of our literature." (105) Alle Eigentümlichkeiten gegenüber der griechischen Textüberlieferung bleiben Zeugnisse der Rezeptionsgeschichte.

Der Text selbst (107-639) gestattet durch die parallele Anordnung eine schnelle Orientierung; sowohl die Gliederung nach Kapiteln und Abschnitten als auch diejenige nach Paragraphen strukturiert beide Übersetzungen. Die Anpassung des slawischen Textes an die vorliegende Gliederung macht gelegentliche, jeweils markierte Kompromisse in der Abfolge erforderlich. Unterschiede fallen leicht ins Auge. Ein Fußnotenapparat liefert nur sparsame Hinweise auf weitere Lesarten, da Mescerskij dem Vilnaer Codex generelle Priorität zugesteht; Verweise finden sich allein auf weitere acht Handschriften; auch Entscheidungen der Editionen von Berendts und Istrin werden mitunter berücksichtigt. Sachliche Kommentare folgen am Schluss (641-682), belassen es aber in der Regel bei knappen philologischen Erläuterungen sowie Querverweisen auf Parallelen in anderen Schriften. Zwei Register (Personennamen, geographische Namen), die jeweils auf Textstellen verweisen, runden den Band ab.

Welche Einsichten die vorliegende Ausgabe für strittige Fragen erschließen kann, soll an wenigen Beispielen deutlich werden. Eine auffällige, relativ unvermittelte Einschaltung nach I20,4/400 erzählt von dem Besuch der Magier bei Herodes (Mt 2); Berendts und Istrin hatten diesen Abschnitt aus text- und literarkritischen Rücksichten als sekundäre, auf apokryphen Traditionen beruhende Interpolation ausgeschieden; Mescerskij indessen teilt ihn nach dem Vilnaer Codex mit und vertritt die Auffassung, dass der Passus auf vielfältige Weise mit dem Sprachgebrauch und dem Milieu der übrigen Zusätze verbunden sei und so als integraler Bestandteil der ursprünglichen Übersetzung betrachtet werden müsse (Komm. 646-647). Dem Vorläufer Johannes, der in den Zusätzen II 7,2/110 und 9,1/ 168 als eine Art wilder Mann erscheint, wird in Berendts' Übersetzung u. a. die rätselhafte Nahrung "Rohr und Wurzeln und Holzspäne" zugeschrieben; Mescerskij vermag diese irrtümliche Lesart aufzuklären im Sinne von "Wurzeln von Gras und Schösslinge von Bäumen" - ein späterer Textzeuge bestätigt Letzteres noch einmal durch die Erläuterung "das bedeutet Spitzen von Eichen" (Komm. 654). Besondere Bedeutung kommt natürlich den Jesus-Abschnitten zu, die im Text des slawischen Bellum II 9,3/174 und 11,6/220 singulär stehen und an das Testimonium Flavianum in den griechischen Antiquitates XVIII 3,3/63-64 erinnern; gegenüber den Übersetzungen bei Berendts und Bienert liefert Mescerskij hier an verschiedenen Stellen Varianten, die den Wortlaut des Testimonium Slavianum zu präzisieren helfen. Die Wahrnehmung eines Abschnittes wie des Apostelberichtes in II 11,6/220 bereichert Mescerskij durch den Nachweis von Analogien in der slawischen Bibelübersetzung, in Apokryphen und Liturgie (671-672). Mescerskij hat eine Unterscheidung von christologischen und nicht-christologischen Zusätzen abgelehnt und in allen jenen Abschnitten gleichermaßen die Stimme des Übersetzers in besonders origineller Weise vernommen.

Drei kleine Punkte sind in Sachen Drucktechnik kritisch zu vermerken. Warum werden für die immerhin 105 Seiten Einleitung Mescerskij (mit 15 Kapiteln) im Inhaltsverzeichnis keine Seitenzahlen genannt? Ein Fehler ist beim Seitenumbruch gleich von S. 1 zu S. 2 unterlaufen. Nicht ganz stringent erscheint das Transkriptionssystem in seiner Abstimmung zwischen griechischer und slawischer Umschrift (z. B. x für slawisch cha, aber auch für griechisch xi).

Die Bedeutung des slawischen Josephus - zwischen den Spannungspolen jüdischer Geschichtsschreibung und altrussischer Literaturgeschichte - bedarf keiner Rechtfertigung. Dass er auch für ein nicht-slawistisches Publikum keine fremde oder nur fragmentarisch wahrgenommene Größe bleibt - darin liegt das große Verdienst dieses Buches. Mescerskij Arbeit ist sicher nicht das letzte Wort zur Sache, jedoch ein gewichtiges, das sich nun in das fachkundige Gespräch der Josephusforschung noch einmal neu und ganz unmittelbar einmischen kann.