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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

665–668

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Lepp, Claudia, u. Kurt Nowak [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945-1989/90).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 346 S. 8 = Sammlung Vandenhoeck. Kart. Euro 21,90. ISBN 3-525-01623-9.

Rezensent:

Carsten Nicolaisen

Dieses informative Taschenbuch ist aus dem 1996 vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte eingerichteten Forschungsschwerpunkt "Die Rolle der Kirchen im geteilten Deutschland" erwachsen. Es steht unter der Leitfrage, ob die politische Teilung Deutschlands auch zu einem Auseinanderfallen des deutschen Protestantismus geführt habe, oder ob nicht im Licht der "Wende" von 1989/90 die Kirchengeschichte der beiden deutschen Staaten als eine Geschichte zu begreifen ist.

Das Buch umfasst insgesamt zwölf Beiträge. Es gliedert sich in einen historisch-chronologischen (11-93) und einen thematisch-systematischen Teil (94-276), ein dritter Teil gibt Auskunft über die Entwicklung und Kontroversen der Forschung (277-309), den Abschluss des Bandes bilden eine ausführliche Zeittafel (310-339) und ein Personenregister. Da der Band sich bewusst an einen breiteren Leserkreis wendet, bleiben Fußnoten und Literaturhinweise auf das Nötigste beschränkt.

Im ersten Teil gibt Martin Greschat unter dem Titel "Vorgeschichte" einen knappen Überblick über die kirchengeschichtliche Entwicklung vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur "doppelten Staatsgründung" 1949. Greschat weist auf die mentalen Kontinuitäten im Westen und Osten Deutschlands hin, die auch nach 1945 noch weitgehend von nationalprotestantischen Traditionen geprägt waren. Anders als der - freilich weitgehend im Westen beheimatete - Katholizismus, der sich schon frühzeitig für die Westintegration der werdenden Bundesrepublik öffnete, hatte für den Protestantismus die deutsche Einheit die höhere Priorität. Die Gründung der EKD in Eisenach in der sowjetisch besetzten Zone unmittelbar nach der Einführung der Währungsreform in den drei westlichen Besatzungszonen war ein symbolkräftiges Zeichen für die Verbundenheit aller Landeskirchen in Deutschland.

Auch Claudia Lepp betont in ihrem dichten und konzentrierten Beitrag "Entwicklungsetappen der Evangelischen Kirche" von 1949 bis zur "friedlichen Revolution" 1989/90, dass die Protestanten an der Kircheneinheit festhielten und diese sie solange wie möglich auf den verschiedensten Ebenen praktizierten, obwohl sich die Arbeits- und Wirkungsbedingungen für die Kirchen in Ost- und Westdeutschland je länger je mehr auseinander entwickelten. Auch nach der organisatorischen Trennung der EKD 1968/69 ließ sich die in Art. 4,4 der Ordnung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) apostrophierte "besondere Gemeinschaft der evangelischen Christenheit in Deutschland" trotz mancher Einschränkungen realisieren. Sie wurde jedoch durch die unterschiedliche ekklesiale Entwicklung (Festhalten an der Volkskirche im Westen, Schrumpfung zur deprivilegierten Minderheit im Osten), vor allem aber durch zunehmende Differenzen in Fragen der politischen Ethik belastet - Unterschiede, die so tiefgehend waren, dass sie das Wieder-Zusammenwachsen der Kirchen nach 1990 durchaus erschwerten.

Am Anfang des zweiten Teils des Bandes steht ein bereits an anderer Stelle veröffentlichter Beitrag Dan Diners, der allgemein über "Vergangenheit und Schuld" reflektiert. Kurt Nowak (gest. 2001) gibt dazu einen ausführlichen Kommentar aus kirchlicher Perspektive. Er hebt hervor, dass der deutsche Protestantismus zwischen 1945 und 1989 hinsichtlich seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus "über alle richtungspolitischen Auseinandersetzungen hinweg ... zum Platzhalter deutscher Schuld geworden" sei (120) und im Verhältnis zum Judentum seine "Matrix" verändert habe (125). Nowak weist jedoch Forderungen nach einem Schuldbekenntnis der DDR-Kirchen für ihr Verhalten in der Zeit der SED-Herrschaft zurück, nicht zuletzt deswegen, weil kein Konsens über die Kriterien zur Deutung dieser Epoche besteht.

Anke Silomon konzentriert sich in ihrem Beitrag "Verantwortung für den Frieden" auf Texte aus den Leitungsgremien der EKD und des BEK. Sie hebt hervor, dass sich der BEK oftmals konkreter und eindeutiger äußerte als die EKD, die etwa "niemals auch nur andeutungsweise die Totalverweigerung als Option in ihre Überlegungen einbezogen" habe (149). Obwohl es zu manchen gemeinsamen friedensethischen Verlautbarungen (etwa 1985 zum 40. Jahrestag des Endes des 2. Weltkriegs) kam, blieb unübersehbar, dass der west-östliche Konsens der kirchlichen Führungsgremien in friedensethischen Fragen äußerst schmal war.

Robert C. Goeckel ("Die offizielle Religionspolitik und die evangelischen Kirchen in der DDR") vertritt die These, dass die Teilung Deutschlands nicht zwei verschiedene Kirchen mit sich gebracht habe: Zwar sei es in den Kirchen, nicht zuletzt auf Grund der restriktiven Religionspolitik der DDR, durchaus zu unterschiedlichen Entwicklungen gekommen, dennoch hätten es die gegenläufigen Bemühungen der DDR nicht vermocht, die Konstanz der mentalen, theologischen und institutionellen Kontinuitäten und Vernetzungen zwischen den Kirchen endgültig zu unterbinden.

Detlev Pollacks Beitrag "Kirchliche Eigenständigkeit in Staat und Gesellschaft der DDR" ist auf die Kirche in der DDR konzentriert, für die es nach Pollack von Anfang an um die Bewahrung ihrer Autonomie und zugleich um die Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung ging. Solange sie in der Bevölkerung noch stark verwurzelt war, konnte sie den Angriffen des Staates widerstehen, ließ sich dann aber zeitweise auf die Erwartungen des Staates ein und ging in ihrer Kompromisspolitik so weit, dass sie ihre institutionelle Autonomie partiell sogar preisgab. Pollack hebt hervor, dass die Kirche gegen Ende der DDR-Zeit jedoch wieder zunehmend auf ihrer Eigenständigkeit bestand und darüber hinaus auch "für die Lösung gesamtgesellschaftlich aufgestauter Probleme" eingetreten ist (204).

Für Hartmut Ruddies ("Protestantismus und Demokratie in Westdeutschland") war es letztlich die breite Mittelgruppe des "volkskirchlichen Protestantismus", der es seit den 1960er Jahren gelang, die innerprotestantischen konfessionellen Gegensätze in Fragen der politischen Ethik abzuschleifen und die "klassischen protestantischen ordnungstheologischen Modellvorstellungen" einer kritischen Revision zu unterziehen (210). Zwischen demokratischer Gesellschaft und Protestantismus kam es zu Interaktionen, die durch die Relativierung der politischen und theologischen Rechts-Links-Gegensätze schließlich "beiden Seiten einen Zugewinn an Realismus" gebracht haben (221).

Sylvie Le Grand untersucht in ihrem Beitrag "Kirchenalltag in Ost und West" die beiden in den 1960er Jahren entstandenen Gemeinden in den Neubaugebieten Halle-Neustadt und Dortmund-Scharnhorst. Sowohl in der Struktur der Gemeinden als auch in der Konzeption der Gemeindearbeit gab es trotz des unterschiedlichen politischen Umfelds überraschend viele Parallelen, gemeinsam war ihnen auch ein überwiegend säkulares Verständnis der Religion und der Frömmigkeit. Allerdings bleibt die Frage offen, inwieweit dieser Vergleich repräsentativ ist.

Am Schluss des zweiten Teils des Buches skizziert Katharina Kunter in ihrem Beitrag "Die Kirchen - Europa - Ökumene" die Entwicklung der Beziehungen zwischen den deutschen Kirchen und den Genfer Ökumene-Organisationen, die in den 1950er und 1960er Jahren wesentlich dazu beigetragen hätten, "die bis dahin vorherrschende nationale Orientierung des deutschen Protestantismus" zu erweitern (264). Dennoch blieb die EKD auch im Vorfeld der europäischen Einigung noch ihrer "deutschzentrierten Sicht" verhaftet. Die Ökumene ihrerseits grenzte sich zunehmend von der volkskirchlichen Identität der EKD ab und favorisierte das als eindeutiger empfundene christliche Zeugnis der Repräsentanten des DDR-Kirchenbundes. Nicht zuletzt wegen dieser positionellen Festlegung löste der politische Umbruch von 1989/90 eine bis heute anhaltende Identitätskrise der ökumenischen Gremien aus.

Im dritten Teil des Bandes weist Harald Schultze auf die Fragwürdigkeit von Darstellungen der DDR-Kirchengeschichte hin, die im Wesentlichen auf den Quellen des SED-Staatsapparates und seines Geheimdienstes fußen und wegen der Nichteinbeziehung auch des kirchlichen Archivmaterials nur ein falsches Bild der kirchlichen Wirklichkeit vermitteln können. In seinem Bericht über Schwerpunkte und Perspektiven der Forschung zur Kirchengeschichte der Bundesrepublik zeigt Thomas Sauer auf, dass die Wende von 1989/90 zu einer methodischen Konfrontation innerhalb der Kirchlichen Zeitgeschichtsforschung geführt habe. Sauer grenzt sich von einem konfessionell orientierten, vornehmlich theologischen Verständnis der Disziplin ab; um kirchliches Handeln im Kontext der allgemeinen Geschichte verstehbar zu machen, müsse sich die Kirchengeschichte hin zur Sozialgeschichte öffnen.

Insgesamt vermittelt das Taschenbuch einen Überblick über die gegenwärtigen Ergebnisse und Probleme der Forschung, aus dem die Unverzichtbarkeit einer vergleichenden und zugleich integrierenden Perspektive für die Historiographie der deutschen Geschichte und Kirchengeschichte der Nachkriegszeit deutlich wird.