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Ausgabe:

Juni/2004

Spalte:

660–662

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Olson, Oliver K.

Titel/Untertitel:

Matthias Flacius and the Survival of Luther's Reform.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2002 (in Kommission). 428 S. m. zahlr. Abb. 4 = Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, 20. Geb. Euro 99,00. ISBN 3-447-04404-7.

Rezensent:

Jörg Lauster

Wenige Tage vor seinem Tod hielt Melanchthon auf einem Zettel fest, warum Menschen den Tod nicht fürchten müssen. Unter anderem schrieb er: "Du wirst von aller Mühsal befreit und entkommst der Wut der Theologen". An Matthias Flacius wird er dabei auch, vielleicht sogar vor allem gedacht haben. Dieser "illyrischen Viper" - so nannte ihn Melanchthon - widmet der amerikanische Kirchenhistoriker Oliver K. Olson eine ausführliche Biographie. Deren erster Band, der von 1520 bis 1557 reicht, liegt nun vor - und wartet gleich mit einem Aufsehen erregenden programmatischen Titel auf: Dass "the Survival of Luther's Reform" maßgeblich an Flacius hängt, steht für O. außer Frage, ihm geht es vielmehr darum, zu zeigen, "how he did it" (15). Die Absichten seines Buches legt der Lutheraner O., der sich an der gegenwärtigen ökumenischen Debatte in den USA mit kritischen Erwägungen zur Kirchengemeinschaft von Anglikanern und Lutheranern beteiligt, damit in wünschenswerter Klarheit offen.

O. gruppiert seine Darstellung in vier große Teile, die sich an Flacius' wichtigsten Wirkungsstätten orientieren. Den Ausgangspunkt bilden die illyrisch-venezianische Herkunft und Studienzeit. Im Geiste der Hochrenaissance erhält der aus dem heutigen Labin stammende Matija Vlaci'c in Venedig eine vorzügliche philologische Ausbildung. Unter dem Einfluss seines Lehrers Baldo Lupetino gerät er mit den Gedanken der lutherischen Reformation in Berührung. Daraus entsteht der Wunsch, bei Luther selbst in Wittenberg zu studieren - ein lebensrettender Wunsch. Denn auf Druck des Papstes gehen die Inquisitionsbehörden rigoros gegen die italienischen Anhänger der Reformation vor. Mit vielen anderen wird Lupetino verhaftet (und bleibt bis zu seiner Hinrichtung 1555 im Gefängnis). Es leuchtet ein, dass es vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen einigermaßen anachronistisch ist, Flacius' Antipapalismus an den Maßstäben neuzeitlicher Toleranz zu messen. Über Basel und Tübingen gelangt Flacius schließlich nach Wittenberg, seiner zweiten wichtigen Wirkungsstätte. Dort spricht den begabten Junggelehrten auf Grund der gemeinsamen philosophischen und humanistischen Interessen ausgerechnet Melanchthon zunächst mehr an als Luther. Durch persönliche Krisen baut sich dann allerdings zu Luther eine religiös-existentielle Geistesverwandtschaft auf. Es sei dahingestellt, ob O. damit bereits auf der Ebene der religiösen Psychologie Flacius als die im Vergleich zu Melanchthon ingeniösere religiöse Kraft herausstellen möchte. Historisch steht fest - und daran lässt auch O. keinen Zweifel -, dass Flacius nicht zum "inner circle" (49) Luthers gehörte. Theologisch etabliert er sich in Wittenberg als ausgezeichneter Hebraist. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist O.s These, der reife Flacius habe die von ihm selbst in seiner Wittenberger Zeit vertretene Lehre von der Verbalinspiration der Schrift später so modifiziert, dass er nicht wirklich als Begründer dieser Lehre gelten könne (vgl. 54). Auf die Entfaltung dieser These, die dann wohl im zweiten Band kommen wird, darf man gespannt sein.

Flacius' große Zeit kommt, so O.s zentrale These, als es mit dem Protestantismus bergab zu gehen scheint. In der bedrohlichen Situation nach der Niederlage im Schmalkaldischen Krieg erweise sich Flacius als der unerschrockene Bewahrer des lutherischen Erbes, während Melanchthon vor der politischen Macht des Kaisers und seiner militärischen Verbündeten in die Knie gegangen sei und nicht nur Luthers, sondern auch noch seine eigene Theologie preisgebe. O. interpretiert den Streit um die Adiaphora des Glaubens "as a quarrel about the relationship between church and state" (156), und so ist Flacius' Magdeburger Zeit - dorthin war er im Zuge des Schmalkaldischen Krieges geflüchtet - zu Anfang ganz davon bestimmt, gegen Melanchthons Religionspolitik zu agieren. Gleichwohl ist Flacius in Magdeburg auch darüber hinaus theologisch äußerst produktiv. Eingehend schildert O. die Vorarbeiten und dann das Projekt der Magdeburger Zenturien selbst, für dessen Idee und Planung, nicht aber Durchführung Flacius maßgeblich verantwortlich war. Mit der methodischen Ausrichtung auf die "primary sources" (257) und der daraus sich ableitenden Kritik katholischer Traditionen gilt das Werk - wie O. unter Berufung auf Adolf von Harnack festhalten kann - als die Geburtsstunde der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung. Neben dieser Funktion als Wissenschaftsmanager fungierte Flacius zugleich als strenger Glaubenshüter und zieht sine personarum respectu in seine theologischen Schlachten gegen Schwärmer und Philippisten. O.s sorgfältige Rekonstruktion der jeweiligen Positionen wird um erhellende Ausblicke auf deren Rezeption in der neuzeitlichen Theologiegeschichte ergänzt, die belegen, wie Flacius' Geist im Protestantismus weiter wirkte. Das Buch schließt mit Flacius' Übersiedlung nach Jena, wo er sich ab 1557 am Aufbau der theologischen Fakultät beteiligt.

O. ist eine spannend zu lesende Flacius-Biographie gelungen, die frei von übertriebenem historistischem Schwermut durch eine stupende Kenntnis der Primär- und Sekundärliteratur beeindruckt. Dass das Ganze auch noch in einer äußerst ansprechenden Edition geschieht, die mit umfangreichem Bildmaterial die kulturelle Verarbeitung der geschilderten Ereignisse in ihrer Zeit anschaulich macht, verdient Erwähnung. Über Wilhelm Pregers Standardwerk aus dem 19. Jh. hinaus vermag O. neue Perspektiven zu eröffnen. Dazu zählt vor allem der Blick auf Flacius' humanistische Ausbildung in Italien, auf seine internationalen Kontakte nach Italien und England und auf die theologische Wirkungsgeschichte. Das Bild von Flacius als dem streitsüchtigen Monster des frühen Protestantismus entlarvt O. als simplifizierendes Klischee. Es liegt auf der Hand, dass ein Mann, der kirchenpolitisch und wissenschaftlich zahlreiche Anhänger hatte, über "certain winning personality traits" (41) verfügt haben muss. Gleichwohl schlägt der positive Ertrag des Buches dann um, wenn O. Flacius' unbestreitbare Größe auf Kosten von Melanchthon herauszustellen versucht. Dass es - um nur zwei Beispiele zu nennen, die O. ausführlich erörtert - für Melanchthons Entscheidung, im albertinisch gewordenen Wittenberg zu bleiben und nicht den Ernestinern nach Jena zu folgen, berechtigte sachliche Gründe gab und dass Melanchthons Position im Adiaphoristischen Streit bei aller Widersprüchlichkeit eine religionspolitische Option und einen ökumenischen Geist erkennen ließ, der nichts mit charakterlicher Schwäche zu tun hatte, das blieb zu seiner Zeit Flacius ebenso verborgen wie heute seinem Biographen O. Es könnte sich hier im Übrigen eine formale Besonderheit des Buches negativ auswirken. Obgleich das Manuskript 1995 abgeschlossen ist (und demzufolge auch nur bis dahin Literatur berücksichtigen kann), erscheint das Buch erst 2002. Doch ist zu befürchten, dass auch dann, wenn O. die Forschungsarbeiten aus dem Melanchthon-Jahr, allen voran Scheibles große Biographie, hätte verarbeiten können, sich an der Durchführung nicht viel geändert hätte. Denn die Dekonstruktion Melanchthons ist Methode. The Survival of Luther's Reform hängt eben für O. ganz entscheidend an der Person des Flacius. Damit weitet sich O.s Flacius-Biographie zu einer Protestantismus-Theorie, genauer müsste man sagen: zu einer Theorie des Luthertums aus, die in dem historisch unbestreitbaren Übergang zu einem auf Lehrgehalte fixierten, kompromisslosen Konfessionalismus, wie er sich an der Gestalt des Flacius so vorzüglich festmachen lässt, das eigentliche Wesen des Luthertums sieht. Diese Botschaft steht in auffallendem Widerspruch zum historischen Ertrag des Buches. Man wird ihm daher viele Leser und wenige Anhänger wünschen müssen.