Recherche – Detailansicht
Ausgabe: | Juni/2004 |
Spalte: | 616–618 |
Kategorie: | Altes Testament |
Autor/Hrsg.: | Bartelmus, Rüdiger |
Titel/Untertitel: | Auf der Suche nach dem archimedischen Punkt der Textinterpretation. Studien zu einer philologisch-linguistisch fundierten Exegese alttestamentlicher Texte. |
Verlag: | Zürich: Pano 2002. VIII, 405 S. 8. Kart. Euro 19,50. ISBN 3-907576-43-8. |
Rezensent: | Klaus Grünwaldt |
"Gebt mir einen Platz, wo ich stehen kann, und ich werde die Erde bewegen." So soll im 3. Jh. v. Chr. der griechische Mathematiker Archimedes gesagt haben. Aus diesem Ausspruch wurde dann im Laufe der Zeit der sprichwörtliche Archimedische Punkt: ein fest stehender Dreh- und Angelpunkt, ein über jeden Zweifel erhabenes Wissensfundament, von dem aus alles andere gestützt oder ausgehebelt werden kann.
Als einen solchen Punkt innerhalb der Exegese wird von dem Kieler Alttestamentler Rüdiger Bartelmus die Sprache angesehen bzw. die Sprachwissenschaft oder die Philologie (VI; 325), das Forschungsgebiet also, mit dem er sich spätestens seit seiner Habilitationsschrift über das Verb HYH (1982) beschäftigt hat.
Die in dem anzuzeigenden Band versammelten 18 Aufsätze oder Buchexzerpte beschäftigen sich denn auch überwiegend mit philologischen Themen.
Drei Beiträge sind im weiteren Sinne forschungsgeschichtlich orientiert. "Das Alte Testament - deutsch" (1-22) untersucht kritisch Luthers Bibelübersetzung; "Prima la Lingua, Poi le Parole" (307-318) bespricht ausgehend von Erkenntnissen David Kimchis zwei Verse aus den Samuelbüchern; "Melanchthon, Reuchlin und die humanistische und jüdische Tradition" (337-353) unterstreicht Reuchlins und Melanchthons Forderung nach einer philologisch fundierten Exegese und Theologie.
Zwei Aufsätze stellen topographische Themen in den Vordergrund. "Topographie und Theologie" (81-104) sucht nach einer Erklärung für die eigentümlichen topographischen Gegebenheiten in Gen 50,1-14; "Begegnung in der Fremde" (267-286) hebt die Bedeutung der Schauplätze für das Verständnis von Ez 1-3 und Ex 3-4 hervor.
Zwei weitere Beiträge sind dem Dekalog bzw. einzelnen Geboten daraus gewidmet. "Sabbat und Arbeitsruhe im Alten Testament" (159-200) geht der Geschichte und der Bedeutung des Sabbats nach, wobei ein besonderes Augenmerk auf dem Vorkommen im Dekalog liegt; "Die samaritanische Fassung des Dekalogs und die Frage der Endredaktion des Pentateuchs am Beispiel des Anfangs der Sinai-Perikope (Ex 19-24)" (287-306) vertritt die These, dass der Verfasser des Samaritanus von ähnlichen redaktionsgeschichtlich-theologischen Prinzipien geleitet gewesen sei wie der Redaktor, der den älteren Dekalog aus Dtn 5 an den Anfang der Sinai-Perikope gestellt habe. B. vertritt also wie etwa Frank-Lothar Hossfeld die Auffassung der Priorität des Dekaloges von Dtn 5.
Andere Aufsätze sind formgeschichtlich ausgerichtet. "Jes 7,1-17 und das Stilprinzip des Kontrastes" (23-41) klassifiziert Jes 7 als Tragödie, in der "das anzukündigende Unheil durch das Eintreten positiv wirkender Fakten garantiert wird" (39); "Die sogenannte Jothamfabel - eine politisch-religiöse Parabeldichtung" (53-79) stellt Ri 9 auf eine Stufe mit der Natanparabel (2Sam 12) oder dem Weinberglied (Jes 5) und versucht nachzuweisen, dass die "Fabel" ohne ihren Kontext nie existiert hat, jedenfalls nicht ohne ihren Kontext interpretiert werden darf und eher als "Parabel" anzusprechen ist; "Ez 37,1-14, die Verbform weqatal und die Anfänge der Auferstehungshoffnung" (105-132) verbindet formgeschichtliche mit literarkritischen Beobachtungen an einem Textstück, in dem - nach B. nicht ganz zu Unrecht: Es kommt darauf an, auf welcher Stufe man den Text liest! - die Anfänge der Auferstehungshoffnung im Alten Testament gesehen werden. Kritisch mit der formgeschichtlichen Forschung setzt sich B. in den Aufsätzen über das Lied der Hanna 1Sam 2,1-10 (Tempus als Strukturprinzip, 133-157) und das Weinberglied Jes 5 (Beobachtungen zur literarischen Struktur des sog. Weinbergliedes, 319-336) auseinander: Vor der Frage nach Form und Gattung des Textes habe eine gründliche sprachliche Analyse stattzufinden.
Zwei Aufsätze sind explizit theologischen Themen gewidmet. In "Haben oder Sein" (201-230) liest B. das Kohelet-Buch in der Perspektive von Erich Fromm und kommt zu dem Ergebnis, Kohelet vertrete das Konzept des Seins, während er das Konzept des Habens, repräsentiert durch das Stichwort jitron, für gescheitert erkläre. Kohelet sei also keineswegs ein Pessimist oder gar Skeptiker gewesen. "Menschlicher Mißerfolg und Jahwes Initiative" (241-265; Titel in Abwandlung des bekannten Buches von Ludwig Schmidt) analysiert die sich erheblich unterscheidenden Geschichtsbilder des deuteronomistischen Rahmens des Richterbuches und von Ez 20.
Die übrigen Beiträge behandeln explizit Fragen der Sprache. "Textkritik, Literarkritik und Syntax" (43-52) verteidigt die Einheit von Ez 37,11; der Aufsatz zur "Unermüdlichkeitsformel" (231-240) fragt nach der Etymologie von hisk-m; "Sachverhalt und Zeitbezug" (355-381) bietet eine sprachwissenschaftlich fundierte Exegese von 1Kön 1, und der das Buch abschließende Beitrag "Ex 3,14 und die Bedeutung von HYH" (383-402), eine Überarbeitung des Schlusskapitels von B.s Habilitationsschrift, macht die Ergebnisse seiner sprachwissenschaftlichen Analyse für die Deutung der theologisch bedeutsamen Stelle Ex 3,14 fruchtbar.
Ist die Sprachwissenschaft mit all ihren verschiedenen Spielarten der archimedische Punkt der Textinterpretation? Sie ist es nicht. Selbst B. ist nicht dieser Meinung, denn er konzediert bereits im Vorwort, dass es einen solchen archimedischen Punkt nicht gibt. Aber warum ist denn ein Titel für den Band gewählt worden, der zumindest die Hoffnung weckt, es könne solch einen Punkt geben, an dem die Exegese zu objektiven Ergebnissen kommt? Ich denke, hier muss noch weiter gefragt werden: Gibt es überhaupt einen solchen unstrittigen Punkt in der Exegese? Gibt es objektive exegetische Erkenntnisse? Macht es Sinn, nach einem solchen Punkt zu fragen? Oder hat nicht gerade auch die Exegese bewusst teil an der unhintergehbaren Perspektivität aller theologischen Erkenntnisse? Diese Fragen bleiben jedenfalls auch nach der Lektüre der 18 Aufsätze offen.
Recht zu geben ist B. bei aller prinzipiellen hermeneutischen Skepsis mit seiner Forderung nach einer gründlichen philologischen Analyse der Texte als Bestandteil jeder ernst zu nehmenden Exegese. Die Sprache (sowohl die alte als auch die Muttersprache!) ist das Handwerkszeug eines jeden Theologen/einer jeden Theologin, und wer schon hier schwächelt oder unsauber arbeitet, dem ist auch im Folgenden nicht zu trauen. Melanchthons Forderung nach dem Erlernen der drei alten Sprachen (337 ff.) Hebräisch, Griechisch und Latein, eine Forderung, die den heutigen Studierenden schwer zu schaffen macht, hat noch heute ihre Berechtigung, denn in der Sprache drückt sich das je eigene authentische Verständnis von Gott und Welt aus, wie paradigmatisch etwa die Übersetzungen von Ex 3,14 zeigen (vgl. 384 f., Anm. 5).
Und an den Aufsätzen von B. kann man auch studieren, dass die philologische Analyse theologisch Früchte trägt. Hier wird nicht l'art pour l'art getrieben, wie ein beliebter Vorwurf gegenüber sprachwissenschaftlich arbeitenden Exegeten lautet, sondern man blickt einem Exegeten über die Schulter, der auf der Suche nach dem Wort in den Wörtern ist. Dass dieses Wort dann (trotz mancher Kritik an Luther: 1 ff.; 161 f. u. ö.) lutherisch klingt - etwa in der Formulierung der Ergebnisse des Beitrags "Begegnung in der Fremde" (283) - macht es dem Rez. umso sympathischer.
Gleichwohl bleiben Fragen hinsichtlich der Objektivität der Ergebnisse, und diese Fragen lassen sich konkretisieren. Die erste Frage betrifft den vorletzten Aufsatz zu 1Kön 1. Hier versucht B. mit allen Mitteln, die antidavidische, ja David lächerlich machende Tendenz des vorletzten Kapitels der Thronfolgegeschichte nachzuweisen, und der unbefangene Leser fragt sich: Was war zuerst da: die Entdeckungen an der Sprache oder die Überzeugung von der Tendenz des Textes? Allein aus den sprachlichen Beobachtungen ist jedenfalls diese - m. E. überzogene - Tendenzkritik nicht zu gewinnen.
Die zweite Frage betrifft den letzten Beitrag zu Ex 3,14, und hier besonders die Polemik gegen Andrea Ulshöfer (386 f.), die den bis dahin ganz überwiegend mit Sympathie lesenden Rez. hat erschrecken lassen. Hier werden die Grenzen der Höflichkeit, die auch unter Exegeten mit unterschiedlicher Meinung gewahrt bleiben sollten, überschritten. Was soll das? Was hat das mit einer möglichst objektiven Exegese zu tun? Solche Ausfälle desavouieren die Methodik, denn sie erwecken den Eindruck von Überheblichkeit, den Eindruck, etwas Besseres zu sein. Das aber haben wirklich gute Exegeten nicht nötig.
Und schließlich noch einmal: Bei aller Wertschätzung gediegener philologischer Analysen müssen notwendigerweise in der Exegese Spiel-Räume bleiben; es muss Raum sein für bewusst perspektivische Exegesen - etwa im Rahmen kontextueller Exegese -, es muss Raum sein für dezidiert dogmatische Zugriffe auf den Text (wie sie auch bei B. zu finden sind, s. o.), und es muss Raum sein für immer neue Anläufe mit bislang unbekannten oder nicht erprobten Methoden (wie bei B. im Kohelet-Aufsatz). Der Philologie kommt m. E. hierbei die Aufgabe zu, solche immer neuen Anläufe zu eröffnen. Abschließen kann sie die exegetischen Bemühungen jedenfalls nicht.
Ein Nachwort: Sollte ich mir ein weiteres Buch von B. wünschen dürfen, so wäre dies eine Sammlung seiner Aufsätze über "Das Alte Testament in der Musik" (vgl. z. B. 307, Anm. 1)!