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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

431–433

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Perler, Dominik

Titel/Untertitel:

Theorien der Intentionalität im Mittelalter.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Klostermann 2002. XIII, 435 S. gr.8 = Philosophische Abhandlungen, 82. Lw. Euro 42,00. ISBN 3-465-03178-4.

Rezensent:

Günther Mensching

Das Denken der Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart zu erschließen, ist ein sinnvolles Projekt, denn es vermeidet die historistische Illusion, das Tradierte allein aus sich selbst verstehen, es gleichsam originalgetreu, ohne anachronistische Projektionen rekonstruieren zu können. Die Geschichte der mittelalterlichen Philosophie wird zumeist vor allem aus dem eher archivarischen Interesse betrieben, die Einflüsse der Autoren aufeinander oder die Bezüge zu den geistigen Strömungen ihrer Zeit in den Quellen mit zuweilen kriminalistischem Spürsinn aufzuweisen, um die Herkunft der Motive möglichst vollständig darzutun. Demgegenüber entspringt es einem genuin philosophischen Interesse, die Argumentationen der fernen Epoche zu untersuchen, als wären sie in der Gegenwart formuliert worden. Ihr Anspruch auf Wahrheit gilt so unabhängig von der äußeren historischen Situation. Es stellen sich dann aber die Fragen nach dem historischen Ort des Interpreten selbst und nach der inneren Historizität der philosophischen Gedanken, die es verbietet, sie am Ideal mathematischer Evidenz zu messen.

Die gegenwärtig dominierende analytische Philosophie hatte bislang kaum ein Interesse an der Geschichte der Philosophie. Der historische Prozess und sein geistiger Niederschlag in der Philosophie war nicht unter der empiristischen Grundvoraussetzung analytischer Wissenschaftstheorie zu untersuchen, denn die Frage, welchen Begriffen unter welchen Bedingungen ein empirischer Gehalt zugesprochen werden kann, sollte gleichsam naturwissenschaftlich, also unabhängig von ihrem historischen Kontext untersucht werden, zumal der in diesem Zusammenhang unausweichliche Begriff der Teleologie längst als sinnleere metaphysische Idee galt.

In den letzten Jahren haben nun auch im deutschen Sprachbereich manche Anhänger der analytischen Richtung die Tradition, besonders die mittelalterliche, entdeckt und versuchen, die Systeme klassischer Autoren in ihrer eigenen Terminologie und nach dem Modell ihrer Topoi zu rekonstruieren. In die Reihe dieser Bemühungen, vor allem um logische und erkenntnistheoretische Themen, gehört das hier zu besprechende Buch von Dominik Perler über Theorien der Intentionalität in der fruchtbarsten Epoche des Mittelalters von 1250 bis etwa 1330. Der Begriff "Intentionalität" wird in seiner von Franz Brentano im späten 19. Jh. geprägten Bedeutung aufgenommen. Er schien eine neue Entdeckung auszudrücken, mit der die gerichtete Beziehung des Bewusstseins auf einen Inhalt oder Gegenstand bezeichnet wurde. Brentano bezog sich noch vage auf "die Scholastiker des Mittelalters", während sein Schüler Husserl die Intentionalität als Neuerung verstand.

P.s Buch geht diesem Hinweis nun nicht auf die übliche philosophiehistorische Weise nach, dass er sich auf die Suche nach dessen mittelalterlichen Quellen begäbe, sondern so, dass der im Sinne Brentanos verstandene Begriff an den Argumentationen einiger wichtiger Autoren des Hoch- und Spätmittelalters erprobt wird. Die Frage ist also, was der moderne Begriff der Intentionalität, der nicht nur in der Phänomenologie, sondern auch in der analytischen Philosophie eine wichtige Rolle spielt, zum Verständnis jener Autoren des 13. und 14. Jh.s beiträgt, die den Begriff der intentio selbst in sehr verschiedener Weise verwenden. Umgekehrt will das Buch aber auch herausarbeiten, was die mittelalterlichen Argumente für die heutige Debatte über die Intentionalität beitragen können.

Das Werk gliedert sich nach der den Gegenstand bestimmenden Einleitung in fünf große Teile und in 35 durchlaufend nummerierte Paragraphen. Die Teile untersuchen unter den Titeln spezifischer Modelle in chronologischer Ordnung die Theorien verschiedener Autoren, verfahren hierbei aber vor allem typologisch. Der erste Teil hat die erkenntnistheoretischen Passagen im Werk des Thomas von Aquin zum Gegenstand, die P. als "Modell der formalen Identität" charakterisiert. Der zweite Teil stellt einen Vergleich der gegensätzlichen Reflexionen des Petrus Johannis Olivi und Dietrichs von Freiberg dar, die unter dem Titel "Konstitutionsmodell" behandelt werden. Duns Scotus und seine frühen Schüler werden im dritten Teil dem "Modell der intentionalen Objekte" zugeordnet, während der vierte Teil wiederum einen Vergleich zweier Autoren, Petrus Aureolis und Hervaeus Natalis', unter dem Begriff der "intentionalen Präsenz" bietet. Der fünfte Teil untersucht Wilhelm von Ockham und dessen Schüler Adam Wodeham unter dem Gesichtspunkt des "Modells der natürlichen Zeichen". Ein Schlusskapitel nimmt die Brentanosche Begriffsbestimmung der Intentionalität wieder auf und fragt nach der Fruchtbarkeit der mittelalterlichen Modelle für die philosophischen Diskussionen der Gegenwart, worunter freilich ausschließlich die analytischen gemeint sind.

Das Resultat der Untersuchung ist, dass es im Mittelalter charakteristisch verschiedene Antworten auf die erst in der Neuzeit gestellte Frage gibt, wie sich subjektives Bewusstsein auf empirische Gegenstände beziehen kann. Während an Thomas von Aquin erläutert wird, dass das erkennende Bewusstsein immer eines Anstoßes von außen bedarf, um sich intentional, durch die species vermittelt, auf einen Gegenstand zu richten, wird an den anderen Autoren gezeigt, welche vermittelnden Instanzen zwischen dem Bewusstsein und dem intentionalen Gegenstand angenommen werden und dass es sogar Theorien gibt, die den Gegenstand entweder als unmittelbar intelligibel oder als kategorial konstituiert annehmen. Die intuitive Erkenntnis bei Scotus und Ockham spielt hier eine wichtige Rolle.

Es würde sich sehr lohnen, ausführlich die scharfsinnigen und in vielen Einzelheiten überaus anregenden Untersuchungen kritisch zu kommentieren, zumal an der detaillierten und zuverlässigen Quellenkenntnis des Autors nirgends ein Zweifel sein kann. Der gebotenen Kürze halber müssen hier einige eher allgemeine Anmerkungen genügen. Es ist ein Verdienst, die mittelalterlichen Autoren, die völlig verschiedenen und sogar entgegengesetzten Richtungen angehörten, unter einem einheitlichen Gesichtspunkt in systematischer Absicht zu untersuchen und auf diese Weise Gemeinsames und Trennendes herauszuarbeiten. Als fruchtbar und instruktiv erweist sich dieses Vorgehen besonders in den beiden vergleichenden Kapiteln über Olivi und Dietrich von Freiberg sowie über Aureoli und Hervaeus Natalis.

Die systematische Fragestellung setzt sich jedoch einigen grundsätzlichen Einwänden aus. Trotz des eingehend präsentierten historischen Materials lassen die Untersuchungen der Argumentationen kaum erkennen, in welchem zeitbedingten geistigen Kontext sie formuliert worden sind. Die vorwiegend logische und erkenntnistheoretische Analyse enthebt sie gleichsam der Zeit, auch wenn P. den Abstand zwischen Mittelalter und Gegenwart an verschiedenen Stellen betont. Obwohl mitunter auf bestimmte zeitgenössische Kontroversen hingewiesen wird, entsteht der Eindruck, als hätten Thomas, Scotus und die anderen Autoren nichts als die womöglich unlösbaren Probleme des modernen Empirismus reflektiert. Der Kontext von Theologie und Metaphysik wird nicht erörtert, innerhalb dessen die wissenschaftstheoretischen Fragen im Mittelalter eine Bedeutung hatten. Intentio bezeichnet nämlich vor allem die Zielgerichtetheit von Handeln und Denken, und so ist der Begriff durch die metaphysische Idee der Teleologie geprägt, nach der auch Erkenntnis und Wille des Menschen bestimmt werden.

P.s Untersuchungen führen im Detail sehr eindringlich vor Augen, dass die aristotelische Position sich schon am Ende des 13. Jh.s berechtigter Kritik aussetzt. Von Thomas bis zu Ockham und Wodeham nimmt die Bedeutung des den Gegenstand denkenden Subjekts zu. Schon bei Olivi wird die volitive Komponente des intentionalen Bewusstseins und der Erkenntnis überhaupt deutlich, während sich bei Dietrich von Freiberg bereits Momente einer kategorialen Gegenstandskonstitution zeigen. Die Position des Thomas Aquin ist demgegenüber aber keineswegs antiquiert. P.s Darstellung zeigt vielmehr, dass Thomas klar unterscheidet zwischen dem an sich metaphysisch bestimmten Gegenstand und dem durch das denkende Bewusstsein angeeigneten. Hier und an vielen anderen Stellen verwundert es indessen, dass P. weder die epochale Wendung zur via moderna in seine Betrachtung einbezieht, für die die von ihm behandelten Autoren beredte Zeugen sind, noch auf die auffälligen und keineswegs akzidentellen Parallelen zu Theoremen Kants und des deutschen Idealismus zu sprechen kommt. Die Intentionalität wäre im Lichte dieser auch auf Brentano noch wirkmächtigen Tradition eine Leistung des reflexiven Bewusstseins, zu dessen Entdeckung in der Neuzeit die mittelalterlichen Autoren Entscheidendes beigetragen haben. Durch diese in der Sache liegende und zugleich historische Vermittlung vermiede man es, den mittelalterlichen Autoren eine Problematik zu unterstellen, auf die ihr Denken gar nicht zentriert war.

Das Buch ist sehr lesenswert und wird, gerade weil es deutlich Position bezieht, die fällige Diskussion um eine zeitgemäße Aneignung der mittelalterlichen Denktradition auch im Widerspruch befruchten.