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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

315–317

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Ulrich, Ferdinand:

Titel/Untertitel:

Erzählter Sinn. Philosophische Erfahrungen in der Bilderwelt des Märchens. Hrsg. v. M. Bieler u. St. Oster.

Verlag:

Freiburg: Johannes Verlag Einsiedeln 2000. XVI, 528 S. 8 = Sammlung Horizonte, Neue Folge 34. Kart. Euro 29,00. ISBN 3-89411-362-6.

Rezensent:

Peter Heidrich

G. K. Chesterton und Schelling werden auf der Motto-Seite zitiert; "... the things I believe most now, are the things called fairy tales. They seem to me to be the entirely reasonable things. They are not fantasies: compared with them religion and rationalism are fantastic. Compared with them religion and rationalism are both abnormal, though religion is abnormally right and rationalism abnormally wrong."

Die Herausgeber wissen, dass Volkskundler, Literaturwissenschaftler und vor allem Psychologen über Märchen geschrieben haben. Wenn aber der Aquinate Recht damit hat, dass alles menschliche Erkennen der conversio ad phantasmata bedürfe, dann sei es geboten, als Philosoph die Hinkehr zu Bildern explizit zu vollziehen. U. verstehe das Märchen als Handlungsgestalt, in der es um Gewinn oder Verlust menschlicher Freiheit geht.

Den Herausgebern ist bewusst, dass das vorliegende Buch insofern eine Zumutung darstellt, als es in hohem Maße die Kenntnis der beiden vorhergehenden Bände der Schriften U.s voraussetzt. Der Rez. empfindet diesen Mangel stark. Freilich verweisen die Herausgeber nicht auf vorhergehende Bände an entsprechenden Stellen, dadurch wirkt mancher Gedankengang unvermittelt und unbegründet. Die ersten 22 Seiten entstanden aus begleitenden Notizen, die restlichen zehn Seiten der Einleitung folgen "im losen Zusammenhang". Heraklits Fragment 123 soll belegen, dass es legitim sei, die Bilder zu verlassen, weiterzugehen. Was ein Bild "über-worthaft" sage, geschehe zwischen dem Hörenden und der Erzählung. Hegels Phänomenologie mit ihren Eingangsüberlegungen zum scheinbar Esoterischen wird angeführt. Die Inadäquatheit von Erzählung und philosophischer Reflexion verschwinde im Vollzug irgendwie. Wird nach der "Methode" der Deutung gefragt, heißt es: "Der [sic!] met-hodos ist primär der Weg der Erzählung als solcher. Das Erzählen als der [sic] dem Märchen gemäße methodos seiner Erschließung."

Drei Märchen werden ab S. 35 "erzählt": "Hänsel und Gretel", das afrikanische "Märchen von Mrile" und das Grimmsche Märchen "Die drei Sprachen".

"Selbstwerdung aus der Dialektik von Überfluß und Mangel": unter diesem Thema steht das erste Märchen. Auf dem Spiel stehe die Liebe als "Verbindung von Verbindung und Nichtverbindung" oder die "Identität der Identität und Nichtidentität (Hegel)". Bei Aussagen wie: jede positive (sic) Bejahung des Anderen setze die Annahme seiner selbst, das Ja zum eigenen Selbstsein voraus, fragt es sich, ob wir da nicht doch wieder im Bereich der Psychologie sind. Die tägliche Fingerprobe der Hexe, die Hänsels Fettwerden feststellen möchte, wird phallisch gedeutet - das würde bei Psychoanalytikern nicht überraschen. Hier lesen wir vom "oral gehabten Penis". Der Backofen ist Bild des Mutterleibes - auch das sagt die Psychologie.

Das afrikanische Märchen gilt als eine vergebliche Archäologie der Freiheit. Die Deutung ist von der Einsicht geleitet, "dass man erst dann ursprünglich hört und sieht, wenn man schon gehört und gesehen hat". Mutter und Sohn graben Knollen aus. "Jedes Finden vollendet sich in einem Er-finden (Goethe), wodurch das Gefundene durch den Akt der es schöpferisch ergreifenden Freiheit gewissermaßen neu, als ein aus seiner bloßen Tatsächlichkeit heraus befreites Gegebenes zustande und zum Vorliegen kommt. Das findende Erfinden nimmt die Sache nicht als einen fertigen Bestand einfach hin. ... Erfindend vollbringt das Finden die Bewegung des Herkommens des Gefundenen aus dem Ursprungsraum der Herkunft." Durch Pflege eines Knollens hat Mrile "sich in sich selbst empfangen und sich zu sich selbst erweckt". Die Mutter zerstört den Knollen, Mrile weicht in die Himmelswelt aus, kommt schließlich zum Mondkönig. Schließlich stürzt er in die nicht mehr tragende Erde ab. "Freiheit kann ihre Subsistenz nur bejahen, wenn sie sich nicht in die hypostasierte Seinsschwebe versteigt."

"Die drei Sprachen" haben den Untertitel: "Selbstwerdung als Sprachgeschehen". Der Sohn wird vom Vater jeweils für ein Jahr zu einem berühmten Meister geschickt, er lernt die Sprache der Hunde, der Vögel und der Frösche. Der Vater, der die fremden Meister ausgewählt hat, ist entsetzt und will den Sohn töten lassen, Mitleid lässt ihn leben. Das Familienverhältnis, in dem die Mutter nicht erwähnt wird, wird mit Franz v. Baader gedeutet. Die fehlende Mutter sei "ein Grund dafür, dass der Sohn für den Vater dumm war und nicht lernen konnte". Für den Vater sei das Erlernen der Sprachen ein Abgleiten in den Bereich einer geistlosen Animalität. Der Sohn ist "entleerte Figur der väterlichen Monologik", die dialogische Differenz des Mannes zur Frau fehle. Im Lernen der drei Sprachen breche kindliches Selbstsein, "Erweckung des Leibseins, der materiellen (materia: mater) Subsistenz seiner Freiheit" durch, das geschehe aber nur "in der entfremdeten Form unmenschlicher Animalität als Lebensform von Hund, Vogel und Frosch". Hier fragt sich wieder, ob wir im Bereich der Familienpsychologie weilen, die den gerade nicht animalischen Symbolwert der drei Tiere übersieht. Dass das Bild der inspirierenden Taube religiösen Ursprungs ist, auf Pfingstbildern und Papstgemälden erscheint, wird nicht erwähnt, würde zu unmenschlicher Animalität wohl auch nicht passen.

Der junge Graf befreit, von Hunden informiert, ein Schloss vom Fluch. Der Vf. wählt unbegründet eine Lesart, nach der der junge Mann die Tochter des Burgherrn zur Frau erhält. Mit ihr macht er sich auf die Reise nach Rom, die Frösche sagen ihm unterwegs die Zukunft voraus (er soll Papst werden), seiner Frau sagt er nichts, die Lesart lässt die Frau dann einfach fort - eine unpassende Lesart im Märchen. Den Tod des Papstes bringt der Vf. mit dem des Vaters in Verbindung. Es wird zwar einmal von geistlicher Vaterschaft gesprochen, aber die inspirierte Messe spielt keine Rolle. Die Vaterrolle scheint wichtiger zu sein. Hier wird wieder etymologisch argumentiert, seltsamerweise aber aus dem Hebräischen. Der Kabbala-Interpret Weinreb, ohne ausgeschriebenen Vornamen und ohne Angabe eines Buchtitels, wird wie ein Sprachwissenschaftler herangezogen - die Berechtigung dazu sollte erörtert werden -, aber dessen Deutung aus jüdisch-mystischer Tradition wird dann durch eigene Interpretation ersetzt. Unerklärt bleibt bei solcher Sprachdeutung, warum nicht in Hänsel und Gretel Weinrebs Deutungen von Mutter, Sohn und Tochter eine Rolle spielen - wenn überhaupt so die Grenzen der Sprachfamilien überschritten werden dürfen. - Die Sprache der Tauben versöhnt im jungen Grafen "Möglichkeit und Notwendigkeit in wirklicher Freiheit". In der Freiheit des Sagens, das aus der "Grundlosigkeit der schöpferischen Leere" aufbricht. Die Animalität des Vogels ist nun gegenstandslos.

Ob die offenen Fragen des Buches geklärt wären, wenn man die beiden vorangehenden Bände kennt, kann der Rez. nicht sagen. Hinweise auf diese Bände gaben die Herausgeber nicht, bei gelegentlichen Zitaten des Aquinaten wird meistens auf Quellenangabe verzichtet.