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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

798 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ruschke, Werner M.

Titel/Untertitel:

Einer trage des anderen Last. Plädoyer für eine diakonische Theologie und Praxis.

Verlag:

Bielefeld: Luther 1997. 168 S. gr.8. Kart. DM 24,80. ISBN 3-7858-0390-7.

Rezensent:

Reinhard Turre

Der Ephorus des Predigerseminars in Soest ist durch seine praktische Arbeit erst im Gemeindepfarramt und dann in den Bodelschwinghschen Anstalten nahezu prädestiniert, "Kirche und Diakonie ins Gespräch und somit innerlich näherzubringen" (9.13). Man spürt dem vorgelegten Band ab, daß er in unmittelbarer Begegnung mit behinderten Menschen, der für sie tätigen Mitarbeiter und einer mit ihnen befaßten Einrichtung entstanden ist. Er stellt im ersten Teil die anthropologischen Voraussetzungen und die diakonischen Zielvorstellungen der Behindertenarbeit dar. Der zweite Teil ist von Fragestellungen einer Einrichtung bestimmt. Die kirchliche Anbindung, die Öffentlichkeitsarbeit, das Spendenwesen und die Organisationsform westfälischer Diakonie werden hier dargestellt. Die mehr der theologischen Reflexion dienenden Abschnitte im ersten Teil nehmen Gedanken von Ulrich Bach, Johannes Degen und Horst Seibert auf. Dem Plädoyer für eine diakonische Theologie (13-24) folgt die theologisch-reflektierte Darstellung der Situation behinderter Menschen (25-48) und der Helfer (49-62), sowie deren Zielvorstellung diakonischen Handelns in Auseinandersetzung mit Ulrich Bach (63-76).

Theologische anthropologische Entwürfe werden auf ihre Tauglichkeit für die Arbeit mit Behinderten befragt. Unter diesem Gesichtspunkt werden die Aussagen von Wolfhart Pannenberg und Rudolf Bultmann kritisiert, weil sie über die tatsächliche Verfaßtheit behinderter Menschen hinweggehen und so zu einer Überforderung der betroffenen Menschen führen müssen (36-40). Dagegen sieht R. die behinderten Menschen in der Bundestheologie Karl Barths besser berücksichtigt (40-44).

Die Helfer werden gegen die Angriffe von Wolfgang Schmidbauer in Schutz genommen, wonach diese im Helferberuf nur ihre eigene Suche nach Geltung, Macht und Ansehen befriedigen. Mit Recht weist der Vf. auf die Belastungen gerade auch in der Arbeit bei Schwerstbehinderten hin (50-54). Gewichtiger ist die Auseinandersetzung mit der utilitaristischen Ethik Peter Singers (54-62). Gerade die Helfer in der Behindertenarbeit werden Anwälte für die Achtung des Lebensrechts Behinderter sein können und sein müssen. Dafür gibt der Vf. gute argumentative Hilfe.

Über den Zusammenhang von Heil und Heilung handelt der Vf. in einem eigenen Abschnitt. Gegenüber der Kritik Ulrich Bachs an der Verknüpfung von Heil und Heilung weist der Vf. auf die missionsärztliche Praxis seit über 100 Jahren hin (69 f.). Das Heil Gottes eröffnet sowohl heiles Leben wie auch die Kraft, mit Behinderung auf Dauer umzugehen (75).

Im praktischen Teil seines Buches gibt der Vf. Einblicke in die Behindertenarbeit der von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel. Er sieht durchaus die Gefahr, "daß die angestrebte Normalität in Einrichtungen der Anstaltsdiakonie oft nur eine eingeschränkte und bevormundete war und ist" (85). Auf die neuerlichen Programme der Entflechtung der Anstalten und stärkeren Verselbständigung der Behinderten geht der Vf. nicht ein. Sein Abschnitt für die Rehabilitation gibt die Bemühung des Sozialdienstes in Bethel um die Nichtseßhaften wieder (87-94).

Die kritische Frage "Was darf die Diakonie kosten?" wird nicht ausgespart. In diesem Zusammenhang wird ein stärkeres, auch finanzielles Engagement der Kirchen wenigsten bis zu 10% ihrer Einnahmen für die diakonische Arbeit angemahnt (97-106). Auf die Bedeutung der Öffentlichkeitsarbeit als Dimension aller Diakonie wird hingewiesen (120). Dies ist auch von Bedeutung für das ethische Verständnis von Spenden, Spendenmarkt und Social Sponsoring (121-140). Mit guten Gründen warnt der Vf. vor der Euphorie, als könnten die Probleme der Finanzierung diakonischer Arbeit aus diesem Bereich gelöst werden. Es wird von ihm mit Recht darauf hingewiesen, daß es auch "unechte Spenden" gibt (131 f.) und Sponsoren nicht nur uneigennützige Ziele verfolgen (135-140).

Mit einem knappen Aufriß der westfälischen Diakoniegeschichte (143-152) und einer kurzen Darstellung von Strukturen (153-158) der Diakonie schließt der Vf. sein Plädoyer für eine diakonische Theologie und Praxis ab.

Der Vf. hat ein leicht lesbares Buch vorgelegt, das sich gut eignet für die Ausbildung und Weiterbildung diakonischer Mitarbeiter besonders aus der Behindertenhilfe. Es setzt sich offenbar mit mancherlei kritischen Einsprüchen auseinander und fordert so auf eine gute Weise zu eigener Urteilsbildung heraus.