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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

779–781

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Liedke, Ulf

Titel/Untertitel:

Naturgeschichte und Religion. Eine theologische Studie zum Religionsbegriff in der Philosophie Theodor W. Adornos.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1997. 501 S. 8 = Kontexte, 21. Kart. DM 128,-. ISBN 3-631-30937-6.

Rezensent:

Werner Brändle

1. Wer sich derzeit sowohl einen Überblick über die Rezeption des philosophischen Denkens Th. W. Adornos aus der Sicht eines protestantischen Theologen verschaffen als auch in eine kritische Auseinandersetzung mit demselben eintreten will, der kommt an der Leipziger Dissertation von L. kaum vorbei. Und wer sich der Mühe dieser Lektüre unterzieht, wird damit belohnt, daß ihm der theologische Nutzen einer solchen Auseinandersetzung - fast immer - plausibel vor Augen geführt wird. Der Schwerpunkt der Arbeit L.s liegt denn auch auf der theologischen Erörterung dessen, was Adorno ,inverse Theologie’ genannt hat, d. h. die negativ dialektische Kritik und Rettung des gesellschaftlich vermittelten Subjekts. Was die Arbeit dabei auszeichnet - und ihrerseits freilich auch zu weiterführender und konstruktiver Kritik herausfordert - ist der Mut L.s, theologisch zentrale Topoi modellhaft in Konstellation mit A.s negativer Dialektik zu setzen.

So gipfelt die Untersuchung in der Konstellation von Adornos Begriff der Negativität mit Luthers theologia crucis (in der Perspektive W. von Loewenichs) mit dem Ergebnis: "Die Figur rettender Kritik, die mit dem dialektischen Bild verbunden ist, erweist sich deshalb als strukturverwandt mit Luthers Dialektik von Gesetz und Evangelium: nur durch das Tal ihres Gerichtetwerdens hindurch vermögen Phänomene gerettet zu werden ... Bei Luther wie bei Adorno ist die Möglichkeit der Erlösung an das vorausgehende Gericht gebunden: hier über die entfremdeten Dinge, dort über den Sünder" (471).

2. Mit diesem prononcierten Zitat ist freilich nur ein Ziel dieser Arbeit - ein systematisch-theologisches Gespräch mit A. zu führen - angegeben. Das andere Ziel - der theologischen Erörterung dienend - heißt: "Adornos Sicht der verschiedenen religionsgeschichtlichen Stufen innerhalb des naturgeschichtlichen Prozesses nachzuzeichnen, einige der dabei vorausgesetzten Theorien und Quellen aufzuzeigen, Implikationen zu explizieren und damit verbundene Probleme zu diskutieren" (19). Entsprechend dieser beiden Brennpunkte ist die Arbeit eliptisch in 6 Kapitel gegliedert. Das 1. Kap. Zur Naturgeschichte der mißlungenen Zivilisation erläutert den geschichtsphilosophischen Kontext Adornos anhand der Begriffe Mythos und Aufklärung; dann wird im 2. Kap. die Urgeschichte der Religion an den Phänomenen von Präanimismus und Magie dargelegt; dabei geht L. ausführlich auf die damalige religionswissenschaftliche und religionssoziologische Theoriediskussion ein (M. Weber, Malinowski u. a.).

Im 3. Kap. stellt L. die Begriffe Entmythologisierung und Sä-kularisierung als dynamische Kräfte im religionsgeschichtlichen Prozeß dar. Interessant ist dabei der Vergleich mit P. Tillichs Begriff der Entdämonisierung sowie die Auskunft darüber, daß A. von S. Kracauer in den zwanziger Jahren den Begriff der Entmythologisierung übernommen hat. In diesem Zusammenhang vermag L. auch deutlich zu machen, daß die von R. Bultmann ausgelöste Entmythologisierungsdebatte an sachlicher Prägnanz gewonnen hätte, wenn die Schriften der Kritischen Theorie schon damals rezipiert worden wären. Das 4. Kap. - Polytheismus - versucht exkursartig das aporetische Ergebnis des Prozesses der Zivilisation auf den Punkt zu bringen: "Das griechische Pantheon ist Abdruck der Dialektik der Aufklärung. Es webt deren Verfallenheit fort und ist dennoch unabdingbar für die Genese einer begrifflichen Wahrheitserkenntnis" (223).

Da A. die Religionsgeschichte als Leitfaden der Geschichte des Selbstbewußtseins expliziert, schließt L. im 5. Kap. die Interpretation der monotheistischen Religionen Judentum und Christentum an, dabei soll sich zeigen: "daß es Adorno darauf ankommt, wie sich im Judentum und im Christentum die Vermittlung von Natur und Geist, absolutem Selbst und menschlichem Subjekt, ausformt." Im 2. Teil dieses Kap. wagt L. - nach der Darstellung dessen, wie Adorno das Christentum als Opferreligion in Parallelität zum Opfer des Odysseus bringt - eine erste theologisch bestimmte Modellanalyse unter der Fragestellung: "ob sich christologisch eine Transzendierung des naturgeschichtlichen Zwangszirkels denken läßt" (268 f.). Die in diesem Zusammenhang von L. konstruierte Alternative ,aut Odysseus aut Christus’ entpuppt sich dabei - wie zu erwarten - als strategisches Scheingefecht: "Gegenüber der Adornoschen Natur-Geist-Dialektik geht die in der Christologie ansichtig werdende Strukturlogik aber noch einen Schritt weiter, weil sie den in seinem Reich nahe herbeigekommenen Gott zum Gegenüber der im endlichen Bereich sich positionierenden Subjekt-Objekt-Beziehung hat" (304). Daß diese Diskussion auch am Modell der Sprache erfolgreicher durchgeführt werden könnte, deutet L. wenigstens an.

Das 6. umfangreiche Schlußkapitel - Der Weg der Religion in die Moderne - bildet in jeder Hinsicht den Höhepunkt der Arbeit. L. erarbeitet dabei in verschiedenen Anläufen die beiden Thesen Adornos auf: zum einen, daß die Entwicklung der alteuropäischen Religionsgeschichte die Geschichte der zunehmenden mißlingenden Selbstbehauptung ist; zum andern, daß die Wahrheit der Religion nur so zu retten ist, daß sie sich gänzlich ins Profane begibt bzw. auf theologische Kategorien verzichtet (das von Adorno angedachte Programm einer inversen Theologie). Beide Thesen nimmt L. zum Anlaß, daran theologische Modellanalysen anzuknüpfen. Im Blick auf die erste These- der Aporie der verwilderten Selbstbehauptung - diskutiert L. die Relevanz lutherischer Rechtfertigungslehre (aut operibus aut fide), im Blick auf die zweite versucht er eine Plädoyer für die Kreuzestheologie als Alternative zur Aporie inverser Theologie, um dann in Abwägung von Konvergenzen und Dissonanzen zu Adorno "die Artikulation eines eschatologischen Vorbehalts" (470) als strukturelle Gemeinsamkeit auszumachen.

3. L. hat mit seiner Rekonstruktion der dialektisch verschlungenen Wege von ,Naturgeschichte und Religion’ eine sachgemäße und teilweise pointierte - vor allem bezüglich der Begriffe Opfer, Entmythologisierung und Magie - Interpretation zu Adorno philosophischem Denken vorgelegt. Mehr noch: L. hat den Sachverhalt einer inversen Theologie und ihre Intention materaliter und in ihren Strukturen so aufgearbeitet, daß weitere ,Gespräche’ seitens systematisch-theologischen Denkens nicht mehr als erzwungen oder absurd erscheinen. Die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen Adornos negativer Dialektik und einem theologischem Denken, das der Spur lutherischer Kreuzestheologie im gegenwärtigen Kontext folgen will, ist m. E. plausibel gemacht. - Gleichwohl gibt die Arbeit Anlaß zu einigen kritischen Anmerkungen:

Was anscheinend bei der intensiven Beschäftigung mit Adorno nicht zu vermeiden ist, ist die Angleichung an dessen Sprachgestus; ,wäre freilich einzig (!) dies zu monieren, könnte davon abgesehen werden’. Was aber ebenfalls unangenehm auffällt, ist die stark apologetische Tendenz der theologischen Modellanalysen. Adorno wollte m. E. kein christlicher Theologe sein und braucht deshalb auch nicht als Konkurrent auf eigenem Felde gebucht zu werden. Damit verbunden ist die methodische Frage, wie das Gespräch mit Adorno zu führen ist. Wenn L. - in seiner ersten Modellanalyse - mit einem christologischen Sprachspiel in der Grammatik des Glaubens die philosophischen Argumente Adorno überbietet, so ist dies ein Pyrrhussieg; hier müßte m. E. das Gespräch in Reflexion auf die Vermitteltheit der jeweiligen Grammatik der Argumente nochmals neu ansetzen. Dennoch zeigt die Arbeit L.s durchgehend ein hohes Reflexionsniveau und vor allem dies: Die Beschäftigung mit Adorno schärft die theologische Urteilskraft und lenkt von der Sache der Theologie - ,homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator ...’ keinesfalls ab.