Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

195–198

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Pritzke, Frank

Titel/Untertitel:

Rechtfertigungslehre und Christologie. Eine Untersuchung zu ihrem Zusammenhang in der dogmatischen und homiletischen Arbeit und in den Predigten des jungen Iwand.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2002. 428 S. 8 = Neukirchener theologische Dissertationen und Habilitationen, 19. Kart. Euro 49,90. ISBN 3-7887-1654-1.

Rezensent:

Heinrich Assel

Die Interpretation der weithin unbekannten theologisch-religionsphilosophischen Genese Hans Joachim Iwands im Rahmen der Lutherrenaissance enthält drei Schwierigkeiten: 1) Teils aphoristisch-paradoxe, teils aporetisch-negationsdialektische Grundsätze blitzen in Qualifikationstexten auf, doch dieses theologische "Feuer" (Karl Barth über die Erstbegegnung mit Iwand im Jahr 1924) ist ex post auf einen möglichen konsistenten dogmatischen Begründungszusammenhang hin zu analysieren. 2) Die Probe auf die Triftigkeit der Analyse ist die Erklärung, warum Iwand selbst nie einen solchen dogmatischen Ansatz seiner Theologie (im Sinne regulärer Dogmatik) zur Darstellung brachte, warum sich Iwands uvre also textpragmatisch so charakteristisch differenziert in christologisch-rechtfertigungstheologische Traktate und theologiehistorische Diskursanalysen, in Predigtmeditationen und Predigten bzw. Kasu- alreden sowie in politische Reden und theologisch-politische Worte. 3) Schließlich müssen Wirkungsaspekte und Zuschreibungsklischees des späten Iwand, die eher Diskussionslagen der 60er und 70er Jahre widerspiegeln, für die Interpretation des jungen Iwand abgeblendet werden, zumal erst seit Mitte der 90er Jahre der gesamte Textbestand des publizierten und unpublizierten Werks zuverlässig erschlossen ist. Die noch unter Manfred Josuttis' Ägide verfasste Göttinger Dissertation F. Pritzkes wird diesen drei Anforderungen gerecht. Sie macht das Problem, den zugleich dogmatischen und genuin praktischen Charakter der Iwandschen Theologie, selbst zur heuristischen Ausgangshypothese: "Wie die Rechtfertigungslehre in der Wahrheit der Christologie ihren Grund hat, so muß sie auf die Wirklichkeit des sündigen Menschen bezogen sein. Es wird sich im Verlauf dieser Arbeit zeigen, daß die christologisch bestimmte Rechtfertigungslehre bei Iwand präzisiert wird in einer Lehre von Gesetz und Evangelium, die deren pneumatologisch bestimmter Unterscheidung den Ort der Predigt zuweist" (14). Durchgeführt wird dieses Doppelthema in zwei Stufen, wobei die werkgenetischen Zäsuren (1924-1930, 1930-1937) akribischer als üblich begründet werden:

Die unpublizierten religionsphilosophischen Arbeiten der frühen Jahre fragen nach der wirklichkeitserschließenden Zeitlichkeit des Selbst im Glauben (27-75, vgl. 123-134). Dies führt auf das Faktum der Religion: "Unser Denken [sc. des intendierten Absoluten] geht in Betrachtung [sc. des kritisch-gegebenen Absoluten] über, in die Anschauung eines Willensverhältnisses, welches es hier vor aller Erfahrung vorfindet. Dabei befinden wir uns in vollständiger Passivität bei vollster Aktivität" (73 f., mit Zitat Iwand). In der Anschauung apriorisch-negativer, nichtwollender (nicht nur: nichtswollender) Willenskorrelation des Absoluten zu verharren, sei Religionsphilosophie. Solche Religionsphilosophie beharrt zwischen Röm 7,24 und Röm 7,25 ff. Iwand ist Mitte der 20er Jahre der zeitgenössischen Schleiermacher-Renaissance ebenso verpflichtet wie der Lutherrenaissance. Sie bildet den Entdeckungshorizont der publizierten rechtfertigungstheologischen Arbeiten der Jahre 1926-1930 (76-122.135-149). Unverkennbar charakteristisch sind diese Arbeiten Iwands, weil sie den Umschlag zwischen Anschauen (Erleben des bestimmt Negativen) und Glauben (Erkenntnis als Sünder vor Gott), zwischen religiösem Erlebnis und Rechtfertigungsurteil, zwischen Röm 7,24 und Röm 7,25a als Umschlag der Symbolisation thematisieren. Die fides iustificans symbolisiert ihren Grund dogmatisch-christologisch, sie ist fides Jesu Christi. Das Selbstverhältnis des Glaubens und die Christusrelation sind im Ansatz personontologisch-relational zu bestimmen, christologisch als Sein außerhalb seiner Selbst und in Christus und anthropologisch durch den Satz von der Willensun- freiheit als grundlegendes Existentialurteil des Glaubens. Iwand interpretiert gerade die dogmatisch-christologischen Sätze Luthers so, dass der dogmatische Begriff lebendig wird und die gegenwendige Bewegung des Rechfertigungsereignisses darstellt: Der Bewegung göttlicher Verheißungskondeszendenz in der Christusgeschichte korreliert die menschliche Selbsterkenntnis als Leben im Geist aus gegenständlich erkannter Sünde; der übergeschichtlichen fides Christi korrelieren person- und individualitätsbestimmende Gleichzeitigkeiten der fides iustificans (iustus et peccator) (113-121). Hier liege aber auch die Schranke des frühen Iwand: Iwands Affinität zur frühen Demutstheologie Luthers (so der Vf. im Anschluss an E. Bizer und O. Bayer) korrespondiere eine Rechtfertigungstheologie, die noch Züge einer christologischen Konstitutionstheorie existierender Subjektivität trage. "Dem Interesse an der Konstitution des christlichen Subjektes korrespondiert also durchaus ein Wortverständnis. Aber es ist nicht orientiert am gepredigten Wort als Gnadenmittel, vielmehr ist Christus selbst das Wort" (208 f.). Die frühen Predigten Iwands werden daher als Beispiele indirekter Existenzmitteilung analysiert (vgl. 186, Anm. 64); ihnen ermangle die performative Sprachform der promissio und assertio, weil die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium noch unterbestimmt sei (150-218, vor allem 151.178.194 f.).

Dies ändert sich ab 1930. Iwand begreift "die Predigt als denjenigen Ort", "an dem sich Gottes geschichtliche Erwählung, von der der Satz vom unfreien Willen redet, vollzieht. Das würde bedeuten, den worthaften Christus im Wort der Predigt gegenwärtig zu finden. Dies wiederum ist ... nur möglich in einer christologischen Ausarbeitung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium", die Sprechakt und Wortereignis der Predigt ins Zentrum des Reformatorischen stelle (209). Diese Interpretationsperspektive wird durchgeführt an Schlüsseltexten von 1930-1935 (219-233) und an den großen Vorlesungen der Jahre 1937 "Gesetz und Evangelium" und "Bloestauer Homiletik" (233-332). Die Wort-Theologie wird sprachtheoretisch präzisiert: Der Glaube versteht Gottes Wort in bestimmten menschlichen Sprechakten (z. B. der Predigt), indem er Gottes Wort von ihnen unterscheidet, und zwar auf Grund immer noch größerer Kondeszendenz Gottes im noch so menschlichen Wort, nicht auf Grund immer noch größerer innertrinitarisch-apriorischer Transzendenz (Differenz zu Barth!). Glaube ist Anerkennung der christologisch bestimmten Menschlichkeit und Niedrigkeit Gottes im Wort. Er rechtfertigt Gott in seinem Wort, sofern er in ihm das aller Anerkennung zuvorkommende und sie begründende für euch des gekreuzigten Christus als für sich gültig erkennt. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium expliziert, inwiefern der Glaube die Kondeszendenz des Wortes zu lernen hat. Unfrei zur Endlichkeit fragt er darüber hinaus nach dem verborgenen Gott der Erwählung. Das Gesetz klagt die Rückkehr zum Wort des in Christus offenbaren Gottes ein. Dieses rechtfertigungstheologisch-zeitliche und versöhnungstheologisch-geschichtliche Sein des Selbst im Glauben durch Gesetz und Evangelium sei pneumatologisch zu beschreiben, nicht mehr subjektivitätstheoretisch. "Im Primat des Geistes vor dem neuen Menschen kommt der Primat des Wortes vor der Existenz zum Ziel." (275)

Hinsichtlich der Explikation dieses Übergangs von Subjektivitätstheorie zu pneumatologischer Personontologie - eine Nagelprobe der Iwand-Interpretation - bleiben allerdings Fragen offen. Abgrenzung von der Subjektivitätstheologie ist noch nicht Begriff des Neuen, also Begriff der relationsontologischen Person-im-Geist (vor allem 262 f.). Im Gegenzug vereindeutigt P. das Wort- und Predigt-Verständnis der Bloestauer Homiletik auf ein bestimmtes sakramentales bzw. performatives Verständnis der göttlichen Zusage (promissio) und des homiletischen Zuspruchs (assertio) (230.301). Diese lässt sich eingestandenermaßen in Iwands Homiletik und den Predigten dieser Jahre (333- 368) aber nicht dingfest machen (350). Die Leistung der Arbeit P.s besteht also darin, dass sie auf gesicherter Quellenbasis durch textnahe Interpretationen den eigenständigen Charakter der Iwandschen Wort-Theologie, deren Genese und deren Schlüsselfragen überzeugend offen legt. Darin ist sie ein Musterbeispiel neuerer Iwand-Interpretation. Sie stößt dort an eine Grenze, wo Iwand dem Interpreten abverlangt, ihn besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, genauer: wo Abbrüche in Iwands Texten zur Arbeit am personontologischen oder worttheologischen Begriff über die Texte hinaus nötigen. Eine der Schlüsselthesen der vorliegenden Untersuchung lautet, dass Iwands Genus der Predigtmeditation theologische Erkenntnis in statu nascendi (378) biete - und vom Leser verlange. Im übertragenen Sinn ist dies jene crux interpretum, der sich P.s Arbeit auf hervorragende Weise widmet - und unter die sie sich eingestandenermaßen selbst stellt.