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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

51–53

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

1) Becher, Werner 2) Bindemann, Walter

Titel/Untertitel:

1) Deutsche als Ausländer in der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Schottland. M. e. Geleitwort v. Kirchenpräsident Prof. Dr. P. Steinacker u. e. Beitrag v. Bischof i. R. D. Dr. H. J. Held: "Die Auslandsarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland im Wandel der Zeiten". 2) Doch die Wurzeln liegen in Deutschland. Erfahrungen und Erinnerungen Deutscher in Großbritannien.

Verlag:

1) Frankfurt a. M.: Lembeck 2000. 224 S. m. zahlr. Abb. gr.8. Kart. Euro 19,00. ISBN 3-87476-361-7. 2) Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000. 263 S. 8. Kart. Euro 16,80. ISBN 3-374-01802-5.

Rezensent:

Hermann Göckenjan

Wer sich für evangelische Gemeinden deutscher Sprache im Ausland und für die Menschen interessiert, die sie tragen und prägen, in ihnen Rückhalt haben oder zu ihnen nur losen Kontakt pflegen, findet in beiden Büchern am Beispiel Großbritanniens interessantes Anschauungsmaterial.

Walter Bindemann hat Gespräche mit Menschen aufgezeichnet, die in Großbritannien leben, deren Wurzeln aber in Deutschland liegen. Sie sind entweder selbst von Deutschland nach Großbritannien eingewandert oder sie sind Nachkommen von deutschen Einwanderern nach Großbritannien. Sie pflegen ihr deutsches Erbe und sind Mitglieder einer deutschsprachigen evangelischen Gemeinde oder halten Kontakt zu ihr. Im Zentrum der Gespräche stehen "Erfahrungen und Erinnerungen", die mit dem Verlassen Deutschlands und der Einwanderung nach Großbritannien zusammenhängen. Bindemann hat die Aufzeichnungen in fünf Kapiteln nach zeitgeschichtlichen Phasen geordnet, in denen die Übersiedlung nach Großbritannien erfolgte: Kap. 1: Zeit vor dem 1. Weltkrieg; Kap. 2: Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland; Kap. 3: Ende des 2. Weltkrieges; Kap. 4: Bundesrepublik Deutschland; in Kap. 5 geht es um Gespräche mit Deutschen, die nicht nach Großbritannien eingewandert sind, sondern auf Zeit dort leben und arbeiten.

In einem abschließenden "Selbstinterview" (Kap. 6) erläutert Bindemann anhand der Gesprächsnotizen Sinn und Zweck des Unternehmens und bietet eine Zusammenfassung dessen, was in den Interviews zur Sprache kommt. Dabei beschreibt er auch, wie er seine eigene Rolle als Interviewer und Heraus-geber der Gesprächsaufzeichnungen verstanden habe. Er habe "dem Gedächtnis Geburtshilfe leisten" wollen.

Die erzählten Migrantenschicksale sind alle bestimmt von den Umständen, unter denen sie sich ergeben haben. Wer vor dem 1. Weltkrieg selber ausgewandert ist, hat andere Erfahrungen gemacht als derjenige, der der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime entkam, oder als derjenige, der nach dem 2. Weltkrieg im Anschluss an seine Kriegsgefangenschaft in Großbritannien blieb, oder als diejenige, die in Deutschland einen britischen Soldaten kennen und lieben gelernt hat und ihm als Lebensgefährtin in dessen Heimat gefolgt ist. Je nach "Einwanderungswelle" lassen sich die Einzelschicksale und die damit zusammenhängenden Einstellungen dem Gastland gegenüber durchaus typisieren. Was hier zur Sprache kommt, ließe sich in ganz ähnlicher Weise aus Gesprächen in deutschsprachigen Auslandsgemeinden in anderen (europäischen) Ländern zusammentragen. Der Rez., der Anfang der 70er Jahre selbst in Schweden Auslandspfarrer war, wurde bei der Lektüre dieses Buches an seine damaligen Erfahrungen erinnert.

In dem Buch von Werner Becher findet sich eine Ansammlung ganz unterschiedlicher Materialien, die mit seiner Tätigkeit als Auslandspfarrer in Glasgow in den 60er Jahren in Zusammenhang stehen. Da findet man neben eigenen Texten fotokopierte Seiten aus Bechers Gästebuch, Berichte von Besuchern oder Besuchergruppen in Glasgow, Predigten und Gebete von Martin Niemöller in seiner eigenen - gestochen klaren - Handschrift, Dokumente zur Geschichte der Deutschen Gemeinde aus der Zeit bis zum 1. Weltkrieg, Fotos aus dem Leben der Gemeinde etc. Heinz Joachim Held hat einen ausführlichen Artikel über "Die Auslandsarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland im Wandel der Zeiten" beigesteuert, der den Abschluss bildet. Vom Kirchenpräsidenten der hessen-nassauischen Kirche, Peter Steinacker, stammt das Geleitwort.

Diese Materialsammlung vermittelt einen Eindruck davon, in welcher Situation sich eine deutschsprachige evangelische Gemeinde und ihr Pfarrer knapp 20 Jahre nach dem 2. Weltkrieg in einem Land befanden, das zu den Kriegsgegnern Deutschlands gehört hatte, und wie sich Pfarrer und Gemeinde den Herausforderungen zu stellen versuchten. Deutsche Auslandsgemeinden verstanden sich meist als Brückenbauer über die tiefen Gräben hinweg, die das Naziregime und der 2. Weltkrieg hinterlassen hatten. Sie wurden dabei vom Kirchlichen Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland tatkräftig unterstützt.

Im Blick auf deutsche evangelische Auslandsgemeinden grassiert oft das Vorurteil, sie seien nichts anderes als christlich verbrämte Heimatvereine, die Deutsche im Ausland eher daran hindern, im Gastland heimisch zu werden, als ihnen dabei zu helfen. Beide Bücher machen deutlich, dass dies weder in den Jahren bald nach dem 2. Weltkrieg noch in unseren Tagen der Wirklichkeit entspricht. Darin liegt bei manchen Beschränkungen (bei Bindemann hätte manches Interview ohne Substanzverlust gekürzt werden können; die sehr disparaten Materialien bei Becher sind auch in ihrer Aussagekraft sehr unterschiedlich) ihr Verdienst.