Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1351–1354

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Preul, Reiner

Titel/Untertitel:

So wahr mir Gott helfe! Religion in der modernen Gesellschaft.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. 208 S. 8. Kart. Euro 19,90. ISBN 3-534-14303-5.

Rezensent:

Isolde Karle

Reiner Preul widmet sich in seiner Schrift der viel diskutierten Frage, welche Bedeutung Religion für die moderne Gesellschaft hat. Bemerkenswerterweise zielt P. dabei nicht vorrangig auf privatisierte und außerkirchliche Phänomene des Religiösen ab, wie es in der Praktischen Theologie der Gegenwart üblich geworden ist. Er beteiligt sich auch nicht an der verbreiteten Abwertung kirchlicher Religiosität und ihrer vermeintlichen Abständigkeit, sondern versucht sensibel die Chancen öffentlich kommunizierten Glaubens, der ohne institutionellen Rahmen nicht existieren kann, für die moderne Gesellschaft auszuloten. Denn: "Nur weil und solange es die Kirchen gibt als anerkannte Sachwalter des christlichen Glaubens und der christlichen Lehre, hat dieser Glaube überhaupt die Möglichkeit, sich öffentlich zu Gehör zu bringen und am Diskurs über alle die Gesellschaft betreffenden Fragen teilzunehmen." (13) Die Bedeutung von Religion für die Gesellschaft steht damit im Mittelpunkt, zugleich wird die Frage nach der Relevanz von Religion für das einzelne Individuum aber keineswegs marginalisiert.

P.s Grundthese lautet im Anschluss an Niklas Luhmann: Es mag religionslose Menschen geben, aber definitiv keine religionslosen Gesellschaften. Doch was ist mit Religion gemeint? Im Anschluss an Schleiermacher, Tillich und Scheler definiert P. Religion als eine Kommunikation, in der "das Verhältnis des transzendenten Grundes zur Welt und zum Menschen in bestimmter Weise symbolisiert" (25) wird. Nicht jede Art der Sinngebung der Welt ist demnach religiös. Ist der Bezug zur Transzendenz und damit auf Gott oder Götter nicht gegeben, handelt es sich um eine Weltanschauung oder um Pseudoreligion, nicht aber um Religion. Religion "bildet einen Kult aus, sie äußert sich in spezifischen Formen von praxis pietatis, sie verfasst und interpretiert religiöse Texte, und sie formuliert ethische Wertvorstellungen und Prinzipien." (27) Dementsprechend ist nicht alles als religiös zu qualifizieren, was mit religiösen Versatzstücken operiert oder auch pseudoreligiös "das Gefühlsmoment des unbedingten Angegangenseins" (32) auf innerweltliche Instanzen und Phänomene überträgt. Das Religionssystem operiert mit dem Code "Transzendenz/Immanenz", wie P. später im Anschluss an Luhmann präzisiert (122), d. h. religiöse Kommunikation ist immer dadurch kenntlich, dass sie alles immanent Erlebte auf eine transzendente Größe bezieht und von dort her betrachtet und deutet.

Nach diesen Begriffsklärungen zu Beginn wendet sich P. der Analyse der modernen Gesellschaft zu. Er folgt dabei gängigen Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft als einer mobilen, leistungs- und erlebnisorientierten, durch die Massenmedien bestimmten, individualisierten und pluralisierten Risikogesellschaft (36-75). Diesem Kapitel hätte man etwas mehr theoretische Stringenz gewünscht, es werden sehr unterschiedliche Theoriebausteine addiert, ohne nach ihrer inneren Kohärenz zu fragen. Gleichwohl gelingt es P., die Paradoxien und Ambivalenzen moderner Individualität treffend zu beschreiben. Er zeigt, wie die nicht mehr ständisch, sondern funktional differenzierte Gesellschaft unrealistische Wunsch- und Freiheitsträume produziert, die zwangsläufig zu Enttäuschungs- und Ohnmachtserfahrungen und zu narzisstischen Kränkungen als Massenphänomen führen (40). Er beschreibt die Paradoxien des Zwangs zur Selbstdarstellung (des wohl dosierten Eigenlobs) und die Probleme religiöser Rede von Verheißung, Hoffnung und Geduld in einer Gesellschaft, die ganz und gar auf diesseitige Glückserfüllung fixiert ist (45). Er geht den Auswirkungen der Medienkultur auf die Religion nach und versucht im Anschluss an Luhmann und Dinkel gleichzeitig, auf die besonderen Chancen der Kommunikation unter Anwesenden für die religiöse Kommunikation hinzuweisen (54 f.).

Die Analyse der Gesellschaft führt die Herausforderungen vor Augen, denen sich Religion und Kirche heute zu stellen haben (72 ff.). Angesichts der Brüche in modernen Biographieverläufen betont P. die stabilisierende Funktion der Praxis kirchlicher Amtshandlungen (72). Denn gerade an den Bruchstellen der Biographie, dort, "wo eine Umstellung auf neue Bedingungen unausweichlich ist und entsprechende Verunsicherung und Reflexivität entstehen, erweisen sich die Individuen auch als religiös ansprechbar bzw. kreativ." (125) Durch eine sensible Biographiehilfe kann seelsorgerliche Kommunikation zur Distanz gegenüber kommerzieller Manipulation und medial verbreiteten Stereotypen verhelfen. P. insistiert ferner auf einer kirchlichen Verkündigung, die sich als Auslegung von Freiheit versteht, einer Freiheit, die sich nicht naiv als Enttraditionalisierungsprozess begreift, sondern von vornherein sozial strukturiert ist.

Im 4. Kapitel wendet sich P. der ganzen Bandbreite religiöser Erscheinungsformen in der modernen Gesellschaft zu: den großen Kirchen, dem Fundamentalismus, individualisierter und privatisierter Religion, der Jugendkultur, dem Okkultismus, Satanismus, New Age und der Religion in den Medien. Hier wird das eingangs entfaltete Begriffsinstrumentarium angewendet und vor allem auf außerkirchliche religiöse Erscheinungsformen bezogen. Originell ist das Kapitel über die Kirchen, weil P. dort der weit verbreiteten Verfallssemantik entgegentritt, ohne die kirchlichen Krisensymptome, insbesondere in Ostdeutschland, zu negieren. Aber: "Die Rede von der großen Krise der Kirche [...] ist völlig ungeeignet, die Lage der Kirchen tatsächlich zu erfassen. Verglichen mit der Situation der Kirchen im so genannten Dritten Reich erscheint sie als maßlose Dramatisierung. Sie ist nicht nur objektiv-historisch unrichtig, sie erweist sich auch für die Gegenwart und die Lösung der tatsächlichen Probleme der Kirchen als fatal. Wenn schließlich alle nur noch von der Krise der Kirche reden, dann hat sie tatsächlich eine, eben in Gestalt dieses Bewusstseins und seiner nicht mehr beherrschbaren Folgen." (79) P. weist demgegenüber auf gegenläufige Entwicklungen, auf das hohe Ansehen des Pfarrberufs, auf die Erwartungen der Kirchenmitglieder, die sich zum größten Teil auf die spezifischen Aufgaben der Kirchen beziehen, und auf die Freiwilligkeit der Kirchenmitgliedschaft und ihre Chancen hin. Außerdem sehen sich die Kirchen einer großen Konkurrenz anderer Sinnanbieter gegenüber. Gerade dies sollte die Kirchen provozieren, mit einem qualifizierten und profilierten Angebot auf den Markt zu gehen und sich nicht blind der Bedürfnisorientierung zu verschreiben, denn: Die Kirche "kann nicht beschließen, etwas anderes als das Evangelium [...] zu verkündigen, weil das etwa besser ankäme, der Nachfragelage besser entspräche." (87)

Kapitel V wendet sich schließlich der Hauptfrage nach der Funktion von Religion für die moderne Gesellschaft zu. Hier überrascht zunächst der inkonsistent wirkende Bezug auf die anthropologisch bestimmte Gesellschaftstheorie von E. Herms (126 ff.), die, anders als die über weite Strecken faktisch favorisierte soziologische Differenzierungstheorie Luhmanns, den Handlungs-, nicht den Kommunikationsbegriff ins Zentrum der Argumentation stellt und im Übrigen nicht so trennscharf wie Luhmann und P. selbst (s. o.) zwischen Religion und Weltanschauung zu differenzieren weiß. Vermutlich wäre auch P.s Anliegen, die Notwendigkeit von Religion für die Gesamtgesellschaft, nicht nur für einzelne Individuen, aufzuzeigen, mit Luhmanns Religionstheorie besser gedient gewesen. Ein gewisses Schwanken zwischen soziologischer Differenzierungstheorie und anthropologischer Handlungstheorie lässt sich bei P. immer mal wieder beobachten, z. B. auch im Hinblick auf die Autonomie der Funktionssysteme, die manchmal schlicht vorausgesetzt und an anderer Stelle zugleich negiert wird (vgl. 36.61.125 f.). Doch nun zum eigentlichen Gang der Argumentation:

P. betrachtet wie Luhmann die Ausdifferenzierung der Religion nicht als Verlust, sondern als Bedingung ihrer gesamtgesellschaftlichen Funktionalität (132). So bedarf jede Gesellschaft der Pflege ihres kulturellen Gedächtnisses. Diese Pflege kann nicht einer individuellen und zufälligen Erinnerungskultur überlassen werden, sondern bedarf der Institutionalisierung und dabei nicht zuletzt des Gottesdienstes, der das Ungleichzeitige gleichzeitig werden lässt (132 f.). Nur die organisierte Religion kann ein differenziertes Reflexionssystem entwickeln, das dem Erhalt, aber auch der Fortentwicklung des kulturellen Gedächtnisses dient und professionelles Personal für dessen Pflege ausbildet. Nur als organisierte Religion ist Religion in der modernen Welt öffentlich wahrnehmbar und wirksam (134).

Eine besondere Herausforderung sieht P. in der qualifizierten Beteiligung von Kirche und Theologie an gesamtgesellschaftlichen ethischen Diskursen, die das Menschenbild, die Menschenwürde und Gerechtigkeitsfragen tangieren. Er stellt dabei nicht in Abrede, dass es so etwas wie einen unterstellten zivilreligiösen Konsens gibt, betont aber, Luhmann folgend, dass nur teilsystemspezifisch ein ausgeprägtes religiöses Bewusstsein entwickelt werden könne (148). Entscheidend ist für P., bei politischen und ethischen Diskursen das Spezifikum christlicher Theologie deutlich zu machen (168 f.). Allerdings gibt es gerade bei sozialethischen Fragen auch einen innerkirchlichen Pluralismus, der massenmedial nicht leicht zu vermitteln ist.

Das letzte Kapitel widmet sich unter der Leitdifferenz interne/externe Kommunikation den unterschiedlichen Ebenen religiöser Kommunikation. P. hebt hervor, dass religiöse Kommunikation auf allen Ebenen zu pflegen sei: auf der Ebene privaten Lebens, in eingeschränkten Öffentlichkeiten wie in Gottesdiensten und auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Dabei ist die Pflege der Binnenkommunikation wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Kommunikation des Religionssystems mit seiner sozialen Umwelt (153). Ohne eine differenzierte Kommunikation mit der biblischen Überlieferung und der theologischen Tradition "würde die evangelische Kirche sich in ein individualistisches Chaos auflösen. Sie würde ihrer Identität, ihres geistlichen Profils und ihrer Kenntlichkeit in der Welt der Religionen verlustig gehen. Daher kommt den traditionellen Formen kirchlicher Kommunikation [...] nach wie vor hohe Bedeutung zu." (155) Es versteht sich für P. dabei von selbst, dass sich die Kommunikation des Evangeliums konkret auf die Selbstbestimmungsmöglichkeiten und -zwänge gegenwärtiger Biographien zu beziehen hat.

Das Buch ist insgesamt ein pointierter, mutiger und erfreulicher Beitrag zu einem populären Thema mit realistischem Bezug auf die Bedeutung kirchlicher Religiosität für die moderne Gesellschaft, ohne die außerkirchliche Religiosität zu vernachlässigen. Es enthält viele weiterführende und provozierende Beobachtungen, die zur weiteren Diskussion anregen.