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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1334–1337

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Menke, Karl-Heinz

Titel/Untertitel:

Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2003. 237 S. gr.8. Geb. Euro 24,90. ISBN 3-7917-1729-4.

Rezensent:

Michael Schulz

In der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre vom 31.10.1999 kommt im Artikel 18 die heftig diskutierte kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre zur Sprache. Als entscheidendes Kriterium des Christseins soll nach lutherischer Auffassung der articulus iustificationis fungieren. K.-H. Menke, Professor für katholische Dogmatik und Theologische Propädeutik in Bonn, stimmt dieser Auffassung zu: vorausgesetzt, man verstehe die Rechtfertigungslehre nicht im Sinn eines "Systemgedankens", sondern als "Wegweisung" (Gerhard Sauter), durch die alles theologische Denken "dem in Christus wahrnehmbaren Handeln Gottes unterstellt" wird (153). Das Stichwort Gnade - so M. im Vorwort - bringe "das von Christus ... geoffenbarte und ermöglichte Verhältnis von Gott und Mensch" zur Sprache und folglich "den Kern aller Theologie". Demnach ist die Gnaden- bzw. Rechtfertigungslehre "das Kriterium des Christseins" (7) und in diesem Sinn durchaus, wie M. Luther sagt, "Lehrer und Führer, Hausherr, Lenker und Richter über alle Arten christlicher Lehre" (153).

M.s gnadentheologischer Grundriss lebt von dieser ökumenischen Orientierung. Gleichzeitig setzt er auf eine Befreiung der Gnadenlehre vom Augustinismus (freilich nicht von Augustinus): Das von Christus ermöglichte Verhältnis von Gott und Mensch degradiere den Menschen nicht augustinistisch zum bloßen passiven Objekt der Erlösung, sondern setze ihn auch als Subjekt der Erlösung ein, das das sola gratia Geschenkte aktiv hervorbringen kann und weitergeben soll; auf diese Weise zeige sich die Annahme der Gnade. Ob diese Position auch evangelisch sein kann, beansprucht der katholische Vf. nicht zu entscheiden; er beansprucht allerdings, eine evangeliumsgemäße Gnadenlehre vorzulegen. Denn die jüngere Forschung initiiere eine "radikale Revision der augustinischen Paulus-Exegese" (65-75), sekundiert durch den jüdisch-christlichen Dialog. Für evangelische wie katholische Exegeten zeichne sich im Licht der deuteronomischen Toratheologie ab, dass die jüdische Tora von Paulus - aber auch von Pelagius - als Gnade verstanden wird. Gesetz und Evangelium bilden keinen abstrakten Gegensatz mit antijüdischer Zuspitzung. Das Gesetz sei Gnade und Leben für denjenigen, der es nicht als Sünder egomanisch zur Selbstrechtfertigung missbraucht, sondern danach lebt. M. verweist auf Paulus, der denjenigen verflucht, der nicht nach dem Gesetz lebt (Gal 3,10b = Dtn 27,26; vgl. Röm 2,13; 10,5). Verflucht seien die Werke des Gesetzes unter der Voraussetzung, dass sie der Selbstrechtfertigung und somit der Sünde dienen. Das Tun des Gesetzes muss Antwort auf die allein rechtfertigende Gnade Christi sein - das habe Paulus vor Damaskus erkannt. Durch das Tun des Gesetzes, das keine Antwort auf die Gnade ist, werde man nicht gerecht.

Diesen exegetischen Einsichten entnimmt M. zuerst die Untrennbarkeit von Gnadenlehre und Christologie, die jedoch weder von Augustinus noch von der neuthomistischen katholischen Theologie durchgehalten worden sei. Pelagius habe hingegen im Kontext des umfassenden Paideia-Gedankens Christus als Exemplum vorgestellt, das gnadenhaft mit dem Menschen zusammen bewirke, worauf es verweise. In der Theologie des Augustinus, der den griechischen Denkhorizont des Pelagius nicht nachvollzog, werde die Gnade vor allem als ein ungeschichtliches, eher okkasionell mit dem Christusereignis konvergierendes, pneumatisches Handeln Gottes im Inneren des Menschen aufgefasst. Diese "Christusvergessenheit" der Gnadenlehre habe ausgestrahlt, z. B. auch auf die Neuscholastik- ein Defizit, das Karl Rahner zu überwinden versuchte. Weiterhin zeige die Exegese, dass eine prädestinatorische Vorstellung unpaulinisch sei, nach der Gottes Handeln am Sünder ohne und gegen diesen geschehe. Bevor M. auf diese exegetische Diskussion am Ende des 1. Kapitels (24-75) eingeht, hat er bereits die Gnadentheologie von Augustinus und Pelagius erörtert, so dass der Leser die dogmatische Brisanz der neueren Paulus-Forschung abzuschätzen vermag. Lange Zitate aus den Confessiones ebnen dem Studierenden den Anweg in die existentiell dimensionierte Gnadenlehre des Augustinus. Deren endgültige, zugespitzte Gestalt - vor allem der Agustinismus der Agustinus-Schüler - lasse für ein durch die Gnade ermöglichtes Kooperieren des Menschen mit Gottes Heilshandeln keinen Platz mehr. Während die Synode von Karthago (418) den Menschen als cooperator gratiae begreife, führe das Zweite Konzil von Orange (529) alles Agieren des Menschen in Konformität mit dem Heilswillen Gottes auf den Willen und das Agieren Gottes zurück; der Mensch erscheine demnach als passives Objekt der Gnade.

Im 2. Kapitel (76-155) zeichnet M. den Weg von der augustinischen Gnaden- zur lutherischen Rechtfertigungslehre nach. M. präsentiert Hrabanus Maurus als Initiator einer im Mittelalter maßgeblich werdenden Gegenposition zu Augustinus: Gute Taten dienten als Ausweis der angenommenen Gnade; sie avancierten damit zum Kriterium des Christseins. Die Konzeption des Anselm von Canterbury werde von der augustinischen Vorstellung gekennzeichnet, nach der der Sünder unfähig sei, sein grundsätzlich vorhandenes Vermögen zur sittlichen Gutheit (rectitudo) zu aktuieren. M. schließt sich O. H. Peschs Deutung der Gnadentheologie des Thomas von Aquin an, der zufolge in der Summa theologiae versucht werde, "in Treue zu Augustinus den Augustinismus zu überwinden" (91). So sei für Thomas Gnade immer die Gnade Christi (99). Die Annahme der von der Sünde befreienden, rechtfertigenden und heiligenden Gnade (gratia gratum faciens) manifestiere sich in der Annahme einer Berufung (gratia gratis data), "auf je eigene Weise Gnade sein zu wollen für die anderen Brüder und Schwestern" (102). Die frei gewährte Gnade setze den gerechtfertigten Menschen mithin ein in ein Mitwirken mit Gott. So aber verwirkliche der Christ sein Kirchesein. Kirchesein sei Annahme der Gnade für sich, indem man sie für andere annimmt und ihnen vermittelt. Daran lasse sich der inkarnatorische Charakter der Gnade ablesen (104). Die gratia creata und die habituelle Gnade seien in diesem Zusammenhang nicht als sachhafte Ausrüstung des Menschen misszuverstehen. Die Gnade sei zuerst Gottes Verhalten (gratia increata) zum Menschen, das in ihm ankommt, sich auswirkt und ihm innerlich wird. Dabei bleibe die ungeschaffene Gnade ein äußeres Prinzip. Erst im Spätmittelalter wachse die Gefahr, die Gnade als habituellen Besitz zu verstehen, der allein die göttliche acceptatio - der potentia Dei ordinata nach - garantiere. Die reformatorische Kritik finde hier ihren Bezugspunkt. Zu Recht wende sich M. Luther auch gegen die nominalistische Vorstellung, dass der Mensch die Gnade nur deshalb zur Erfüllung der Gebote brauche, weil es Gott so festgesetzt habe, an sich verhalte es sich aber nicht so (114). M. zeigt, dass Luther sehr wohl ein Mitwirken des Gerechtfertigten mit der empfangenen Gnadengabe kenne, zwar nicht im Sinn einer Ergänzung oder des Synergismus, sondern "im Sinn eines Handelns aus dem Glauben an die von Gott geschenkte Gnade der Rechtfertigung" (115). Mit der Formel von der fides caritate formata sei nach Thomas genau dieser Glaube gemeint, in dem sich der Mensch ganz in Liebe Gott überlässt; es gehe nicht um eine werkhafte Liebe, die den Glauben erst in seiner Heilsrelevanz konstituiert, wovon Luther jedoch in seiner Kritik dieser Formel ausgegangen sei. M. stellt das Konzil von Trient als katholische Reaktion dar, die über weite Strecken Luthers Anliegen entgegenkommt. Trient folge der Lehre des Augustinus; es widerspreche den Anfragen des Erasmus von Rotterdam hinsichtlich der Erbsündenlehre; es ordne den Begriff der Gnade dem der Rechtfertigung unter; es bezeichne nicht die heilig machende Gnade, sondern die Gerechtigkeit Gottes als Formalursache der Rechtfertigung und verstehe unter dieser Gerechtigkeit Christus selbst (DH 1529). Auch die tridentinische Rede von der Rechtfertigung durch Glaube und Liebe ziele zuerst darauf, den Glauben als "ein von der Liebe durchdrungenes Empfangen, also [als] ganzmenschliche Übergabe" (127) zu charakterisieren. Diese gläubige Selbstübergabe an Gott soll sich freilich auch in Werken der Liebe verleiblichen. Da diese Werke nicht nur Ausweis oder Konsequenz des die Rechtfertigung annehmenden Glaubens seien, sondern weil ihnen Trient eine heilskonstitutive Rolle zuschreibe, ergebe sich M. zufolge eine Differenz zum reformatorischen Verständnis der Werke (128). M. untersucht ebenso die ekklesiologischen Konsequenzen dieser Differenz und illustriert beides geschickt anhand der Biographien von M. Luther und Ignatius von Loyola. Hinweise zur weiteren Geschichte der protestantischen Rechtfertigungslehre fehlen nicht, ebenso wenig wie Erläuterungen zur Debatte von K. Barth, E. Brunner und E. Przywara über Glaubens- und Seinsanalogie, Anknüpfungspunkt und die Gnade als perfectio bzw. crux naturae.

Im 3. Kapitel (156-207) führt M. durch die Aporien des innerkatholischen Gnadenstreits, des neuthomistischen Zwei-Stockwerke-Modells und des Problembegriffs der natura pura, aus denen A. Rosmini-Serbati, M. Blondel, H. de Lubac und K. Rahner Auswege zeigen. Darüber hinaus sympathisiert M. mit dem transzendentalen, freiheitsphilosophischem Ansatz von H. Krings und Th. Pröpper, der das Verhältnis von Gnade und Freiheit nicht als "Grund-Folge-Verhältnis", sondern als "ein Bestimmungsverhältnis" denkbar mache (182). Die Gnade sei nicht der Grund, sondern die Bestimmung der menschlichen Freiheit: Diese verdanke sich zwar der Gnade, doch könne die Freiheit ihr auch widerstehen, da die Freiheit von Gott als ein relatives Unbedingtes gesetzt sei. M. räumt ein, dass dieses Zugleich von Gott und Mensch der protestantischen Tradition Probleme bereiten müsse. Andererseits erlaube der Ansatz von Pröpper sogar auf den Gedanken der gratia creata zu verzichten (183). M. formuliert weitere Wegmarken seiner eigenen Position (184-215): Die sich bereits im Alten Testament deutlich abzeichnende geschichtliche Vermittlungsgestalt der Gnade als gratia externa zeige sich ebenso im Leben Jesu, in dem sich der ewige Logos offenbart. Da alles im Logos geschaffen ist, sei auch alles auf seine Inkarnation und Gnade bezogen, weshalb auch durch alles eine universelle, geschichtlich vermittelte Heilsmöglichkeit bestehe. Die bewusste, aber auch die unbewusste Annahme dieser Heilsmöglichkeit verlange indes den Mitvollzug der Inkarnation: ein Engagement für das Heil des Anderen.

Hier verortet M. das Anliegen der Befreiungstheologie. Das Kriterium des Christseins sei die inklusive Stellvertretung. Stellvertretung dürfe jedoch nicht als Ersatz verstanden werden, sondern als Einsatz für den Anderen, damit dieser zu sich komme: Jesus tritt an die Stelle der Sünder, um zur Bestimmung von deren Freiheit zu werden (sola gratia). Inklusiv sei die Stellvertretung, weil sie zugleich Sendung und Bereitschaft zum Mitvollzug der Inkarnation besage. Das Axiom extra ecclesiam nulla salus bedeute: "Die Kirche ist heilsnotwendig - nicht, weil nur ihre Mitglieder gerettet werden, sondern weil sich jede Rettung der Stellvertretung Christi und der von ihr untrennbaren Stellvertretung der Kirche verdankt. ... Wenn der größere Teil der Menschheit gemäß der in 1Tim 2,4 und Tit 2,11 ausgedrückten Hoffnung ohne den Empfang der Taufe zum Heil gelangt, dann nur deshalb, weil die Getauften eine geistgewirkte Communio bilden, die so in die Inkarnation des Sohnes inkludiert ist, dass er durch sie geschichtlich präsent bleibt." (214 f.)

Wer eine Einführung in die Gnadenlehre sucht, die evangeliumsgemäß katholisch und ökumenisch zugleich ist, der sollte diesen konzeptionell innovativen sowie fachlich, sprachlich und didaktisch in jeder Hinsicht gelungenen Grundriss unbedingt zur Hand nehmen. Für den evangelischen Leser ist er sicherlich- im besten Sinne des Wortes - eine anregende Provokation.