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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1291–1293

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schmid, Hansjörg

Titel/Untertitel:

Gegner im 1. Johannesbrief? Zu Konstruktion und Selbstreferenz im johanneischen Sinnsystem.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2002. 335 S. gr.8 = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 159. Kart. Euro 35,00. ISBN 3-17-017599-8.

Rezensent:

Jürgen Becker

Die von L. Oberlinner betreute Dissertation sieht die bisherige Auslegung des 1Joh vor allem von der Frage nach den Gegnern im Brief bestimmt. Allerdings sei diese Frage zugleich die crux interpretationis beim Verständnis des Briefes. Wenn außerdem oftmals die Gegnerfrage zum hermeneutischen Schlüssel für das Gesamtverständnis des Briefes erhoben werde, dann sei daran zu erinnern, dass von ihnen nur 1Joh 2,18-27; 4,1-6 explizit handeln. Kann dann überhaupt der ganze Brief von der Gegnerfrage geprägt sein?

Wer bisher nach den Gegnern fragte, so fasst der Vf. die Forschung vor ihm zusammen, verstand den Text als geschichtliche Quelle, also als "Fenster auf die ihn hervorbringende Gemeindegeschichte" (16). Doch die breit gestreuten Vorschläge zum geschichtlichen Hintergrund lassen fragen, ob man nicht besser mit einem anderen Textverständnis an den 1Joh herangehen sollte. Statt zu fragen: "Was bildet der Text ab?", sollte man fragen: "Wie funktioniert der Text?" (20). Damit ist entschieden, dass der Vf. seine Methode alternativ zu anderen setzt und nicht, wie heute weit verbreitet, als komplementäre Ergänzung in einem Ensemble verschiedener Zugangsweisen ansieht.

Zu Gunsten seiner Fragestellung entwirft der Vf. dann sein hermeneutisches Modell, das den internen Reflexionsprozess des Textes bedenkt und nicht eine gemeindegeschichtliche Rekonstruktion intendiert. Beschrieben werden soll also das System urchristlicher Religiosität als "intertextuelles Konstrukt", das mit N. Luhmann als joh "Sinnsystem" bezeichnet wird (21). In diesem "Intertextualitätsmodell" (29) wird die Gemeinde zu einer "produktionsästhetischen Kategorie" (28).

Die Anwendung dieses Ansatzes auf den 1Joh stünde natürlich vor Problemen, wäre der 1Joh ein Brief und an spezifische Adressaten gerichtet. Denn in diesem Fall besäße er doch ein Fenster zu einer Gemeindegeschichte. Darum liegt dem Vf. alles daran, die Textsorte des 1Joh neu zu definieren. Weil er bekanntlich kein Präskript und kein Postskript besitzt, fehlen ihm in der Tat entscheidende briefliche Merkmale. Darum schlägt der Vf. vor, in ihm "ein schriftlich niedergelegtes Grundlagendokument" zu sehen (46). Statt allerdings diese Textsorte in der Antike nachzuweisen und zu definieren, arbeitet er einfach damit, weil er so durch einen Vorentscheid die Weichen gestellt hat, dass der Brief keinen gemeindegeschichtlichen Hintergrund hat. Was nun den 1Joh betrifft, so zeigt er trotz fehlendem Briefein- und -ausgang dennoch brieftypische Merkmale wie Anreden an die Adressaten, Selbsthinweise des Autors, dass er an ihm bekannte Adressaten schreibt, und Hinweise, dass er ihnen eine spezielle Botschaft übermitteln will (1,1-4; 2,1.12- 14.18.26; 5,13 usw.). Das deutet auf einen Brief. Der Vf. stellt dagegen: "Auch die Operationen, in denen der Text auf die Referenzrolle zurückgreift, also hier konkret auf Gegner, sind selbstreferentielle Operationen, die ... auf das System selbst verweisen" (63). Damit ist de facto vorentschieden, was bei der Exegese herauskommen darf. Sie wird zu einem Fallbeispiel für eine theoretische Konstruktion, zu der die Textsorte des 1Joh stimmig gemacht wurde.

Nach dieser Theoriediskussion widmet sich der Vf. den Gegnertexten (81-204). Zu 1Joh 2,18-27 wird festgehalten, dass der Gegnerkonflikt nur spärlich entfaltet sei. Zwar tauchten die Gegner trotzdem noch als narrativ gestaltete Figuren der Vergangenheit auf. Aber "die Narrativität des Gegnermotivs kann ... als ein Element des Gegnertopos verstanden werden und ist kein Beleg für die reale Existenz der Gegner" (137). Ihre Erwähnung ist nur ein "Exemplum der Negativität" (140), "nur Aufhänger für das Anliegen ..., einen profilierten Zuspruch an die Gemeinde zu artikulieren" (139). Das war als Ergebnis zu erwarten. Natürlich werden dann auch 1Joh 4,1 ff. und andere mögliche Gegnertexte als Verarbeitung "verschiedene[r] denkbare[r] Konfliktpunkte und Krisen" gedeutet (181). Doch dieses Ergebnis überzeugt nicht. Denn der Vf. versäumt es, seinen Lesern verständlich zu machen, warum 1Joh 2,19 nicht wie Apg 20,29-31 (vgl. speziell V. 19 und 1Joh 2,19!) ausformuliert wurde. Er entzieht sich der Aufgabe, zwischen der exemplarisch-"abständigen" Narrativität in Joh 3,12 und der "hautnahen" in 1Joh 2,19 zu unterscheiden. Und er bleibt den Nachweis schuldig, dass solche narrative Gegnereinführung wie in 1Joh 2,19 auch sonst allgemein exemplarisch verwendet wurde, also wirklich topisch funktionalem Gebrauch entspricht.

In Gestalt einer "systemimmanenten Lektüre" geht der Vf. dann den Hauptthemen des 1Joh nach (205-276). Dabei interessieren ihn besonders die interkontextuellen Beziehungen zur Abschiedsrede in Joh 13-17. Diese ist ihm "Schlüssel" für das Verständnis des 1Joh. Dabei fallen abermals Vorentscheide, die auf das Ergebnis direkt durchschlagen: 1. Der Vf. behandelt Joh 13-17 als einheitlichen Text. Eine Auseinandersetzung mit dem verbreiteten Vorschlag, Joh 15-17 als Nachträge anzusehen, die in etwa zeitlich parallel zum 1Joh entstanden, wird nicht geführt. In diesem Fall wäre natürlich die "Geschäftsgrundlage" des Vergleichs eine andere. 2. Der Vf. stellt die Themen Eschatologie und Ethik als diejenigen heraus, die das Gesicht des 1Joh prägen. In sie seien die Gegnertexte als mögliche Beispiele für immer lauernde Gefahren einzuzeichnen. Christologie ist also kein selbständiges Thema im 1Joh. Wie selbstverständlich ausgeklammert bleiben jedoch die Beziehungen des Prologs in 1Joh 1,1-4 zu Joh 1. Dieser Anfang des 1Joh ist eine fulminante christologisch-inkarnatorische Fanfare, die kaum zufällig eingangs des Briefes etabliert wurde. Hier beginnt der Leser und soll für seine Lektüre zugerüstet werden. Warum steht dieser Prolog so und nicht anders am Anfang? Soll er etwa in das dann allerdings aktuelle Problem von 1Joh 2,19 einführen? Ist also doch die Christologie auch ein wesentliches Thema des 1Joh? Solcher Erörterung geht der Vf. einfach aus dem Weg.

So kommt man zu dem Ergebnis, dass der 1Joh wohl doch komplexer ist als der mit viel theoretischem Aufwand vorgestellte Versuch, der zur reduktionistischen Verengung der Textbefragung und der Ergebnisse führt.