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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1283–1286

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Heil, Christoph

Titel/Untertitel:

Lukas und Q. Studien zur lukanischen Redaktion des Spruchevangeliums Q.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. X, 444 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 111. Lw. Euro 98,00. ISBN 3-11-017434-0.

Rezensent:

Jens Schröter

Die Arbeit ist die für den Druck bearbeitete Fassung der Habilitationsschrift von H., einem langjährigen Mitarbeiter am "International Q Project" (= IQP). Ihr Ziel ist, die Verarbeitung von Q in Lk 13,28-22,30 zu beschreiben. Damit bewegt sie sich sowohl auf dem Gebiet der Q- als auch der Lk-Forschung.

Die Thematik wird in drei Schritten entfaltet. Teil "A. Grundlegung" ordnet das Vorhaben forschungsgeschichtlich (synoptische Frage, Verhältnis von Q und EvThom, Bemerkungen zur Lk/Apg-Forschung) und methodisch (Redaktions- und Literaturgeschichte) ein, der umfangreichste Teil "B. Textauslegung" stellt eine detaillierte Analyse der behandelten Texte dar, Teil "C. Ausweitung" befasst sich mit verschiedenen Themen von Q und deren Weiterentwicklung bei Lk (Johannes der Täufer, Gott, Jesus, Gottesherrschaft, Menschensohn, Weisheit, Geist, Israel/Juden, Heiden).

Der Arbeit liegt, bis auf wenige Ausnahmen, der vom IQP erarbeitete und 2000 in der "Critical Edition of Q" vorgestellte Rekonstruktionsvorschlag zu Q zu Grunde, auf dessen Basis die Verarbeitung durch Lukas vorgeführt wird. Die Prämissen der Arbeit sind folglich mit denen des IQP identisch. Der erste Satz "Durch die Arbeit des International Q Project [...] wurde die zweite wichtige schriftliche Quelle des Lukas - neben Markus - wiederhergestellt" - der für viele freilich eher den Charakter einer kühnen Behauptung denn den einer Tatsachenfeststellung haben wird - ist darum auch das Schibboleth, an dem sich die Geister gleich mehrfach scheiden: Wer der Annahme einer zweiten synoptischen Quelle ungläubig gegenübersteht, wird H.s Studien mit wenig Gewinn lesen. Aber auch unter denen, die der Q-Hypothese etwas abgewinnen können, gibt es notorische Skeptiker, die die Möglichkeiten, Umfang und sprachliche Gestalt des Q-Textes "wiederherzustellen", weniger zuversichtlich einschätzen. Den vorgelegten Studien geht es indes nicht darum, hier Überzeugungsarbeit zu leisten, denn sie gehen von der Existenz von Q in der vom IQP vorgeschlagenen Gestalt aus.

Der Preis dieses Zugangs ist hoch, werden doch etliche Fragen, wie etwa die nach dem Einfluss mündlicher Überlieferung, nach verschiedenen Weiterentwicklungen von Q vor den Rezeptionen durch Mt und Lk oder nach dem keineswegs geklärten Umfang von Q (um nur einiges zu nennen), bereits im Ansatz beiseite geschoben. Der Verweis auf die Arbeit des IQP kann hiervon jedoch nicht exkulpieren, handelt es sich bei einer Habilitationsschrift doch um ein eigenständiges wissenschaftliches Werk, dessen methodische und exegetische Entscheidungen zu klären und darzulegen sind.

Stratigraphiemodellen nach Art von Kloppenborg Verbin folgt H. nicht; auch mit Entwicklungsstufen zwischen Q einerseits, Mt und Lk andererseits möchte er nicht rechnen, obwohl sich hierfür viele Argumente nennen ließen. Dies ist keineswegs belanglos, könnte es doch die Frage, ob Lk den vom IQP vermuteten Text redigiert hat (wenn dieser jemals existierte), in einem anderen Licht erscheinen lassen. Auch die wenigen Bemerkungen zum Verhältnis von Q und EvThom werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Der den entsprechenden Abschnitt beschließenden Formulierung, die Heranziehung des EvThom diene dazu, "sozusagen ein Gefühl für den Q-Text zu entwickeln" (15), steht man einigermaßen ratlos gegenüber.

Die Grundlegung läuft also auf eine streng literarische Handhabung der Zweiquellentheorie hinaus, die als Basis für eine literarkritisch zu erhebende Trennung von Tradition und Redaktion dient und zugleich gegen Alternativmodelle (wie die Proto- Lukas-Hypothese) verteidigt wird. Die synoptische Problematik wird damit auf ein Schema reduziert, das den komplexen Überlieferungsprozessen der Jesustradition kaum gerecht wird.

Bei den Textuntersuchungen werden die in dem genannten Lk-Abschnitt begegnenden Q-Texte zunächst "rekonstruiert", im zweiten Teil wird ihre lk Verarbeitung behandelt. Dabei finden sich interessante Beobachtungen zum sprachlichen, historischen und kulturellen Kontext. Hier liegt die eigentliche Stärke der Arbeit.

Q 13,34 f. (das Gerichtswort über Jerusalem) wird auf Grund eines Vergleiches mit Analogien in jüdischer und paganer Überlieferung als vaticinium ex eventu gedeutet, was zu einer Datierung von Q nach 70 führt. Zu Q 16,18 (dem Wort über die Ehescheidung) werden wichtige Analogien angeführt, die die Einordnung in den sozialen Kontext verdeutlichen. Es wird der galiläische Horizont von Q vorgeführt und der lk Perspektive gegenübergestellt. Derartige Einzelbeobachtungen geben der Untersuchung ihr exegetisches Profil, indem sie dazu verhelfen, die analysierten Texte historisch zu präzisieren. Bemerkenswert ist auch der Abschnitt über die griechischen Sprachebenen in Q 17 und Lk 17. H. ordnet die herausgearbeiteten Stilelemente auf differenzierte Weise der griechischen Sprachentwicklung in hellenistischer Zeit zu und nennt wichtige Beobachtungen zum lk Stil.

Weniger überzeugend ist, dass bis in kleinste Einzelheiten hinein ein Q-Text rekonstruiert werden soll. Die Beobachtungen für lk und mt Redaktion neutralisieren sich dabei oft gegenseitig, so dass die Schlussfolgerung nicht selten lauten müsste, dass die Indizien für die Rekonstruktion eines Mt und Lk identisch vorliegenden Textes nicht ausreichen. Auch der Umgang mit Texten, deren Zugehörigkeit zu Q keineswegs sicher ist, überrascht.

So lassen sich z. B. den Argumenten, die H. gegen eine Zugehörigkeit von Lk 15,8-10 (die verlorene Drachme) zu Q anführt, ohne Schwierigkeiten solche entgegenstellen, die in die entgegensetzte Richtung weisen. Ob sich Einzelworte, die in Q nicht lokalisiert werden können und deren Zugehörigkeit zu Q also unsicher bleibt (wie z. B. Mt 12,11/Lk 14,5; Mt 5,13a/ Lk 14,34), wörtlich rekonstruieren lassen, bleibt fragwürdig. Dass das Gleichnis von den anvertrauten Talenten/Minen ohne weitere Diskussion zu Q gerechnet wird, verwundert. An vielen Stellen lässt sich der Eindruck kaum vermeiden, ein flexibleres Modell, das Einsichten der Mündlichkeitsforschung, sprachliche Variabilität auch im Prozess der schriftlichen Tradierung sowie verschiedene Q-Versionen methodisch berück- sichtigt, würde zu einer überzeugenderen Sicht der lk Traditionsverarbeitung gelangen. Q würde dabei eher als "Idealtyp" einiger bei Mt und Lk aufgenommener Traditionen erscheinen denn als ein in Umfang und Wortlaut rekonstruierbares Dokument. H.s Untersuchungen erwecken nicht selten ungewollt den Eindruck, dass dies eine dem Textbefund wesentlich adäquatere Annahme wäre.

Bei der Erhebung der lk Redaktion wird zumeist darauf geachtet, welche Ausdrücke Lukas "ersetzt", "weggelassen" oder "geändert" habe. Der Ertrag für die lk Theologie wird dagegen oftmals nur angedeutet. Zu kurz kommt auch eine kompositorische Analyse des besprochenen Abschnitts als Teil des LkEv. Für die Beurteilung der Verarbeitung einer Quelle kann hierauf jedoch schwerlich verzichtet werden. Lukas hat seine Quellen und Traditionen in einen übergreifenden erzählerischen und sprachlichen Zusammenhang eingeordnet, der sich von der Gesamtanlage seiner Darstellung her erklärt. Was aus dieser Einsicht im Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Rekonstruktion eines nicht erhaltenen Dokumentes folgt, ist schon deshalb eine wichtige Frage, weil im hier besprochenen Teil die Akoluthie der Q-Texte erheblich von derjenigen bei Mt abweicht, die Verarbeitung also deutlich von der jeweiligen Erzählintention bestimmt wird. Dieses - für H.s Untersuchungen ja nicht eben marginale - Problem, wird nur kurz gestreift (42- 45), jedoch nicht eingehend behandelt.

Besonders auffällig ist dies im Fall des Gleichnisses vom verlorenen Schaf. H. ordnet dies im Q-Kontext ohne detaillierte Begründung zwischen Lk 17,1 f. und 17,3 f. ein und erschließt auf diese Weise einen Q-Komplex, der sich so weder bei Mt noch bei Lk findet. Eine solche Q-Akoluthie ist natürlich denkbar, es wäre jedoch wünschenswert gewesen, die Kompositionsprinzipien von Lk (und Q) gerade in einem solchen Fall eingehender zu behandeln.

Die eher nebenbei fallengelassene Bemerkung, für den Primat der Synchronie müssten "nicht erst Literaturwissenschaft und Kommunikationstheorie" bemüht werden (30), erweist sich somit als etwas voreilig. Die Aufnahme sprachwissenschaftlicher Einsichten in die neutestamentliche Exegese erfolgte ja u. a. deshalb, weil die Analyse der literarischen Gestaltung eines Werkes erst den Blick für die Verarbeitung von Quellen und Traditionen öffnet. Nicht zuletzt die Lk/Apg-Forschung hat hier in den zurückliegenden Jahren zu fruchtbaren Ergebnissen geführt, was bei H. jedoch zu Gunsten einer Literarkritik alten Stils zurücktritt.

Der dritte Teil steuert durch seine thematische Orientierung weitere Facetten zum Profil von Q in seinem Verhältnis zu Lk bei. Lukas erscheint als stilistisch kompetenter hellenistischer Autor, der an einem städtischen Milieu orientiert ist und die Q-Texte aus einer eigenen Perspektive aufgreift. Die in Q enthaltene Jesusüberlieferung wird dabei oftmals neu akzentuiert und zu einem eigenen Jesusbild verarbeitet. Dies herausgearbeitet zu haben, ist zweifellos ein Verdienst von H.s Studien.

Die Arbeit nötigt auch in ihrer sorgfältigen Aufarbeitung der Q- sowie der Lk-Forschung Respekt ab. H. hat sich in alle von ihm angesprochenen Gebiete mit bewundernswerter Gründlichkeit eingearbeitet und bewegt sich stets auf der Höhe der Diskussion. Durch die zahlreichen angesprochenen Themen wird das Profil der Arbeit jedoch durch viele, relativ unverbundene und oftmals nur zwei bis drei Seiten lange Abschnitte geprägt, was mitunter zu Lasten einer erkennbaren Argumentationslinie geht. Die Verarbeitung der bis in neueste Publikationen hinein zur Kenntnis genommenen Forschungsliteratur erfolgt mitunter durch "cento-artig" aneinandergefügte Zitate, wobei nicht immer deutlich wird, warum diesen und nicht anderen Meinungen Folge zu leisten sei.

Das entscheidende Problem liegt jedoch in der Frage, mit welchen methodischen Prämissen die synoptischen Texte analysiert werden. Die Zweiquellentheorie war ursprünglich zur Abwehr der These einer mündlichen Phase der Jesusüberlieferung entwickelt und deshalb in einem ausschließlich literarischen Paradigma konzipiert worden. In dieser Form hat sie sich jedoch als undurchführbar erwiesen und ist schon bald mit einer "gemäßigten" Gestalt der Traditionshypothese kombiniert worden. Die neuere Forschung hat zudem auf das von Mündlichkeit und Schriftlichkeit gleichermaßen geprägte Milieu der frühen Jesusüberlieferung sowie auf eine Variabilität in der Textüberlieferung aufmerksam gemacht. Diese Aspekte stellen die Zweiquellentheorie in einen größeren kultur- und überlieferungsgeschichtlichen Horizont ein und würden wohl letztlich zu einem anderen als dem hier vorausgesetzten Bild der Überlieferungsprozesse der frühen Jesustradition führen. Ob sich die von H. favorisierte Richtung der Synoptikerexegese ohne eine Einbeziehung dieser Einsichten fruchtbar weiterentwickeln wird, bleibt deshalb abzuwarten.