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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1281–1283

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Runesson, Anders

Titel/Untertitel:

The Origins of the Synagogue. A Socio-Historical Study.

Verlag:

Stockholm: Almqvist & Wiksell 2001. 573 S. m. 31 Abb. 8 = Coniectanea Biblica, New Testament Series, 37. Kart. SEK 366,00. ISBN 91-22-01946-4.

Rezensent:

Carsten Claußen

Die von Anders Runesson verfasste Dissertation ist unter der Betreuung von Birger Olsson innerhalb des interdisziplinären Forschungsprojektes The Ancient Synagogue: Birthplace of Two World Religions an der Universität Lund entstanden. Mit der Suche nach den Ursprüngen der antiken jüdischen Gemeinden und Versammlungsstätten wendet sich der Autor einem weit über die Synagogenforschung hinaus bedeutsamen Thema zu.

Einer ausführlichen Einleitung, in der R. die Forschungsproblematik, das Ziel seiner Untersuchung und seine sozialgeschichtliche Methodik darstellt (21-65), schließt sich ein systematisierender Forschungsüberblick zu den Positionen der vergangenen 200 Jahre an (67-168). Im dritten Kapitel folgt eine Darstellung und kritische Würdigung archäologischer und literarischer Zeugnisse zu Synagogen im 1. Jh. n. Chr. (169- 235). Als eigentliche Hauptteile schließen sich die Rekonstruktionen der synagogalen Ursprünge in Israel (237-400) und in der Diaspora (401-476) an. In einem sechsten Kapitel (477- 488) beschließen eine kurze Zusammenfassung der Entwicklungsstufen antiker Synagogen und ein knapper Ausblick auf die Ursprünge von rabbinischer Synagoge und katholischer Kirche das Werk. R. fügt seiner Dissertation insgesamt 31 Illustrationen und Fotos (491-503 et passim), eine ausführliche Bibliographie sowie Quellen- und Stichwortindices bei.

R.s meisterliche und enzyklopädische Würdigung der Sekundärliteratur offenbart zugleich die Aporien der Forschungsgeschichte. In größtmöglicher Bandbreite kann der Autor zu Recht resümieren, dass die Ursprünge der Synagoge in allen Perioden der Geschichte Israels - von den Patriarchen bis zur römischen Zeit - und in allen von Juden bewohnten geographischen Regionen postuliert worden sind (167). Hatte noch vor wenigen Jahren die von Carolus Sigonius bereits im 16. Jh. vertretene These eines im babylonischen Exil zu verortenden Ursprungs der Synagogen den Status eines Konsensus inne, so hat diese in Ermangelung eindeutiger Quellen ihren Einfluss in der Gegenwart weitgehend eingebüßt. Was lässt sich also Neues zum Thema sagen?

R. verfolgt mit seiner Studie ein doppeltes Ziel: Zum einen will er eine Definition vorlegen, was mit dem Terminus "Synagoge" überhaupt gemeint sei, um zum anderen den Ursprüngen der Synagoge in Israel und der Diaspora nachzugehen. Die Forschungsliteratur offenbart, dass gerade in Bezug auf die Definitionsfrage viele Missverständnisse aus dem Weg zu räumen sind. Der Autor reagiert darauf mit einer methodologisch reflektierten Unterscheidung in vier verschiedene Aspekte, die in unterschiedlicher Betonung einzelne Beiträge seiner Vorgänger und Diskussionspartner prägen: "Institutional aspects" beschäftigen sich mit der formalen Autoritäts- und Organisationsstruktur. "Liturgical aspects" widmen sich Bereichen, die für ge- wöhnlich als religiös charakterisiert werden. Dienten Synagogen z. B. auch als Archive oder Gerichte, so werden solche Funktionen als "non-liturgical aspects" bezeichnet. "Spatial aspects" konzentrieren sich auf die Synagoge als Räumlichkeit für eine Vielzahl von Aktivitäten (34 f.). Dieses Raster nutzt der Autor, um die Bandbreite der Diskussion aufzuzeigen und zugleich sein eigenes Vorgehen präzise zu verorten. R. stellt den liturgischen Aspekt, konkret die öffentliche Verlesung und das Studium der Tora als ein sine qua non (478) für die Identifizierung von Synagogen, in das Zentrum seiner Untersuchung (193- 235). Öffentliche Toralesungen habe es zuerst im Zuge der Reformen unter Esra und Nehemia in der Mitte des 5. Jh.s v.Chr. in den Stadttoren Jerusalems und anderer Orte Jehuds gegeben (294.350). In hellenistischer Zeit vermutet R. einen Übergang von diesen Lesungen im Tor zu solchen in separaten Gebäuden (351).

Konkret versucht er zwischen zwei verschiedenen Arten von Versammlungen und entsprechenden Gebäuden zu unterscheiden, in denen Toralesung und -studium stattfanden (354): Er teilt die Synagogenfunde in Gebäude für öffentliche Versammlungen (= "public city/town/village assemblies" in Gamla, Kafarnaum I, Qiryat Sefer, Nabratein) und solche für Versammlungen vereinsartiger Synagogengemeinden (= "semi-public voluntary associations" für die Funde bei Jericho, in Qumran, auf Masada und Herodium) ein. Einerseits habe es öffentliche Gebäude für Dorfversammlungen wie in Lk 7,5 gegeben, deren Ursprung in früheren Versammlungen im Stadttor und anderen öffentlichen Plätzen zu finden sei. Andererseits habe es Versammlungsgebäude bestimmter Gruppen gegeben, wie er sie hinter Sir 51,23 und der Theodotos-Inschrift (CIJ II 1404) vermutet. Letztere gingen auf Versammlungen in privaten Räumlichkeiten zurück (377).

Für die Diaspora vermutet der Autor eine Entwicklungslinie von Tempeln, wie sie unter anderem für die ägyptischen Orte Elephantine und Leontopolis bekannt sind, hin zu späteren Synagogen. Entsprechend setzt er die jüdischen proseuchai in ptolemäischer Zeit nicht mit Synagogen gleich, sondern interpretiert sie als Tempel (432) oder Schreine (435). Erst im 1. Jh. n. Chr. seien diese Gebäude, entsprechend der bei Philo bezeugten Betonung von Toralesung und -studium, mit Synagogen vergleichbar (451.473).

Die Schwierigkeiten für die Rekonstruktion einer durchgängigen Entwicklungslinie von der Mitte des 5. Jh.s v. Chr. bis zum 1. Jh. n. Chr. sind angesichts der Quellenlage offensichtlich und dem Autor bewusst: Weder für die persische noch für die hellenistische Zeit ist irgendeine Verbindung von öffentlichen Toralesungen zum Sabbat nachweisbar (295.318.323). Kein einziger Autor in der hellenistischen Zeit des 3. und 2. Jh. v. Chr. erwähnt regelmäßige öffentliche Toralesungen oder Synagogen als Orte gottesdienstlicher Versammlungen. Die Apokryphen und Pseudepigraphen der ausgehenden vorchristlichen Zeit schweigen dazu. R. gesteht zu, dass Ben Sira zwar Versammlungen (ekklesiai in Sir 15,5; 21,17; 23,24 u. a.) und andere religiöse Institutionen seiner Zeit erwähnt, nicht jedoch Synagogen oder öffentliche Toralesungen (312). Obwohl man dies hätte erwarten können, berichten auch 1 und 2Makk nicht von Synagogen, die in den Verfolgungen unter Antiochus IV. Epiphanes sicher ein Ziel von Übergriffen geworden wären. R. versucht aus der Erwähnung von Torarollen in 1Makk 1,56 f. auf Toralesungen und -studium in "local public" and "semi-public" Versammlungen zu schließen (322.328.441). Dies bleibt jedoch fraglich.

Rückfragen stellen sich auch bei der Interpretation des literarischen und archäologischen Befundes. Die allgemein zentrale Bedeutung von Toralesung und -studium (478) und die in Palästina und in der Diaspora zu verzeichnenden gleichnamigen Synagogenämter (u. a. archisynagogos; 480) zeugen von übergreifenden Gemeinsamkeiten der antiken Synagogen trotz unterschiedlicher Kontexte. Eine scharfe Unterscheidung verschiedener Typen von synagogai in öffentliche Dorf- oder Stadtversammlungen auf der einen und vereinsartige Zusammenkünfte von Synagogengemeinden auf der anderen Seite (354.378) erscheint vor diesem Hintergrund als nicht gerechtfertigt und lässt sich auch archäologisch nicht nachweisen. Die Identifizierung des Fundes beim hasmonäischen Winterpalast südwestlich von Jericho und der Versammlungshalle (locus 77) in Qumran als Synagogen ist ebenfalls fraglich. Der älteste Synagogenfund in der Diaspora auf der griechischen Insel Delos (ca. 2. Jh. v. Chr.) bedarf genauerer archäologischer Untersuchungen zur Klärung der Frage, ob es sich nicht doch - gegen R.s Einschätzung (132) - ursprünglich um ein Privathaus gehandelt hat. Eine differenzierte Berücksichtigung der nur am Rande erwähnten synagogalen Versammlungen in Privathäusern wäre in diesem Zusammenhang hilfreich gewesen (354).

R. hat eine frische Studie auf der Höhe der gegenwärtigen Forschung verfasst. Seine ausführliche Berücksichtigung archäologischer und literarischer Quellen stellt eine kompetente Aufbereitung des Materials im Kontext der aktuellen Synagogenforschung dar. Die Spärlichkeit der Quellen nötigt ihn allerdings gerade in der Frühzeit zu größeren Konjekturen. So bleiben neben R.s Sicht der Dinge sicherlich auch andere Interpretationen möglich. Der daraus resultierende Diskussionsbedarf unterstreicht jedoch die Wichtigkeit seines Beitrags.