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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1202–1204

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Tobler, Stefan

Titel/Untertitel:

Jesu Gottverlassenheit als Heilsereignis in der Spiritualität Chiara Lubichs. Ein Beitrag zur Überwindung der Sprachnot in der Soteriologie.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2002. X, 396 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 115. Geb. Euro 98,00. ISBN 3-11-017255-0.

Rezensent:

Gisbert Greshake

Gleich im ersten Satz stellt der Vf. fest: "Die vorliegende Arbeit betritt in verschiedener Hinsicht Neuland". Dies ist absolut zutreffend. Denn erstens handelt es sich um die Arbeit eines evangelischen Theologen über ein "sehr katholisches" Thema, nämlich über die Spiritualität einer der Neuen Geistlichen Bewegungen, der Fokolar-Bewegung, deren Gründerin Chiara Lubich ist und deren spirituelle Grundzüge hier zum ersten Mal im deutschen Sprachraum in einer umfassenden Publikation behandelt werden. Zweitens ist bemerkenswert, dass die "materia circa quam" dieser fachwissenschaftlich-systematischen Untersuchung weder die Hl. Schrift noch ein theologischer Entwurf ist, sondern eine spirituelle Lebensform. Und zum dritten ist die Erwartung des Vf.s erstaunlich, diese Spiritualität könne die heutige "Sprachnot in der Soteriologie" beheben.

Entsprechend der Neuartigkeit der Behandlung von Spiritualität im Rahmen evangelisch-systematischer Theologie wird zunächst das Problemfeld "Spiritualität als Thema der Theologie" reflektiert und die These begründet, dass Systematische Theologie zur Spiritualität in einer wechselseitigen Beziehung stehen müsse. Ihr Verhältnis sei ein Teil des Spannungsfelds "zwischen Empirie und Dogmatik" (46). Zur "Empirie" und der "empirisch" feststellbaren Sprachnot in Sachen Soteriologie gehört aber auch die generelle "Lage der Kirche", die darum - vor allem am Beispiel der Schweiz - in einem sozialwissenschaftlich orientierten Abschnitt behandelt wird (30 ff.). Zeigt die soziologische Analyse den "Pulsschlag der säkularen Welt", so hat die Theologie darin eine "Spurensuche" nach der "neuschaffenden Kreativität des Geistes" vorzunehmen (58). Und eben dazu will die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten, indem sie die Spiritualität Chiara Lubichs und (damit) der Fokolar-Bewegung behandelt. Diese Bewegung ist gegen Ende des 2. Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren zwar als streng katholisches movimento entstanden, hat sich aber in den letzten Dezennien auch für Christen anderer Konfessionen, ja sogar für den Dialog mit Mitgliedern anderer Religionen geöffnet.

Nach einer gut informierenden Skizze zu Person und Werk Lubichs werden die 12 Grundzüge der Fokolar-Spiritualität zusammengefasst. Von diesen 12 Elementen sind mit Abstand die beiden wichtigsten: die Verwirklichung von "Einheit" (im Sinne von Joh 17) und die Fokussierung auf "Jesus den Verlassenen". Die Bedeutung der "Einheit" (bzw. Liebe) als Inbegriff von Erlösung und Heil, wie Lubich sie versteht, fasst der Vf. so zusammen: "Wer im Vertrauen auf Gott als Liebe in der Hinwendung zum Andern - zu Gott, aber Gott nicht ohne, sondern immer mit und durch und in den Mitmenschen - von sich selbst absieht und dieses sein Nichtsein durch Gottes Geist und somit von der Liebe erfüllt sein lässt, der ist außerhalb seiner selbst zu sich selbst gekommen - denn sein Sein ist in dem, woran er glaubt; er ist woran er glaubt -, und er hat am Leben der Trinität Anteil, das sich in der gegenseitigen Liebe bereits hier auf Erden vorläufig ausdrückt und als Lebensweise des Leibes Christi ... auf die endgültige Aufnahme der ganzen Menschheit in die Einheit hinzielt" (162). Prinzip dieser Einheit ist Jesus, und zwar als derjenige, der in seiner absoluten Verlassenheit am Kreuz sich mit allen Konflikten, Leiden und negativen Situationen der Welt vereint, ja der sich selbst "zu Sünde, Exkommunikation, Trennung und Atheismus gemacht" hat (216). Er, der radikal "Verlassene" hat alles weggegeben, selbst die Vereinigung mit dem Vater, um uns die Einheit mit Gott und den Mitmenschen und damit alles zu schenken. Zu Recht kommentiert der Vf.: Kraft der Identifikation Gottes mit dem "Nullpunkt der Schöpfung", nämlich mit "Jesus dem Verlassenen" ist "dieses Nichts und damit all dasjenige, was das Elend des Menschen ausmacht und was letztlich in dessen radikaler Vereinzelung als beziehungslosem Abbruch des Lebens kulminiert, ... durch Gott besetzt und damit in dessen Liebe aufgenommen" (223). So haben Sünde, Leid und Elend durch Jesu Gottverlassenheit eine grundlegend andere Bedeutung erhalten. Sie sind "zum Ort von Gottes Präsenz in der Welt geworden" (230).

In der Konzentration auf die Gottverlassenheit Jesu als "Prinzip" von Erlösung, Einheit und Liebe erblickt Lubich selbst das Spezifikum der Fokolar-Spiritualität. Hierin sieht auch der Vf. ihren spezifischen Beitrag zur Überwindung der "Sprachnot in der Soteriologie". Jesu Gottverlassenheit als "Sakrament säkularer Gottbegegnung heute" zu verstehen (so: K. Hemmerle, 189), korreliert mit den Erfordernissen der Gegenwart. Dass Gott gerade im Negativen präsent ist, lässt sich schon jetzt als Heilsgegenwart erfahren. Weil Er sich mit allem Negativen identifiziert (hat), vermag Er nicht nur überall, vor allem im Armen und Verlassenen, Leidenden und Elenden gefunden werden, sondern kann auch überall - wie bei Jesus selbst - die existentielle Umwandlung des Negativen in das Positive von Einheit und Liebe gelingen. Die Heilsgegenwart realisiert sich aber nicht (allein) dazu, dass der Erlöste sich seines Heils erfreue, sondern dass er selbst zum Sakrament der Liebe Gottes in der Welt für die andern wird und damit am Erlösungswerk Christi mitwirkt.

Sieht man einmal vom letzten 6. Kapitel, von dem noch die Rede sein wird, ab, so kann man dieser weit ausgreifenden Arbeit nur allerhöchste Zustimmung und Anerkennung zusprechen: Mit großer Sensibilität und deutlicher Sympathie dringt der Vf. in die geistliche Welt Chiara Lubichs und der Fokolar-Bewegung ein und macht sie in einer ebenso vorsichtigen wie umsichtigen Systematisierung einem größeren Publikum bekannt. Dabei ist nicht zuletzt auch die vorzügliche Auswahl der wörtlich angeführten Texte hervorzuheben, die der Vf. meist in eigenen, ganz hervorragenden Übersetzungen präsentiert. An dieser Arbeit wird man mindestens im deutschen Sprachraum nicht mehr vorbeikommen, wenn man sich mit der Spiritualität der Fokolar-Bewegung und gegenwärtiger Soteriologie befasst.

Demgegenüber fällt m. E. das letzte Kapitel ab. Schon dessen Intention und Strukturlinien sind nicht sehr durchsichtig, insofern der Vf. hier ein Vierfaches miteinander verflicht: Zusammenfassung - kritische Reflexion - Konfrontation der Fokolar-Spiritualität mit Grundanliegen evangelischer Theologie - eigene Systematisierung. Was mich vor allem stört, ist die in diesem Kapitel (z. T. aber auch schon vorher) immer wieder gestellte Frage, ob und inwieweit diese Spiritualität mit dem Zentrum evangelischer Theologie, der Rechtfertigungslehre, vereinbar sei. In diesem Zusammenhang werden Texte Lubichs z. B. auf folgende Probleme hin reflektiert: Gewicht der Sünde, forensischer Charakter der Rechtfertigungslehre, "simul justus et peccator", Verdienstlichkeit menschlichen Bemühens, Stellung Mariens, Miterlösung u. a. Wenn in diesen Punkten Aussagen Lubichs gelegentlich der protestantischen Theologie entgegenstehen, sucht der Vf. diese - nicht selten in einem etwas "apologetischen" Ton - zu relativieren. Zwar seien "nicht alle einzelnen Texte aus Lubichs Werk ... von der Gefahr des Missverständnisses frei" (z. B. 335), könnten jedoch von ihrem Kern her so interpretiert werden, dass sie der evangelischen Rechtfertigungslehre Genüge täten. Noch einmal: Mich stört dieses "Unternehmen". Könnte man gerade angesichts einer gelebten christlichen Spiritualität nicht besser zur Kenntnis nehmen, dass weder Paulus die ganze Hl. Schrift noch die Rechtfertigungslehre das Kriterium des Glaubens schlechthin ist, sondern dass es Formen der Realisierung des Christlichen gibt, die eben nicht in das Prokrustesbett einer bestimmten (konfessionellen) Theologie passen, sondern eine eigene "Evidenz" haben, der man wohl kaum die Evangeliumsgemäßheit wird absprechen können.

Ein Zweites ist kritisch zu bemerken: Der Vf. weiß selbst, dass vieles in seiner Untersuchung offen bleibt, besonders was die geschichtliche Einbettung angeht (287.290). Doch vermisst man dann doch gelegentlich wenigstens kleine Hinweise auf geistige Verbindungslinien, welche manche Äußerungen Lubichs (auch die zur Gottverlassenheit Jesu) aus ihrer scheinbaren Originalität befreien würden. Manchmal sind Beziehungen zu v. Balthasar bis in Formulierungen hinein greifbar (z. B. 226), genau so wie die Formulierung Lubichs, "Gott um Gottes willen verlieren", bereits eine große mystische Tradition hat (Meister Eckart).

Diese kritischen Hinweise, die in keiner Weise das Corpus der Arbeit betreffen, wollen deren große Positiva nicht verdunkeln: Dass die Spiritualität der Fokolar-Bewegung erstmals im deutschen Sprachraum in einer wissenschaftlichen Arbeit und dazu noch in dieser vorzüglichen Weise "ausgerechnet" durch einen evangelischen Theologen präsent gemacht wird, ist und bleibt eine kleine Sensation.