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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1184–1187

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Jung, Martin H.

Titel/Untertitel:

Der Protestantismus in Deutschland von 1870 bis 1945.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 228 S. gr.8 = Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, III/5. Geb. Euro 19,80. ISBN 3-374-01994-3.

Rezensent:

Martin Greschat

Es ist ein sehr mutiges Unterfangen, die Geschichte des deutschen Protestantismus von der Reichsgründung bis zum Jahr 1945 darzustellen, vollends auf nur rund 200 Seiten. Traditionell gliedert J. seine Studie anhand der politischen Zäsuren: Reichsgründung, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, "Drittes Reich", 1945. Diesen fünf Kapiteln ist ein knapper Abschnitt über den "Protestantismus im Jahr 1870/71" vorangestellt (38-40). Die drei Hauptabschnitte über das Kaiserreich (41-101), die Weimarer Zeit (113-151) sowie den Nationalsozialismus (152-207) haben dann in etwa denselben Umfang. Erheblich weniger Raum entfällt naturgemäß auf den I. Weltkrieg (102-112) und noch knapper wird das Jahr 1945 behandelt (208-212).

Auch die einzelnen Kapitel folgen im Wesentlichen demselben Schema: Im Anschluss an eine knappe Skizzierung der politischen und sozioökonomischen Gegebenheiten sowie der Darstellung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche folgt die Behandlung der innerkirchlichen Vorgänge, woran sich Abschnitte über das Verhältnis des Protestantismus zum Katholizismus, zum Judentum, zur Ökumene, aber auch über Entkirchlichung, Entchristlichung sowie neue religiöse Weltanschauungen anschließen. Besonderes Gewicht legt J. neben der Beschreibung der unterschiedlichen akademischen theologischen Positionen auf die Darlegung der Auffassungen und organisatorischen Zusammenschlüsse der Gemeinschaftsbewegung in ihren vielfältigen Erscheinungsformen. Der Vf. verhehlt nicht seine Sympathie für diese Kreise. Neben der relativ breiten Berücksichtigung dieser erwecklich-evangelikalen Gruppierungen gehört die durchgängige Einbeziehung der Vorgänge im Judentum zu der erfreulichen, weil neue Aspekte aufnehmenden Eigenart dieses Buches.

Insgesamt folgt J. freilich einem ausgesprochen traditionellen Verständnis der Kirchengeschichte. Die Darstellung bleibt faktisch durchgängig eingegrenzt auf die innerkirchlichen Vorgänge. J. spricht zwar immer wieder auch vom "Protestantismus". Aber er verwendet diesen Begriff in aller Regel nicht als Bezeichnung für die Kreise, die in einem mehr oder weniger weiten Abstand von den kirchlich Gebundenen existierten, sondern synonym mit diesen und häufig sogar mit den Organen der Kirchenleitungen. Einem traditionellen Verständnis der Kirchengeschichte ist auch die thematische Untergliederung in den einzelnen Kapiteln verpflichtet. Hier werden einzelne Segmente abgehandelt, jeweils für sich und ohne Zusammenhang mit größeren historischen Prozessen. Anders ausgedrückt: Im Mittelpunkt des Buches steht ganz selbstverständlich die evangelische Kirche mit ihren vielfältigen Lebensäußerungen. Aber dass diese Kirche immer auch ein Teil der sie umgebenden Gesellschaft war, dass es sich deshalb bei ihren Verhaltensweisen und Äußerungen immer auch um Reaktionen auf diese Realitäten handelte, kommt höchstens am Rande in den Blick. Infolgedessen dominiert die Zusammenstellung von Fakten anstelle von Erklärungen. Einige Beispiele: Die Ausführungen über die Oktoberversammlung 1871 in Berlin (39 f.) bleiben unverständliche Daten, wenn man nicht sieht, dass es der theologische und kirchenpolitische Antagonismus zwischen dem für die Union eintretenden mächtigen Preußen und den für das konfessionelle Luthertum engagierten deutschen Mittelmächten war - wie Bayern, Hannover oder Sachsen -, was jetzt und in der Folgezeit, noch über 1945 hinaus, einen Zusammenschluss des deutschen Protestantismus behinderte. Der Erfolg der Positiven Union in Preußen (48) gehört aufs Engste mit dem hier ganz losgelöst davon behandelten Kulturkampf zusammen (90 f.). Denn gerade dessen Auswirkungen auf die evangelische Kirche in Preußen suchte diese Kirchenpartei - schließlich auch erfolgreich - zu unterbinden. Dass man hier angeblich "das preußische Herrscherhaus auf fast religiöse Weise" verehrte und gleichzeitig den landesherrlichen Summepiskopat in Frage stellte (48), ist kaum einleuchtend und bedürfte wohl einer Erklärung. Schließlich: Durch die Herauslösung des Abschnitts über die Judenverfolgung aus der Skizze über die Stufen der Machtergreifung (157 f.) erscheint die begrenzte Zustimmung Martin Rades zu den Nürnberger Gesetzen (200 f.) in der Tat monströs. Berücksichtigt man allerdings, dass diesen Gesetzen einerseits ein wochenlanger psychischer und physischer Terror vorausgegangen war, wird die Auffassung vieler jüdischer und christlicher Deutscher verständlicher: Sie meinten, jetzt seien zwar harte, aber doch wenigstens juristisch gesicherte Grundlagen geschaffen. Solche Zusammenhänge blendet die Darstellung, wie gesagt, weitgehend aus. Dieser Einwand lässt sich nicht mit dem Hinweis auf den begrenzten Umfang abweisen (7). Zur Diskussion steht vielmehr die Frage der Konzeption und mithin des Verständnisses der Kirchengeschichte. Der Anspruch, "eine Gesamtsicht der protestantischen Religionsgeschichte im Sinne einer Christentumsgeschichte" vorzulegen (36), wurde hier jedenfalls nicht eingelöst.

J. unterstreicht, dass es sich bei seiner Arbeit um ein Lehrbuch handele (7 f.). Dafür ist vielleicht wichtiger als die Frage des theoretischen Ansatzes die Notwendigkeit, klare und sachlich richtige Informationen zu liefern. Auch in dieser Hinsicht sind leider erhebliche Mängel zu beklagen. Ich notiere einige, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die evangelischen Staatskirchen besaßen keineswegs die "Möglichkeit zur eigenständigen kirchlichen Gesetzgebung" (48), sondern diese bedurfte der Billigung durch die jeweiligen Kultusministerien. Martin Rade besaß sicherlich im liberalen protestantischen Lager ein beträchtliches Ansehen, aber er war keine den Protestantismus seiner Zeit "zutiefst prägende Gestalt" (53). Die Kirchen attackierten die Sozialdemokratie in Deutschland nicht einfach, weil sie "eine radikale Veränderung" der gesellschaftlichen Verhältnisse anstrebte (65), sondern weil sie einen revolutionären Umsturz und insbesondere den Atheismus proklamierte. Mehr als problematisch erscheint die Darstellung Stoeckers (70-72). Dass er die treibende Kraft bei der Gründung des "Centralvereins für Socialreform war", erfährt der Leser nicht, ebenso wenig, dass er es war, der Todt zu seiner Studie ermutigte. Doch das sind Nebensächlichkeiten, gemessen an dem Faktum, dass nach Stoeckers Überzeugung auch der Protestantismus sich, angesichts des öffentlichen Einflusses der Medien sowie des Reichstags, auf das politische Feld begeben müsse. Überhaupt nicht in den Blick kommt, warum dieser Hofprediger so vielen jungen Theologen als Vorbild galt. Weshalb inspirierte denn seine kirchliche und kirchenpolitische Konzeption über das Jahr 1945 hinaus noch Männer wie z. B. Wurm oder Dibelius? Weil er, wie wir hier erfahren, "zum politischen Anwalt derer [wurde], die den sozialen Aufstieg erstrebten, und derer, die ihn erreicht hatten und fürchteten, ihn wieder zu verlieren"?! (70 f.) Das alles entschuldigt seine böse antisemitische Agitation keineswegs. Aber Stoecker lässt sich eben nicht einfach auf dieses Thema reduzieren. Den Evangelisch-Sozialen Kongress hat er im Übrigen nicht allein, sondern zusammen mit Harnack gegründet. Über diese Institution, die auf höchstem wissenschaftlichem Niveau nahezu sämtliche damals aktuellen sozialethischen Themen intensiv diskutierte und dadurch hohen Verwaltungsbeamten und Politikern wichtige Anregungen und Anstöße vermittelte, erfahren wir lediglich, dass sie "wirkungslos blieb" (71). Von den breitenwirksamen Leistungen der Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz auf der Gemeinde- und Vereinsebene ist überhaupt nicht die Rede.

Die USA gaben ihre "Selbstisolation" (104) nach dem I. Weltkrieg keineswegs auf. Ob man die Revolution von 1918 als eine "von den gesellschaftlichen Eliten gelenkte Parlamentarisierung" (113) bezeichnen kann, möchte ich bestreiten. Ebenso fragwürdig erscheint mir die Behauptung, "erst im Laufe des Jahres 1919 [sei] vermehrt ein Rätesystem" gefordert worden (ebd.). In der allgemeinen Geschichtswissenschaft gilt als Konsens, dass dieses Modell mit der Entscheidung der Mehrheitssozialisten für demokratische Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 prinzipiell erledigt war. Wieso Deutschland die Weltwirtschaftskrise von 1929 durch "eine falsche Wirtschafts- und Finanzpolitik noch verstärkte" (114), bleibt offen. Vermutlich sind damit Brünings Notverordnungen gemeint. Dass "die Eliten" sich jetzt "von der Demokratie abwandten" (ebd.), lässt fragen, wann diese und welche sich denn nach 1918 für die Republik erklärten.

Erwin Eckert verlor sein Pfarramt endgültig, weil er in die KPD eintrat, nicht einfach, weil er gegen die Nationalsozialisten agitierte (127). Und wie man gegen die Christenverfolgung in Russland hätte protestieren können, ohne auch gegen den Kommunismus Stellung zu nehmen, ist schwer einsehbar. Selbstverständlich umschließt dieser Einwand keine Stellungnahme gegen die Religiösen Sozialisten und für die mehrheitlich deutsch-national geprägten evangelischen kirchlichen Kreise. Aber auf genaue Aussagen und sorgfältige Differenzierungen kommt es in einem Lehrbuch doch wohl an. Deshalb ist es auch falsch, Karl Ludwig Schmidt, der mit Buber diskutierte und als einer der ersten Professoren von den Nazis entlassen wurde, als einen Mann zu charakterisieren, der "in völkisch-nationalen und rassischen Kategorien" dachte (145). Der Begriff "völkisch" bezeichnet im allgemeinen wissenschaftlichen Sprachgebrauch die entschieden antisemitische und rassistische Verabsolutierung der eigenen Nation!

Was viele Protestanten 1933 an der neuen Regierung anzog, waren deshalb auch nicht die "völkisch-religiösen Gedanken" (157), sondern die national-konservative Koalitionsregierung, welche u. a. die alten Ordnungen mitsamt der traditionellen Vorherrschaft des Christentums und insbesondere des Protestantismus wiederherzustellen versprach. Und keineswegs "die übergroße Mehrheit der 40 Millionen deutschen Protestanten" (ebd.) reagierte zustimmend: Diese Feststellung übersieht, dass es Millionen evangelisch getaufter Menschen z. B. in der SPD und sogar in der KPD gab. Die undifferenzierte Verwendung des Begriffs "Protestantismus" führt also einmal mehr in die Irre. BdM ist als "Bund deutscher Mädel" aufzulösen, nicht "deutscher Mädchen" (173). Ich sehe sodann nicht, wieso die Bekennende Kirche (BK) die Verfassung der Reichskirche "eigentlich für illegitim" gehalten haben soll (177). Diese garantierte doch u. a. die Selbständigkeit der Landeskirchen! Die 2. Vorläufige Leitung der BK wollte den Inhalt ihrer Denkschrift von 1936 den Gemeinden mitteilen, wenn Hitler nicht reagierte - aber auf keinen Fall dem Ausland (184). Die Aussagen in Barths Brief an Hromádka (191), die damals auch entschiedene Vertreter der BK erschütterten, werden erst verständlich, wenn über die theologische Umorientierung Barths in "Rechtfertigung und Recht" (1938) informiert wird. Und auf der letzten Bekenntnissynode der altpreußischen Kirche im Oktober 1943 in Breslau ging es nicht um "eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Krieg" (194), sondern um die Eingrenzung des Tötens im Blick auf die "Euthanasie", die Juden und die sowjetischen Kriegsgefangenen. Den überzeugten Katholiken Stauffenberg kann man wahrhaftig nicht zusammen mit Beck als "protestantische Christen" bezeichnen (195). Zumindest ungenau ist die Aussage, dass es "verschiedene Attentate auf Hitler" gegeben habe (196). Falsch ist leider die Aussage, dass aus Bethel "kein einziger Kranker ermordet" wurde (197). Ob der kirchliche Widerspruch zur Einstellung der "Euthanasie" führte, es mithin "grundsätzlich möglich war, durch öffentlichen Protest Druck auf das Regime auszuüben und eine Änderung der Politik zu bewirken" (ebd.), ist eine umstrittene Frage. Die Morde wurden ja, wie auch J. zu Recht feststellt, an anderen Orten besser abgeschirmt fortgesetzt.

Unbeeindruckt von der ausführlichen wissenschaftlichen Diskussion über den Widerstandsbegriff und die Frage, ob und inwiefern die Kirchen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben, wird hier schlicht erklärt, sie hätten Widerstand geleistet! (209) Ein besonders grober Fehler begegnet zum Schluss, wo das wohl im Juli 1945 von Wurm formulierte "Wort an die Christenheit im Ausland" - in dem im Übrigen von Schuld kaum andeutungsweise die Rede ist - als das "Stuttgarter Schuldbekenntnis" bezeichnet wird (211)! Auch die übrigen Aussagen dazu stimmen nicht bzw. sind ungenau: Die ökumenische Delegation kam, wie wir heute wissen, keineswegs "unerwartet"; nicht nur Dibelius und Asmussen formulierten den in der Regel als "Schulderklärung" bezeichneten Text, sondern hierbei handelte es sich um eine auf Grund der Vorlage von Dibelius erstellte Gemeinschaftsarbeit der Ratsmitglieder, wobei Niemöller einen besonders wichtigen Akzent setzte; und der Rat "bedauerte" nicht ein falsches Verhalten der "Kirchen", sondern klagte sich selbst als Repräsentant der neuen evangelischen Kirche mit den bekannten Worten an.