Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1179–1181

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Bendikowski, Tillmann

Titel/Untertitel:

"Lebensraum für Volk und Kirche". Kirchliche Ostsiedlung in der Weimarer Republik und im "Dritten Reich".

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2002. 253 S. gr.8. m. 2 Diagrammen. = Konfession und Gesellschaft, 24. Kart. Euro 35,00. ISBN 3-17-016966-1.

Rezensent:

Martin H. Jung

Die geschichtswissenschaftliche Dissertation (Bochum 1999) von Tillmann Bendikowski (geb. 1965) behandelt ein wenig beleuchtetes, aber durchaus wichtiges Thema in einer Zeit, in der osteuropäische Fragestellungen infolge des Zusammenwachsens Europas relevanter werden: das Engagement der beiden großen Kirchen bei der Besiedlung östlich gelegener Gebiete des früheren Deutschlands. Konkret ging es um Mecklenburg, Pommern, Ostpreußen, Schlesien und die Grenzmark. Die Idee zur Besiedlung des Ostens gab es bereits im Kaiserreich, und sie wurde in der Weimarer Zeit von zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen unterstützt und praktisch umgesetzt. Mitte der zwanziger Jahre begannen auch die Kirchen mit einer eigenen Siedlungsarbeit, getragen zunächst von der Inneren Mission und der Caritas, ab 1930/31 von eigens dafür errichteten kirchlichen Siedlungswerken, dem "Evangelischen Siedlungsdienst" (ESD) und dem "Katholischen Siedlungsdienst" (KSD).

Minutiös werden vom Vf. die Anfänge der kirchlichen Ostsiedlungsarbeit geschildert und das Siedlungsengagement in den Jahren 1930 bis 1933. Besondere Beachtung finden dabei das so genannte Projekt Suckwitz, die Ansiedlung von 102 aus der Sowjetunion geflohenen Russlanddeutschen in Mecklenburg, und das Engagement von Hermann Schultz (geb. 1899), dem ersten hauptamtlichen Siedlungsbeauftragten des deutschen Protestantismus, einem promovierten Staatswissenschaftler.

Sehr lesenswert ist die Darstellung der kirchlichen Argumente für die Siedlungsarbeit, mit denen sich die Kirchen in den breit geführten "Ostsiedlungsdiskurs" der Weimarer Zeit einmischten. Neben den auch von anderen Befürwortern vorgebrachten nationalen, volkswirtschaftlichen, bevölkerungspolitischen und antiurbanistischen Anliegen verfolgten die Kirchen ausgesprochen "konfessionelle" und "kirchlich-religiöse" Ziele. Durch die Siedlungsarbeit hofften sie, die Konfessionsverhältnisse in den betroffenen Gebieten zu Gunsten ihrer jeweiligen Konfession verändern zu können, und sie erhofften sich eine Intensivierung des kirchlichen Lebens, weil man eine ländliche Bevölkerung als "tendenziell kirchlicher und religiöser" als eine städtische ansah (136). Der Vf. zeigt, wie das Engagement beider Kirchen trotz vergleichbarer Motive und analoger Arbeitsweisen überschattet war von konfessionellen Spannungen. Zum Beispiel galten die Katholiken den Protestanten und der protestantisch geprägten deutschen Öffentlichkeit als national unzuverlässig, und man behauptete entgegen den geschichtlichen Tatsachen, katholische Ostsiedler würden in aller Regel rasch der "Gefahr" der "Polonisierung" erliegen. Als letztes Thema wird die kirchliche Siedlungsarbeit unter den durch den Nationalsozialismus infolge seiner rassistischen Ideologie veränderten Bedingungen behandelt. Auf die 1933 zuerst gehegten Erwartungen folgte bereits 1934 wie in vielen anderen, so auch in diesem Bereich des kirchlichen Lebens das "Jahr der Ernüchterung" (Klaus Scholder) und mit Kriegsbeginn das Ende der schon zuvor abgeflauten Arbeit. In einer "Bilanz" fasst der Autor auf wenigen Seiten die wichtigsten Inhalte der fakten- und detailreichen Arbeit zusammen (233-237).

Aus der Perspektive der evangelisch ausgerichteten kirchengeschichtlichen Forschung ist die in erster Linie historisch und nicht theologisch orientierte Arbeit aus mehreren Gründen interessant. Zunächst kann sie als ein Beitrag zur Geschichte der Inneren Mission gelesen werden, deren Tätigkeitsfelder während der Weimarer Republik bislang nicht eingehend untersucht und dargestellt wurden. Es fehlt bislang an Einzelstudien ebenso wie an einer Gesamtdarstellung des sozialen Engagements des deutschen Protestantismus in den Jahren 1918 bis 1933, einem außerordentlich wichtigen Thema. Der Vf. bestätigt mit seiner Untersuchung das breite soziale Engagement des deutschen Protestantismus in jener Zeit. Wegen der Thematisierung des Mit- und Gegeneinanders von Protestanten und Katholiken im Rahmen des Siedlungsengagements leistet die Arbeit auch einen Beitrag zu der ebenfalls erst wenig erforschten Geschichte der Beziehungen zwischen den beiden Konfessionen in der Weimarer Republik. Der Vf. zeigt, dass auch noch in der Weimarer Zeit "die Konfessionsspaltung und -spannung" zu den "Grundtatsachen des deutschen Lebens" (Thomas Nipperdey) gehörte (140), und die Zeit davon "weit mehr geprägt war, als dies die historische Forschung bislang wahrgenommen hat" (234). Im Zusammenhang mit der Behandlung der nationalsozialistischen Siedlungstätigkeit im so genannten Reichsgau Wartheland, wo bei dörflichen Neusiedlungen nicht einmal ein Platz für eine Kirche vorgesehen war, wird auch auf die dort modellhaft verfolgte nationalsozialistische Entkirchlichungs-, ja Dechristianisierungspolitik ein neues Licht geworfen und damit ein Beitrag zum Thema "Nationalsozialismus und Kirche" geleistet.

Die kirchliche Siedlungsarbeit war über die konkret verfolgten Ziele hinaus gerahmt vom "Gefühl eines bevorstehenden Umbruchs der Gesellschaft" (182) und von der Hoffnung auf eine "bessere Zukunft" (175), die laut B., wie es schon 1978 Dieter Hertz-Eichenrode formuliert hatte, "Züge eines Heilsgedankens" annahm (178). Dabei griffen beide Siedlungswerke auch auf das idealisierte Vorbild der mittelalterlichen Ostkolonisation zurück. Der Vf. thematisiert, unter Rückgriff auf theoretische Paradigmen Lucian Hölschers und Reinhart Kosellecks, ausführlich diese kirchliche Zukunftshoffnung. Zu fragen wäre allerdings, ob diese Denkmuster im evangelischen Bereich nicht auch auf dem Hintergrund der Reich-Gottes-Theologie des 19. Jh.s, die ihrerseits wieder zutiefst von der pietistisch-chiliastischen Erwartung des 18. Jh.s beeinflusst war, diskutiert werden müsste. Der Vf. verzichtet leider darauf, die religiös-mentale Prägung der als Protagonisten der Ostsiedlung handelnden Personen näher zu untersuchen.

Die in der Materialauswertung und Stoffdarbietung durchaus vorbildliche Arbeit hat leider einige Mängel im handwerklich-darstellerischen Bereich. Bedauerlich ist, dass auf ein Ortsregister verzichtet wurde. Unverständlich ist, dass das Personenregister nur eine - hinsichtlich der Entscheidungskriterien nicht nachvollziehbare - Auswahl der im Text genannten Personen bietet. Auch bei der Präsentation der historischen Personen wird vom Vf. keine klare Linie verfolgt. In der Regel wurde auf biographische Recherchen gänzlich verzichtet. Bei einigen offenbar zufällig ausgewählten Personen bietet er aber im Text, bei anderen als Anmerkung, die Lebensdaten. Über Schultz, eine der wichtigsten Gestalten in der Abhandlung, hätte man gerne erfahren, was aus ihm nach 1933 geworden ist und wann er gestorben ist. Unschön und bei den Möglichkeiten, die heutige Textverarbeitungsprogramme bieten, nicht zu rechtfertigen ist die Durchzählung der Anmerkungen bis zur stolzen Nummer 1369 auf S. 237. Bei der CIP-Einheitsaufnahme wurde der Untertitel des Buches um die letzten vier Wörter amputiert. Kleinere Mängel finden sich auch bei den Zitaten (fehlerhafte Zitate; nicht als solche gekennzeichnete wörtliche Zitate).