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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1116–1118

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Biester, Björn

Titel/Untertitel:

Harnack-Bibliographie. Verzeichnis der Literatur über Adolf von Harnack 1911-2002.

Verlag:

Erfurt und München: [Eigendruck] 2002. VI, 126 S.

Rezensent:

Martin Hollender

Leo Baeck, Dietrich Bonhoeffer und Adolf Grimme, Maximilian Harden, Theodor Heuss und Franz Mehring - sie alle haben sich zu Adolf von Harnack, dessen Name noch heute im Titel eines jeden Heftes der ThLZ auf seine Mitbegründerschaft des Blattes hinweist, geäußert. Bereits 1912 lag eine - im Anschluss mehrfach fortgeschriebene - Bibliographie der Schriften von Adolf von Harnack vor; die Lücke einer sog. objektiven Personalbibliographie, die die Literatur über den Theologen, Kirchenhistoriker, Altertumswissenschaftler, Generaldirektor der Königlichen Bibliothek bzw. Preußischen Staatsbibliothek und Wissenschaftsorganisator verzeichnet, hat Björn Biester, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Evangelische Theologie und Kulturgeschichte des Christentums an der Universität Erfurt, nun endlich geschlossen.

Aus "arbeitsökonomischen Gründen" beschränkt sich die Bibliographie auf jene Harnack-Literatur, die nach seinem 60. Geburtstag im Jahre 1911 erschienen ist. B. gesteht ein, dass es lohnend wäre, die Bibliographie "bis in die Anfangszeit der akademischen Karriere Harnacks auszudehnen". Die Reaktionen etwa auf den ersten Band des Lehrbuchs der Dogmengeschichte (1886) oder auf den Apostolikumsstreit 1892 sind ergo nicht nachgewiesen, ebenso wenig beispielsweise die Diskussionen anlässlich der Übertragung des Amtes des Generaldirektors der Königlichen Bibliothek zu Berlin im Jahre 1905 an einen Fachfremden, einen Nichtbibliothekar. Wenn B. auch aus der Einengung des Berichtszeitraums keinen Hehl macht, so beginnt für ihn die Beschäftigung mit Harnack bedauerlicherweise letztlich doch erst mit dessen 60. Geburtstag.

Überaus unglücklich ist die formale Anordnung. Eine Personalbibliographie ordnet man in aller Regel chronologisch, damit sich die Entwicklung etwa von Polemiken oder Forschungskontroversen augenscheinlich nachvollziehen lässt. Den Forscher interessiert zumeist die Rezeption einer Persönlichkeit während einer bestimmten Epoche (Harnack im Dritten Reich, Harnack in der DDR); die alphabetische Sortierung der Titel nach den Verfassernamen aber ist benutzerunfreundlich und erschwert den Zugang zu dieser Bibliographie. Überdies: B.s Verfasserregister ist bei dieser Art der Vorgehensweise dann nahezu obsolet. Die alphabetische Anordnung bringt es mit sich, dass derjenige, der die Bibliographie wie den Fließtext eines Buches liest, ständig über Nachrufe auf Harnack aus dem Jahre 1930 in unbedeutenden Provinzblättern stolpert. Rezeptionsgeschichtlich sicherlich von Interesse, wäre es doch wünschenswert, wenn diese fast 150 Nekrologe chronologisch zusammenstünden.

Einige weitere Aspekte sind erwähnenswert. Positiv ist zweifellos, dass B.s Verzeichnung zu mehr als 90 Prozent auf Autopsie beruht; Angaben, die er ungeprüft übernommen hat, sind per Asteriskus gekennzeichnet. Die bibliographische Qualität ist bestechend und genügt höchsten Ansprüchen, denn B. verfiel nicht der verbreiteten Unsitte neuerer Bibliographen, aus falsch verstandenem Vereinheitlichungswunsch heraus die bibliographischen Angaben nach unten zu nivellieren. Wer gezwungen ist, sich - unter Umständen aus fremden Bibliotheken - die gewünschten Quellen mühselig zu beschaffen, wird B. für seine Ausführlichkeit (Morgen-Ausgabe) dankbar sein. Sehr erfreulich sind auch die zahlreichen, kursiv gesetzten Annotationen B.s, die entweder die Entstehungsursache des Textes erläutern, seine Tendenz vermerken (Schmähnachruf) oder aber charakteristische Äußerungen des Verfassers darbieten. Harnack-Literatur mit unspezifischen und aussagearmen Titeln erfährt so häufig eine dankenswerte Präzisierung.

Als Literatur über Harnack sieht B. auch Stellungnahmen zu Harnack an, die (nur) Quellenwert, nicht aber wissenschaftlichen Anspruch besitzen. Aussprüche von Schülern, Erinnerungen von Zeitgenossen wie auch der (edierte) Briefwechsel von Persönlichkeiten der Zeitgeschichte wie Oswald Spengler, Houston Stewart Chamberlain oder Wilhelm II. haben auf diese Weise gleichfalls Einzug in die Bibliographie gefunden und verhelfen ihr zu ungewöhnlicher Farbigkeit der Einträge.

B. verzeichnet mit ungewöhnlicher Sorgfalt nicht allein den Erstdruck eines Textes, sondern auch sämtliche Nachdrucke. Die Vollständigkeit der Bibliographie ist summa summarum anerkennenswert; verursacht u. a. durch den Umstand, dass B. nicht zuletzt auch den Nachlass Harnacks in der Staatsbibliothek zu Berlin - mitsamt den Harnackschen Belegexemplaren und einer Zeitungsausschnittsammlung - ausgewertet hat. Gleichwohl: dem Rez. liegt allein ein Dutzend Würdigungen Harnacks anlässlich seines 70. Geburtstags 1921 vor, die B. nicht verzeichnet.

Das Vorwort B.s ist leider allzu knapp und formalistisch. Hier hätte sich der promovierte Theologe B. eingehender zur Spezifik, zu Auffälligkeiten und Tendenzen namentlich der theologischen Forschung äußern können. Vor allem aber hätte B. eine Kategorisierung der Harnack-Literatur vornehmen können, die nun, zumindest ansatzweise, der Rez. versucht hat. Eine Auszählung aller Titel ergibt folgendes Bild: 70 % der nachgewiesenen Titel beschäftigen sich in zumeist wissenschaftlicher Form mit dem Kirchenhistoriker bzw. Altertumswissenschaftler, bei 32 % handelt es sich um allgemeine biographische Texte (Nachrufe, runde Geburtstage, Einträge in Lexika, Kuriosa etc.), 5 % der Texte widmen sich dem Wissenschaftsmanager Harnack und nur 3 % umkreisen Harnack als Leiter der größten deutschen Bibliothek.

Wie aber verändert sich die Harnack-Forschung im Laufe der Jahrzehnte? Welche Trends und Moden lassen sich nachweisen? Augenfällig ist die starke Zunahme des Forschungsinteresses hinsichtlich Harnacks als Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und seiner moderierenden Rolle innerhalb der deutschen Forschungsförderung. In den vergangenen zehn Jahren ist dieses Sujet fester Bestandteil der Harnack-Forschung geworden. Kaum jemand kann sich über derlei besser äußern als ein Personalbibliograph; B. indes verzichtet leider auf Analysen der von ihm verzeichneten 1.200 Titel.

B.s Werk ist nicht als Verlagspublikation, sondern im Eigenverlag erschienen. Abschließend sei vor diesem Hintergrund somit gefragt: Warum ist die Bibliographie nicht zumindest parallel auch im Internet erschienen? Die Vorteile der maschinenlesbaren Suche müssen nicht eigens hervorgehoben werden, es soll aber doch auf einige Möglichkeiten hingewiesen werden, die sich bei einer Onlinepräsentation darböten. Harnack wurde häufig porträtiert: staatstragend in Öl ebenso wie mit flinker Feder karikiert und auch photographiert. Zwar verweist B. - als illustrierende Beigabe zu einem Text - durchaus auf den Künstler des jeweiligen Harnackporträts, eine Netzpublikation aber würde die Möglichkeit der Verlinkung zu einem Digitalisat des jeweiligen Bildes eröffnen.

Dass dies bereits an anderer Stelle durchaus verwirklicht wird, verdeutlicht die kaum genug zu lobende Website "Harnack-Forum" bei der Theologischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg (http://anu.theologie. uni-halle.de/ST/harnack). Auch hier findet sich, betreut von PD Dr. Claus-Dieter Osthövener, eine Bibliographie der Harnack-Literatur nach 1945 (auch chronologisch sortierbar), aber darüber hinaus auch eine Sammlung von Harnack-Porträts, Harnack-Sentenzen und vielen anderen wissenschaftlich wertvollen Materialien. Augenzwinkernd wird hier Harnack mit einer Äußerung aus dem Jahre 1911 zitiert: "Ist die Drucklegung überhaupt noch das richtige Mittel, um Werke von geringerer Auflage zu veröffentlichen? Müssen wir hier nicht zu einer anderen Art mechanischer Vervielfältigung übergehen?" Diese andere Art ist heute zu einer Selbstverständlichkeit geworden; und auch B. soll empfohlen sein, sich dieser stets à jour zu haltenden Publikationsform anzuschließen. Die Bibliographie, in gedruckter Form bereits ein Gewinn, würde - aktualisiert, erweitert und technisch modernisiert - als Netzversion stärker nachgefragt als das derzeit nur in einigen Bibliotheken vorgehaltene Buch - und sie würde der Gefahr der Veralterung entgehen.