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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

896–898

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Motté, Magda

Titel/Untertitel:

Auf der Suche nach dem verlorenen Gott. Religion in der Literatur der Gegenwart.

Verlag:

Mainz: Grünewald 1997. 228 S. 8 = Theologie und Literatur, 6. Kart. DM 48,-. ISBN 3-7867-1986-1.

Rezensent:

Jan Bauke

Über das Verhältnis von Theologie (resp. Religion) und Literatur wird gegenwärtig (unverhältnismäßig?) viel geredet und geschrieben. Zu einer eigentlichen Klärung der Verhältnisse kommt es dabei allerdings nur selten: Zu lautstark und grell sind die oft plakativ gehaltenen Postulate, zu schwach konturiert meist die begriffliche Grundierung des engagiert Geforderten. Eine der wenigen Publikationen, die sich dezidiert um Klärung(en) bemüht (und sich daher wohltuend vom polyphonen Stimmengewirr der Plädoyers für "Theopoesie", "poetische Theologie" oder "Literaturtheologie" abhebt), ist der Band "Auf der Suche nach dem verlorenen Gott. Religion in der Literatur der Gegenwart" der Dortmunder Germanistin und Religionspädagogin Magda Motté.

Die Vfn. gliedert ihr Buch, das sieben im Zeitraum von 1983-1991 veröffentlichte Beiträge in gründlich überarbeiteter Form bietet, in die drei Abschnitte: "Grundsätzliches" (23-92), "Gattungen und Formen" (93-143) und "Themen und Motive" (145-205). Dem ersten Abschnitt ordnet die Vfn. die theologische, dem zweiten die poetische und dem dritten die thematische Fragestellung zu (10). Schon vom Aufbau des Buches her ist damit deutlich signalisiert, daß die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Literatur sich nicht eindimensional und einseitig auf eine Fragehinsicht versteifen darf, sondern nur in einem Geflecht unterschiedlicher Fragestellungen angegangen werden kann. Daß die Blickrichtung dabei dennoch stets die theologische (oder religionspädagogische) ist, gesteht die Vfn. unumwunden zu (10). Vorangestellt ist den drei Hauptabschnitten des Buches eine "Einleitung: ,Erinnerung und Erwartung’ - Zur motivierenden Kraft der Literatur" (13-21), angefügt ein "Epilog: ,Meine Bibel’ - Lebens- und Leseerfahrungen von Franz Fühmann" (206-214), der die Quelle angibt, "auf die sich alle Beiträge letztlich beziehen" (214). Die theologische Beschäftigung mit Literatur, so ließe sich paraphrasieren, wird letztlich als Schriftauslegung verstanden.

Hilfreich ist der Versuch einer Differenzierung des Begriffes "religiös" und die daran anschließende Bestimmung der Begriffe "religiöse" und "christliche" Literatur, die die Vfn. in ihrem ersten Aufsatz "Implizites und explizites Reden von Gott - Zum Problem der Abgrenzung von ,religiöser’ und ,christlicher’ Literatur" (25-46) vornimmt. Der - völlig zu Recht - diagnostizierten Begriffsunschärfe in der gegenwärtigen Diskussion des Verhältnisses von Theologie und Literatur setzt die Vfn. den Versuch einer Differenzierung innerhalb sogenannter "religiöser" Literatur entgegen. Die Vfn. spricht zunächst von "allgemein ethisch-existentiell" ausgerichteter Literatur (28-33), die allgemein menschliche Themen behandelt (28) und eindringlich die Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz aufwirft, wie die Vfn. an drei Texten von G. Kunert vorführt. Spezifischer religiös sind jene Texte, die eine "transzendental-religiöse Dimension" (33-36) aufzeigen und auf einen Sinngrund verweisen, von dem sich der Mensch abhängig weiß (33). Die Vfn. belegt dies mit Texten von R. Kunze und H. Piontek. Am vielleicht intrikatesten ist die Frage nach sogenannter "jüdischer" oder "christlicher" Literatur (37-45). Da die autororientierte Deutung von P. K. Kurz, derzufolge die Glaubenshaltung eines Autors entscheidend für die Charakterisierung seiner Literatur als "jüdisch" oder "christlich" ist (37 f.), die Interpretation überfordert (38), das Augenmerk von ästhetischen Fragen auf Gesinnungsfragen verschiebt und den Charakter von Literatur als autonomes Kunstwerk gefährdet (46), plädiert die Vfn. für einen weiten Begriff von "christlicher" resp. "jüdischer" Literatur. "Jüdisch" resp. "christlich" wären der Vfn. zufolge Texte, "die die Frage nach dem unnahbaren Gott und dem Schicksal seines Volkes Israel aufwerfen" (38) resp. "aus dem Geist Jesu Christi leben" (ebd.). Die Vfn. zeigt dies an P. Celans "Psalm" (38-42) und einem Gedicht von Chr. Busta über 2Kor 3,2 f. (42-45). Statt "religiöser" oder "christlicher" Literatur möchte die Vfn. daher lieber von "religiösen oder christlichen Elementen in der Literatur" (46) sprechen.

Die Vfn. wendet sich in ihrem nächsten Essay der Frage der "Verarbeitungsweisen biblischer Stoffe und Motive" (47-71) zu. Sie differenziert dazu die Art der Verarbeitung biblischer Stoffe (50-52) - historische Paraphrasierung (50 f.) oder transfigurative Aktualisierung (51 f.) - und die Darstellungsintention der jeweiligen Verarbeitung (52-54) und führt die Rezeption und Verarbeitung biblischer Stoffe und Motive anschließend an den Jona-Bearbeitungen von U. Johnson (54-58), O. E. Hartleben (58), G. Kunert (58-62), G. Eich (62-64), Chr. Meckel (64), G. Leutenegger (64-67) und P. Hacks (67-71) vor.

Im dritten Aufsatz des ersten Hauptabschnitts ("Religiöse Provokation und Blasphemie - Anmerkungen zur Rezeption ärgerniserregender Werke in Literatur, Theater und Film heute" [72-92]) unternimmt die Vfn. zunächst (a) den Versuch einer (begrifflichen) Bestimmung von Provokation und Blasphemie (73-79). Der vertikalen Blasphemie, die Gott selbst zu beleidigen und schmähen sucht (74), steht die horizontale Blasphemie gegenüber, die die "Kränkung religiöser Gefühle gläubiger Menschen" (75) anvisiert, von der faktisch aber meist dann gesprochen wird, wenn Religiöses mit Sexuellem (75 f.), Nacktem (76) und Vulgärem (76 f.) zusammengebracht wird, oder wenn es zur "grotesk-satirische[n] Darstellungsweise sakraler Handlungen und liturgischer Gegenstände" (77) kommt.Dabei arbeitet die Vfn. Reaktionsmuster von Lesern auf provokative literarische Texte heraus (79-83): Die heftigsten Kritiker entstammen oft fundamentalistischen Strömungen (79) und besitzen in aller Regel keine oder kaum Kenntnisse der Gegenwartskunst und -literatur (80). Aus den gewonnenen Unterscheidungen leitet die Vfn. anschließend (b) eine Kriteriologie für (provozierende) Literatur (83 f.) ab, konkret (1) die Frage der Unterscheidung zwischen der "engagierten Darstellung eines blasphemieverdächtigen Sachverhalts und einer provozierenden Darstellung" (83), (2) die Frage nach der Motivation einer provozierenden Darstellung (83), (3) die Frage nach dem religiösen Gewinn (84) und - das wohl das wichtigste Kritierium - (4) die Frage nach dem Menschenbild des jeweiligen Autors und die Frage (in Anlehnung an einer Formulierung von Elias Canetti): "Meint es der Schriftsteller gut mit dem Menschen oder nicht?" (84; vgl. auch 92.131 f.). Damit ist sogar so etwas wie ein Kriterium für die Evangelizität von Literatur überhaupt gewonnen. Die erarbeiteten Differenzierungen und Kriterien illustriert die Vfn. abschließend (c) am dramatischen Werk George Taboris (84-92).

Den zweiten Block eröffnet der Essay über "Verhüllte Enthüllung menschlicher Existenz - Moderne Parabeln" (94-117), der den Nachweis für die These vom "parabolischen Charakter der modernen Literatur und des modernen Films" (99; vgl. auch 94) zu erbringen sucht. Nach der Bestimmung des Begriffs der Parabel (die z. T. einen veralteten Stand der Diskussion repräsentiert [s. insb. die Darlegungen 95]) und dem Hinweis auf den Funktionswandel der Parabel - aus einem Mittel der Verdeutlichung wird ein Instrument der Verschlüsselung (96), ja Verrätselung (99), der mit dem Verlust des Wahrheits- und Lehranspruches der Parabel einhergeht (98)- sucht die Vfn. die parabolische Struktur verschiedener Texte der Gegenwartsliteratur wie B. Kirchhoffs Erzählung "Olymayra Sanchez und ich" (101-104), I. Allendes "Aus Erde sind wir gemacht" (104-106), K. Kieslowskis "Ein kurzer Film über die Liebe" (107-111) und G. Hofmanns Erzählung "Der Blindensturz" (111-117) aufzuzeigen.

Im Aufsatz ",Wahre Poesie hält ihren Probierstein aus’ - Geistliche Lyrik in Variation und Parodie" nimmt die Vfn. zunächst eine differenzierte Definition der Parodie vor (118-120) und listet ihre verschiedenen Spielarten und Verfahrensweisen auf (121 f.). Die Spannung zwischen Vorlage und Verarbeitung führt entweder zur Erheiterung (so die triviale Parodie) oder zur Reflexion (so die seriöse Parodie) (122), die Nichtiges entlarvt und den Blick wieder für die Einsicht in die Notwendigkeit des Bedeutenden und Gültigen frei macht (119). Die Vfn. führt dies an drei Beispielen vor, zunächst an der Parodie des Kindergebets "Müde bin ich, geh zur Ruh" durch Christa Busta (124-126) und Kurt Marti (126 f.), dann anhand einer gelungenen Interpretation des Gedichtes "fortschreitende räude" von Ernst Jandl, ein semantisches Experiment und Sprachspiel mit Joh 1,14a (128-130), und schließlich anhand Günter Grass’ "Das Meissener Tedeum", eines kritischen Gegengesangs zum Hymnus "Te Deum laudamus" des Ambrosius (132-142). In allen Fällen geht es nicht um eine Verspottung des literarischen oder ideellen Wertes der Vorlage, sondern um die Kritik der Verkürzung der Vorlage in ihrer Rezeptionsgeschichte (143).

Eher enttäuschend ist der thematische Teil des Buches, der um die "Darstellung von Grenzfragen des Lebens, um Motive und Themen, die den Leser zu allen Zeiten als erstes an der Literatur interessieren und die über die Suche nach dem Sinn auch immer die Frage nach Gott tangieren" (145), kreist. In beiden Beiträgen "Vergessen ist keine Lösung - Schuld und Schuldbewältigung" (149-178) und "Der Tod - eine unveränderliche Größe. Sterben und Tod" (179-205) beschränkt sich die Vfn. überwiegend auf referierende und katalogisierende Darstellungen. Im ersten Aufsatz listet die Vfn. nach einer (ebenfalls eher im rein Deskriptiven bleibenden) Differenzierung von Verbrechen, Schuld und Sünde (150-152) wie der Aufzählung, unter welchen Aspekten Schuld in der Gegenwartliteratur thematisch vorkommt (152-154) und dem Hinweis auf die Allgegenwart des Themas "Schuld und Sühne" in der Weltliteratur (154-156) sechs verschiedene Typen von Schuldigen auf (158-166), um sich anschließend intensiver mit Gert Hofmanns Roman "Auf dem Turm" (166-171) und Christoph Heins Roman "Horns Ende" (171-177) zu beschäftigen. Fast allen vor- und dargestellten Figuren, so das abschließende Fazit der Vfn., eigne ein "Mangel an Schuldbewußtsein" (177). Dementsprechend sei es das Ziel der jeweiligen Verfasser, "Gewissen zu wecken, Schuld bewußt zu machen" (177). Schriftsteller werden so zu einer "Art Propheten, die wie Seismographen auf die Zustände unserer Zeit reagieren, nicht anklagend, aber enthüllend" (178; vgl. auch 9), die von ihnen verfaßte Literatur, so ließe sich von reformatorischer Theologie her argumentieren, zu einer Variante oder Spielform der theologischen Funktion des Gesetzes (usus theologicus legis).

Ähnlich strukturiert ist auch der zweite Aufsatz, der nach der Konstatierung der Allgegenwart des Todes in der Literatur (179-182) und dem Hinweis darauf, daß gerade die literarische Beschäftigung mit dem Tod dem Leser die Möglichkeit verschafft, "dem eigenen Tod bewußt entgegenzusehen" (187), die Darstellung des Sterbens bzw. des Todes in der Literatur unter drei "strukturellen und poetologischen Aspekten" (187) betrachtet: "Der Tod als Motor für das Erzählen" (187-195), Der Tod als Auslöser für das Erzählen" (195- 199) und "Allegorische und surreale Darstellungen des Todes" (199-205).

Insgesamt ist das Buch ein sympathisches Plädoyer für die Gegenwartsliteratur und ihr Suchen nach Sinn. Immer wieder weist die Vfn. darauf hin, daß die jeweiligen Autoren nicht einfach religions- oder christentumskritisch sein wollen, sondern - oft aus persönlicher Betroffenheit, die sich immer wieder in der Theodizeefrage fokussiert (78; vgl. auch 176) - provozieren wollen, um Nichtiges zu entlarven (119) und die Wahrheit wieder ans Licht zu bringen (83; vgl. auch 52.92.143). Die Vfn. müht sich - die zahlreichen Begriffsklärungen (25-27.48-52. 73-84.94-99.118-122.149-153) belegen es eindrücklich - um eine differenzierte Wahrnehmung der Gegenwartsliteratur.

An manchen Stellen scheint es freilich so, als ob die Theorie nun doch den Zugang zur Literatur eher verstellt, denn eröffnet. So wird z. B. die Einschätzung des gegenwärtigen Verhältnisses von Theologie und Literatur - die Säkularisierung ist ubiquitär, die Gottesfrage für viele Schriftsteller uninteressant (14) - mit einer Wesensdifferenz von Theologie und Literatur erklärt. Die Kirche sei auf die "unveränderlichen Wahrheiten (Dogmen)" (18) ausgerichtet, die Literatur als Reaktion "auf das Leben im geschichtlichen Ablauf der Zeit ... einem ständigen Wandel unterworfen" (ebd.). Unveränderliche (ewige) Wahrheiten ständen veränderlichen (kontingenten) Wahrheiten gegenüber. Damit aber steuert die Theorie die Problemwahrnehmung und nicht die Problemwahrnehmung die Theoriebildung.

Zumindest die Frage soll gestellt sein, ob nicht gerade der Dialog mit der Literatur für die theologische Reflexion eine Chance wäre, (theoretische) (Vor)Urteile der skizzierten Art zu verabschieden. Denn vielleicht liegt ja eben darin die Eigentümlichkeit und der Zauber der Literatur (im Sinne der sogenannten "schönen Literatur"): Sie vermag einen - auch das theologische Nachdenken - auf andere Gedanken zu bringen.