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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

917–919

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Titel/Untertitel:

Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder. Hrsg., vorgestellt u. erläutert v. H. Becker, A. Franz, J. Henkys, H. Kurzke, Ch. Reich, A. Stock unter Mitwirkung v. M. Rathey.

Verlag:

München: Beck 2001. 568 S. m. 74 Abb. gr. 8, 1 Lesebändchen sowie einer CD des Windsbacher Knabenchors. Lw. Euro 39,90. ISBN 3-406-48094-2.

Rezensent:

Christoph Krummacher

Sechs Autoren, die allesamt in der hymnologischen Forschung bestens bekannt und ausgewiesen sind, haben dies "Geistliche Wunderhorn" zusammengefügt: Christa Reich und Jürgen Henkys, beheimatet in der protestantischen Tradition, Hansjakob Becker, Ansgar Franz, Hermann Kurzke und Alex Stock, die aus der katholischen Tradition kommen. Die Zusammensetzung dieses Autorenteams spiegelt wider, was dem Fach Hymnologie und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie (IAH) seit vielen Jahren eigen ist, das Überkonfessionelle, eine selbstverständliche ökumenische Blickweite und gegenseitige Befruchtung.

Mit den 50 hier behandelten Liedern (einem Querschnitt von "Christ ist erstanden" aus dem 11. Jh. bis zum Ende des 20. Jh.s) die "großen deutschen Kirchenlieder" zu repräsentieren (wobei es sich übrigens gar nicht nur um deutsche Kirchenlieder im engeren Sinne handelt), das ist ein großer Anspruch. Da mag der Leser/die Leserin wohl manches Lied vermissen und zugleich so manche Wahl irritiert zur Kenntnis nehmen. "Was die Liedauswahl betrifft, war der wichtigste Prüfstein die poetische und musikalische Qualität", schreibt H. Kurzke im Vorwort (10). Ob "Müde bin ich, geh zur Ruh", "Stille Nacht" oder das Neumann'sche resp. Schubert'sche "Heilig, heilig, heilig" diesem Kriterium entsprechen, mag strittig sein. Freilich fügt Kurzke hinzu, "in weitem Abstand" hätten auch "liturgische Bedeutung und eine ausreichende Berücksichtigung aller Jahrhunderte" sowie "subjektive Vorlieben der Herausgeber" eine Rolle gespielt. Dies ist den Herausgebern leicht zuzugestehen, zumal dadurch auch überraschende Entdeckungen ermöglicht werden. Absicht und Motivation des Buches sind noch grundsätzlicherer Natur: "Der größere Teil unserer gebildeten Öffentlichkeit definiert sich heute säkular. Vom Religiösen scheint nur noch der gelegentliche Phantomschmerz zu zeugen, den das wegoperierte Organ hinterließ ... Darf man sich erlauben, zur Linderung des Mangels die alten Lieder, die auch ohne explizite Frömmigkeit voller großer Bilder sind, wenigstens kulturell lebendig zu halten?", schreibt Kurzke im Vorwort (9). Die Kirchen würden "kulturell ernster genommen, wenn sie sich selbst ernster nähmen", fährt er fort. "Das Geistliche Wunderhorn will das Desinteresse an der überlieferten Glaubensgeschichte und die Verwahrlosung des christlichen Bewusstseins bekämpfen und den Stolz auf die eigene Tradition stärken. Es will Brücken zwischen dem Alten und dem Neuen bauen und an das Reservoir der Vergangenheit erinnern, das helfen kann, die religiöse Spracharmut wenigstens zitativ zu überwinden." (10) So wie einst die - den hier gewählten Buchtitel inspirierende - Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" von Achim von Arnim und Clemens Brentano sichten, sammeln, überliefern und damit retten wollte, was nur noch verlorene Tradition schien, will das vorliegende Buch geistlich-theologische Güter wenigstens den "Gebildeten unter ihren Verächtern" (Schleiermacher) attraktiv machen. So ist ein Buch entstanden, das im besten Sinne belehrend, bildungsbürgerlich, schön (nicht zuletzt durch die Abbildungen) und - dies ist nicht negativ gemeint - Ausdruck eines luxuriösen Überflusses ist. Dem Vorwort folgt ein "Eingang", verfasst von A. Franz, H. Becker und Chr. Reich, in dem die Quellen christlichen Singens- Psalmen, neutestamentliche Lieder und lateinische Hymnen - aufgezeigt und charakterisiert werden, um von ihnen her den Verlauf der Kirchenlied-Ströme als quellenbezogene Verbreiterung verständlich zu machen.

Die einzelnen Liedkommentare sind in ihrem Aufbau keinem festen Schema unterworfen. In allen wird zunächst das jeweilige Lied mit Melodie und vollständigem, orthographisch leicht modernisiertem und in der Regel einer heutigen Gesangbuch-Fassung folgendem Text geboten. Die darauf folgenden quellenkundlichen Anmerkungen machen die anschließende Überlieferungsgeschichte transparent. Aufschlüsse von Text und Melodie geschehen dann in einer vom jeweiligen Autor frei gewählten Weise, abgesehen davon, dass sie sich oft auch aus Eigenart und Geschichte des Liedes selbst ergeben. Die 50 Liedkommentare im Einzelnen zu würdigen, würde den Rahmen einer Rezension sprengen. A. Stock bietet zumeist recht genaue Tiefenbohrungen zur theologisch-dogmatischen Urschicht der von ihm vorgestellten Lieder, verzichtet zugleich leider grundsätzlich auf Exkurse zur Melodie. Chr. Reich, die einzige Kirchenmusikerin unter den Verfassern, erstellt mehrfach auch Melodieanalysen und legt immer einen besonderen Akzent auf die Singeerfahrung mit dem jeweiligen Lied; ihr ist es darum zu tun, ein Lied in seiner textlich-melodischen Symbiose nahezubringen, die sich eben durch lebendiges Singen erst umfassend erschließt. J. Henkys geht zumeist ähnlich vor und akzentuiert daneben die ästhetisch-poetische Seite der Texte, um so die Vermittlung von Glauben durch Kunst aufzuzeigen; der praktische Theologe ist bei ihm erkennbar auch, wenn er am Ende seiner Kommentare die möglichen Widerstände heutiger Rezipienten gegenüber den Texten reflektiert und hermeneutische Brücken baut. H. Kurzke, von Haus aus Germanist, ist gleichermaßen textgeschichtlich genau und schließt gerne mit einem Blick auf die literarische und frömmigkeitsgeschichtliche Wirkungsgeschichte "seiner" Lieder, auch so dem aufgeschlossenen, gebildeten Leser Brücken bauend. A. Franz gelingt es wiederholt, durch detaillierte Analysen zur Entstehung und Aussage der Texte die Rezeptionsgeschichte bis hin zur heutigen Rubrikeneinordnung in den Gesangbüchern kritisch aufzuarbeiten, auf Fehler hinzuweisen und damit zukünftigen Gesangbuch-Kommissionen Anstöße zu neuen Überlegungen zu geben. (Ein Lied "wirkt" schließlich auch durch den Ort, der ihm in einem Gesangbuch zugewiesen wird.) H. Becker findet seine Zugänge oft, indem er den liturgischen Ort der Lieder aufsucht, vielleicht um den Preis einer eher binnenkirchlichen Sicht, zugleich mit dem Gewinn, auch genuin katholische Lieder aus der angestammten Nische nur häuslicher Frömmigkeit heraus zu holen.

Natürlich sind derartig summarische Charakterisierungen oberflächlich und mithin ungerecht. Eine Stärke des Buches liegt in seiner Vielfalt, die ihrerseits auch aus der Verschiedenheit der Autoren nach fachlicher Heimat und Temperament resultiert. Einzelne Aussagen zu referieren oder gar kontrovers zu diskutieren (wozu das Buch selbstverständlich auch Anlass gäbe und durch reichen Anmerkungsapparat auffordert), würde hier zu weit führen. Je für sich werden die Liedkommentare in der hymnologischen Diskussion ihre Wirkung tun. Die vielfachen Brüche, die die Texte und Melodien im Lauf der Rezeptionsgeschichte erfahren haben - bei binnen-konfessioneller Rezeption ebenso wie bei Sprüngen über Konfessionsgrenzen hinweg-, gleichen häufig einer Kriminalgeschichte. Sie sind ein farbiger Spiegel der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte. Weil die Autoren nicht konkrete Gesangbuch-Entscheidungen zu rechtfertigen haben, können sie an "Gotteslob" und "Evangelischem Gesangbuch" manche Kritik üben (vgl. 93.143 ff. 153.155.323 f.), die der Beachtung wert ist.

Zum "Luxus" des Buches trägt schließlich die eingelegte CD bei, auf der der Windsbacher Knabenchor (Leitung: Karl-Friedrich Beringer), Torsten Laux (Orgel) und Jochen Roth (Gitarre) 25 Lieder in verschiedenen Sätzen, Bearbeitungen und Orgelimprovisationen zum Klingen bringen. (563 fehlt der Hinweis, dass es sich beim "Orgelzwischenspiel" zu "O Haupt voll Blut und Wunden" um eine Choralbearbeitung von J. S. Bach handelt.) Diese CD ist gewiss schön zu hören, aber sie führt die Intention des Buches ein bisschen zu sehr in die Region des Stimmungsvollen. Und manche Schnittstellen, gelegentlich auch Zeilenübergänge von Orgel begleitetem "Gemeindegesang" sind leider nicht mit der wünschenswerten Genauigkeit produziert.

Hie und da wirkt ein etwas exklusiver, die Vergesslichkeiten unserer Gegenwart strafender und "bessere Bildung" einfordernder Ton störend. (H. Kurzke hatte im Vorwort gesagt, welche "Verwahrlosung" von diesem Buch "bekämpft" werden soll. Zugleich und sympathischerweise spricht er aber auch davon, der Band wolle "den Kirchenlied-Diskurs wieder anschlussfähig machen an die Zeitgeistdebatten der Gegenwart" - vgl. 9.) Ob das Buch den erhofften geistig und kulturell interessierten, der Kirche entfernten Leser finden wird, muss sich erweisen; seine Herkunft aus einem "theologisch unverdächtigen" Verlag kann ihm dabei hoffentlich helfen. Aber auch denjenigen, die praktisch oder lehrend mit dem Kirchenlied umgehen, sei es nachdrücklich empfohlen: es enthält 50 exemplarische und zumeist gelungene Beispiele, wie mit Liedern analytisch umzugehen ist, was in einem Lied zu finden ist, wie tief die Bohrungen zu seinem Verständnis anzusetzen sind, wie Aufschlüsse möglich werden. Dass darüber die lebendige, singende Erfahrung mit dem Lied nicht vergessen werden darf, versteht sich von selbst.