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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

889 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Stenglein-Hektor, Uwe

Titel/Untertitel:

Religion im Bürgerleben. Eine frömmigkeitsgeschichtliche Studie zur Rationalitätskrise liberaler Theologie um 1900 am Beispiel Wilhelm Herrmann.

Verlag:

Münster: LIT 1997. V, 269 S. gr.8 = Studien zur systematischen Theologie und Ethik, 8. Kart. DM 58,80. ISBN 3-8258-3103-5.

Rezensent:

Michael Murrmann-Kahl

Die in den letzten Jahren zunehmende Beschäftigung mit Wilhelm Herrmann beweist, daß dessen Theologie um die Jahrhundertwende den gegenwärtigen Unübersichtlichkeiten offenbar näher steht als diejenige seiner ehemaligen Schüler Barth und Bultmann. Indem Herrmann aus deren langen Schatten heraustritt, zeigen sich die noch unabgegoltenen Elemente seiner Position.

Die aus einem interdisziplinären Bayreuther DFG-Projekt zur Rationalitätskrise der Wissenschaften um 1900 hervorgegangene, vom jetzt in Erlangen lehrenden Systematiker Walter Sparn betreute Dissertation von Uwe Stenglein-Hektor geht zwar methodisch traditionell der Werkbiographie Herrmanns entlang (13). Aber der Vf. behelligt einen glücklicherweise nicht mit der sattsam bekannten These vom Aporetiker, der den "Christozentrismus" seines Lehrers Albrecht Ritschl verraten habe. Vielmehr hat er den konsequent sozialhistorischen Ansatz einer Frömmigkeits- bzw. Mentalitätsgeschichte gewählt, um Herrmanns Theologie in den theologischen und kulturellen Kontext seiner Zeit zu vernetzen (5-18). Dabei kann er auf noch unpubliziertes Material (besonders Briefe) der Nachlässe Herrmanns, Martin Rades und Rudolf Ottos in der Universitätsbibliothek Marburg zurückgreifen (vgl. 234). Sonach gelingt es dem Vf. meines Erachtens erstmals, eine einleuchtende Entwicklung Herrmanns nachzuzeichnen, die weder auf der Behauptung eines Abfalls vom Lehrer noch auf derjenigen einer systematischen Denkschwäche beruht. Angesichts der völlig veränderten Plausibilitäten für die Vergewisserung der Tragfähigkeit der christlichen Religion unter den Bedingungen der Moderne läßt Herrmann vielmehr bewußt den Anspruch einer kohärenten Darstellung der dogmatischen Lehrstücke fallen, um über verschiedene Zwischenstufen schließlich zum Theoretiker einer in der damaligen akademischen Welt neuen literarischen Reflexionsform zu werden: der Autobiographie. Der Vf. würdigt exemplarisch Herrmann als charakteristischen Vertreter der "Übergangsgeneration" (14) des Kaiserreichs, wobei die "Bedeutungsverschiebungen im diachronen Aufbau des literarischen Lebenswerks" zugleich der "Ausdruck kollektiver Bewußtseinsveränderungen" sind (17 f.).

Im ersten Kapitel "Christentum als Weltanschauung" (19-83) verfolgt der Vf. die These, daß allen Anfängen als Ritschl-Schüler in seiner Metaphysik- von 1876 und Religionsschrift von 1879 zum Trotz Herrmann mit seiner Umstellung der Ritschlschen Theologie auf "Persönlichkeit" den Verlust religiöser Kosmologie reflektiert (32-64, bes. 41 ff.). Es ist gerade die Beschleunigung des naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritts, die die traditionelle "Metaphysik als Plausibilitätshorizont religiöser Selbstreflexion überholt" hat (47). Dabei radikalisiert Herrmann die religiöse Subjektivität in ihrer Emanzipation von der Tradition im Gegensatz zur Erlanger Erfahrungstheologie, die beim vergleichbaren Ausgangspunkt diese dennoch mit dem Rückbezug auf Bekenntnisschriften lehrhaft-dogmatisch einzuhegen sucht (57 ff.) Mit seinem "Verkehr des Christen mit Gott" (1886) setzt Herrmann dann im Widerspruch zu Ritschl (67) einen neuen Akzent, wenn er auf seine bisherigen erkenntniskritischen und dogmatischen Prätentionen verzichtet. Denn Herrmann entfaltet jetzt "seinen Begriff lutherischer Frömmigkeit als Erscheinung einer Lebensmacht im Alltag, die den Menschen in den Stand eines neuen Gottesverhältnisses setzen sollte" (69, Hervorh. von mir). Zentral für den gemeinsamen Horizont der etwa im Kontext der Feuerbachschen Religionskritik (74-82) geführten Debatten ist also "das Problem einer authentischen Selbstprüfung religiöser Erfahrung, einer individuellen Klärung der religiösen Frage angesichts der stetig aufgegebenen Frage nach dem Selbstverhältnis der bürgerlichen Existenz" (82, Hervorh. von mir).

Das zweite Kapitel versucht, den Integrationsanspruch der Herrmannschen Theologie an einem sozialethischen (Stellung zur Arbeiterklasse) und dogmatischen (Apostolikumsstreit von 1892) Thema zu entfalten (84-143). Gegen A. Stoeckers antisemitisch gefärbtes Verkirchlichungsprogramm der Arbeiterschaft spricht sich Herrmann für eine sachliche Wahrnehmung der "sozialen Frage" und für ein relatives Recht der Sozialdemokratie aus (88 ff.). Die fürs Bürgertum neue Erfahrung der Realitäten der Arbeitswelt wird anhand der Konversion des Pfarrers Paul Göhre zur Sozialdemokratie verdeutlicht (98 ff.). Im Gefolge des Apostolikumsstreits und der Stellungnahmen Herrmanns dazu wird die Frage der "religiöse(n) Identitätsbildung (zukünftiger Geistlicher) als Bedingung und Gegenstand theologischer Wissenschaftlichkeit thematisiert" (118).

Dies läßt sich an Herrmanns Empfehlung der Selbstbildung der Gläubigen etwa anhand der autobiographischen Schriften von Arthur Bonus mit ihrem Germanisierungsprogramm des Christentums vertiefen (118-131). Herrmanns "Ethik" von 1901 stellt sonach den Versuch dar, "statt durch die Theorieform des Systems das Christentum aus seiner Lebenspraxis heraus, in der Beschreibung seiner Institutionen und Funktionen in der Lebenswelt zu dokumentieren" (87, vgl. 132 ff.).

Schließlich zeigt der Vf. im dritten Kapitel zu Herrmanns später Erlebnistheologie (144-183) im Kontext des zeitgenössischen Neukantianismus (H. Cohen, 149 ff.), der Lebensphilosophie und Soziologie (G. Simmel, 157 ff.) und der Theologie (F. Overbeck, 165 ff.) die Bedeutung der Autobiographie auf, die zu einer "spezifischen Frömmigkeits-, damit zu einer spezifischen Denk- und erstmals auch Darstellungsform liberaler Theologie" avanciert (148). Wenn auch die autobiographischen Mitteilungen Herrmanns selber spärlich ausfallen (18, 148, 161ff., 229), so besteht doch kein Zweifel daran, daß seine Spättheologie die Theorieform dieser Autobiographik darstellt (174ff.) In seiner Lutherbiographie von 1918 versteht es Herrmann durchaus, den Anspruch einer solchen religiösen Selbstdarstellung theoretisch zu würdigen. "Literarisch-praktisch blieb dieser Durchbruch bei Herrmann unausgeführt" (180).

Damit terminiert im vierten Kapitel die Dissertation in der These von der Theologie als religiöser Selbstdarstellung (184-225). Daß die Orientierung an der religiös gedeuteten Lebensgeschichte leitend ist (227), verrät nämlich sowohl Troeltschs beredtes Schweigen über die eigene Religiosität bei gleichzeitiger wissenschaftlicher (soziologischer und historischer) Behandlung der Religion (185 ff.) als auch die Bedeutung religiöser Reiseerlebnisse für R. Otto (214 ff.). Insbesondere für den Herrmann-Schüler Karl Barth vermag der Vf. ebenfalls nachzuweisen, wie sehr der Römerbrief-Kommentar als "Ausdruck einer religiösen Selbstdarstellung des Autors" (205) im Stil einer prophetischen Gerichtsrede über die gegenwärtige Kultur gelten kann (196 ff.). Hinter Barths emphatischer Ablehnung des Religionsbegriffs steckt selbst "ein ausgesprochen religiöses Interesse" der Neuwerdung des religiösen Bewußtseins durch Ekstase (231). Demnach besteht insgesamt der mentalitätsgeschichtliche Zusammenhang in der religiösen Individualität, die nicht nur Gegenstand des theologischen Diskurses ist, sondern in Ablösung des dogmatischen Lehrbegriffs "zu seinem Medium, zu einem Erfahrungsraum und zum Deutungshorizont theologischer Reflexion selbst" avanciert (232). Die offenkundige Aktualität dieser Debatten für die Gegenwart liegt genau in dieser reflektierenden Verknüpfung der religiösen Tradition und Erfahrung mit der je individuellen Biographie.