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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

821–823

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Mieth, Dietmar

Titel/Untertitel:

Was wollen wir können? Ethik im Zeitalter der Biotechnik.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2002. IX, 532 S. gr.8. Geb. ¬ 35,00. ISBN 3-451-27559-7.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Dietmar Mieth, einer der international ausgewiesenen und gremienerfahrenen theologischen Experten auf dem Gebiet der Bioethik, legt in dem anzuzeigenden Buch eine Summe seiner Erfahrungen und Reflexionen vor. Sein Entwurf einer Ethik im Zeitalter der Biotechnik ist über einen längeren Zeitraum entstanden, wobei der Vf. auf eine Fülle von Einzelpublikationen zurückgreifen konnte (vgl. V). So ist zwar ein zusammenhängendes Ganzes entstanden, doch sind die verwendeten Vorlagen unterschiedlich intensiv bearbeitet worden und nicht immer auf den neuesten Stand der Diskussion gebracht worden. Gelegentlich kommt es zu Wiederholungen und Überschneidungen. Die Inhaltsübersicht beschränkt sich auf die sechs Hauptteile und ihre Kapitel. Es fehlt die Gliederung der einzelnen Kapitel, was bei einem Buch dieses Umfangs die Orientierung und vor allem das Wiederfinden einzelner Abschnitte erschwert. Das ist bisweilen misslich, z. B. wenn man sich über die ethisch zentrale Frage nach dem ontologischen, moralischen und rechtlichen Status des Embryos informieren will (vgl. 170 ff.).

Der erste Teil (1-43) des gleichwohl lesens- und empfehlenswerten Buches gibt eine Übersicht über die ethischen Herausforderungen des biotechnologischen Zeitalters. Der zweite Teil (45-112) stellt sozialethische Überlegungen zum Einsatz der Biotechnik an. Um Fragen der Ethik in der Biomedizin geht es im dritten Teil (113-260). Die Palette der Themen reicht von der Reproduktionsmedizin über Genanalysen und pränatale Diagnostik bis zum Klonen, zur Stammzellforschung und zur ethischen Bewertung klinischer Versuche am Menschen einschließlich der fremdnützigen Forschung an nicht Zustimmungsfähigen. Der vierte Teil (261-322), "Ethik in der Biotechnik" überschrieben, befasst sich mit Problemen der "grü- nen" Biotechnologie, des Tierschutzes, der Patentierung biotechnologischer Erfindungen und der Xenotransplantation. Um "Biopolitik" geht es im fünften Teil (323-414). Im Vordergrund stehen nicht so sehr der theoretische Begriff der Biopolitik als vielmehr praktische Beispiele für das Verhältnis von Recht und Sittlichkeit, die Kodifizierung von Menschenrechten auf dem Gebiet der Biomedizin, die politische Funktion von Ethik im Kontext europäischer Bio- und Forschungspolitik. Beobachtungen zu rechtsethischen Unterschieden in Europa und Überlegungen zu Pluralismus, Toleranz und Kompromiss bilden den Abschluss. Der sechste und letzte Teil (415-509) widmet sich fundamentalethischen Fragen und theologischen Grundlagen einer christlichen Bioethik. Diskutiert werden der Begriff der Natur und sein Verhältnis zur Schöpfungstheologie, Fragen der christlichen Anthropologie, theologische Zugänge zur Idee der Menschenrechte und Fragen einer interkulturellen Ethik der Religionen. Ein Glossar und ein systematisch gegliedertes Literaturverzeichnis runden das Buch ab. Leider fehlen Namen- und Sachregister, was seine Nutzbarkeit erschwert.

Die materialethischen Entscheidungen und Argumentationen des Vf.s können hier nicht im Einzelnen diskutiert und gewürdigt werden. Wir müssen uns darauf beschränken, einige Hauptlinien seines lehrreichen Buches nachzuzeichnen. Der Vf. weiß sich A. Auers Konzeption einer "autonomen Moral im christlichen Kontext" (468 ff.) ebenso verpflichtet wie dem Ansatz einer erfahrungsorientierten ("experientiellen") Ethik und dem Konzept von Ethik als sozialtherapeutischer Handlungswissenschaft. Theologische Ethik wird dementsprechend nicht als dogmatisch normierte "Glaubensethik" (10), sondern als Beteiligung an einem auf Verallgemeinerungsfähigkeit zielenden vernünftigen Diskurs verstanden, in dessen Rahmen die sittlichen Konsequenzen des Glaubens rational einsichtig gemacht werden sollen. Dabei rechnet M. freilich mit gewissen Wahrnehmungsblockaden, die eine "vom Glauben her befreite Vernunft" fallweise auflösen muss (12). So geht es ihm auch nicht um theologische Kasuistik oder um metaphysische Letztbegründungen, sondern um die Bündelung von relativen Argumenten zu "Kabeln", deren Einzelstränge sich gegenseitig stützen sollen (vgl. 181.232.245 u. ö.). Und hierbei spielen dann auch theologische Motive eine Rolle. Wie haltbar die so geflochtenen Argumentationsstränge sind, wäre im Einzelfall zu überprüfen. Die einschlägigen Aussagen und Verdikte des römisch-katholischen Lehramtes zur Reproduktions- und zur Biomedizin spielen bei M. sympathischerweise eine untergeordnete Rolle oder werden z. T. kritisch diskutiert, was allerdings nichts daran ändert, dass der Vf. im Ergebnis kaum abweichende Positionen vertritt. Das gilt insbesondere für den moralischen Status von Embryonen (170 ff. - interessant jedoch die Abweichungen 465!) und die Ablehnung jeder Forschung mit embryonalen Stammzellen sowie der Präimplantationsdiagnostik. In diesen Fragen herrscht in Deutschland ein gewisser ökumenischer common sense, der sich durch die Argumentation des Vf.s bestätigt sehen wird, unter theologischen Ethikern jedoch keineswegs unumstritten ist.

Wichtige theologische Motive sind für M. der schöpfungstheologisch begründete Gedanke der Menschenwürde, welche im Anschluss an W. Huber einer (utilitaristischen) Ethik der Interessen gegenübergestellt wird (bes. 478 ff.) oder die Dialektik von Gesetz und Freiheit (327 f.). Der Vf. verteidigt die kantische Tradition einer Gattungsethik (vgl. auch H. Jonas) gegen den Speziezismusvorwurf z. B. P. Singers (27 ff.). Der Schöpfungsglaube wird allerdings vornehmlich unter dem Aspekt der Endlichkeit bzw. dem Plädoyer für eine "neue Endlichkeit" des Menschen thematisch (452) und in der Forderung nach Selbstbegrenzung praktisch. In diesem Sinne ist auch die im Buchtitel gestellte Frage zu verstehen: Vernünftigerweise dürfen wir nicht alles können wollen - wobei allerdings zu fragen wäre, um wen genau es sich bei diesem im Buch immer wiederkehrenden "Wir" eigentlich handelt. Die Klage des Vf.s über den "Verlust eines Ethos der Passivität und des Leidens" (139) und über dessen praktische Konsequenzen verdient grundsätzlich durchaus Zustimmung. Die Interpretation des christlichen Schöpfungsglaubens als einer "religiösen Grenzerfahrung" (105) führt freilich dazu, dass sich die theologische Ethik offenbar vor allem für Grenzziehungen zuständig fühlt (126 f.136.159 ff.), wie überhaupt über weite Strecken ein warnender Unterton vorherrscht und allerlei Vermutungen oder Befürchtungen geäußert werden, was alles auf biomedizinischem Gebiet an Schrecklichem geschehen könnte, aber offenbar nicht zwangsläufig eintreten muss (z.B.143.150).

Die "Verunsicherung unserer Lebenswelt" (233) ist ein häufig wiederkehrendes Motiv, auch wenn der Vf. an verschiedenen Stellen seine Vorbehalte gegenüber Slippery-slope-Argumenten beteuert (z. B. 181). Zum allgemeinen Unbehagen in der biotechnologischen Zivilisation gehört beim Vf. die von T. Engelhardt übernommene These von den beiden ethischen Kulturen in den USA, nämlich einer "Puritanermoral" im Osten mit europäischen Wurzeln und einer "Cowboymoral" im Westen (4.507 ff.). Letztere legitimiere einen rücksichtslosen biotechnologischen und biomedizinischen Fortschritt, weil sie "ethische Richtigkeit mit praktischen Kompromissen" verwechsle, "die durch Interessenausgleich gefunden werden" (508). "Wir" dagegen - "wir" sind offenbar die Bürger der Bundesrepublik Deutschland- "haben aber sowohl in der Ethik als auch im Verfassungsrecht Grundsätze, die nicht zur Disposition stehen" (ebd.). Hier lauert die Gefahr des Antiamerikanismus, vor dem sich die deutschsprachige Bioethik wie vor ihrer auch sonst zu beobachtenden Neigung zur Überheblichkeit hüten sollte.

Der "Durchbrechermentalität" (9) der Fortschrittsoptimisten setzt M. seine "Problemlösungsregel" entgegen, die lautet: "Man soll Probleme nicht so lösen, dass die Problemlösung mehr Probleme schafft, als sie löst" (9.42.126 u. ö.). Der Vf. begreift diese Maxime als Analogieschluss zur Goldenen Regel (vgl. 138 f.). Seine griffige Formel leidet natürlich an denselben bereits von Kant aufgezeigten Unzulänglichkeiten wie die Goldene Regel selbst. Schon der Begriff des Problems bleibt einigermaßen unbestimmt, und das Abwägen von Folgen führt auf das weite Feld der Güterabwägungen und der Probleme ihrer Kriteriologie. So sehr man M. darin zustimmen möchte, dass die Ethik nicht erst auf den Plan gerufen werden sollte, wenn der Zug bestimmter technologischer Entwicklungen bereits abgefahren ist, kann doch umgekehrt die Forderung nach einer präventiven Ethik (17 ff.) in den Paternalismus moralischer Eliten münden, welche anderen vorzuschreiben versuchen, was diese können wollen sollen. Das "Wir" im Buchtitel ist eben das entscheidende sozialethische Problem der Bioethik, national wie supranational. Dementsprechend bedarf die Klärung des Begriff der Biopolitik weiterer fundamentalethischer Anstrengungen. M.s Ausführungen zu Biopolitik, Pluralismus, Toleranz und Kompromiss (323 ff.412 ff.) machen das deutlich.