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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

879–881

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

(1)Teerstegen, Gerhard (2)Ludewig, Hansgünter

Titel/Untertitel:

(1)Gerhard Tersteegen und die Familien Schmitz in Solingen. Briefe aus den Jahren 1734-1764, kommentiert und hrsg. von H. Neeb.
(2)"Du durchdringest alles". Gebet im Alltag bei Gerhard Tersteegen.

Verlag:

(1)Düsseldorf: Verein für Rheinische Kirchengeschichte 1997. VIII, 269 S. m. Abb. gr.8 = Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland, 11. Kart. DM 28,-. ISBN 3-930250-15-2.
(2)Düsseldorf: Verein für Rheinische Kirchengeschichte 1997. VIII, 182 S. gr.8 = Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland, 12. Kart. DM 16,-. ISBN 3-930250-16-0.

Rezensent:

Martin H. Jung

Zwei neue Bücher über den großen, bis in die Gegenwart nachwirkenden, aber erst unzulänglich erforschten protestantischen Mystiker Gerhard Tersteegen (1697-1769) hat das Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland herausgegeben. Horst Neeb (geb. 1928) ist einer auf den ersten Blick sehr speziellen Fragestellung nachgegangen: Er untersucht die Beziehungen Tersteegens zu zwei Solinger Familien namens Schmitz.

Die wichtigere der beiden Familien ist die des Buchbinders und Verlegers Johann(es) Schmitz (1706-1771) und seines Sohns Peter Daniel Schmitz (1738-1808). Von ihnen wurden zahlreiche Schriften Tersteegens (vgl. den Überblick auf 41-51) verlegt. Fälschlicherweise wird in der Literatur mehrfach behauptet, Schmitz habe die Bücher auch gedruckt, was aber, wie Neeb klar herausstellt, nicht der Fall ist. Die Beziehungen Tersteegens zu dieser Familie Schmitz beschränkten sich keineswegs - wie es selbst in der neueren Tersteegen-Forschung (Cornelis Pieter van Andel, Johann Friedrich Gerhard Goeters) erscheint - auf das Geschäftliche. Die von N. veröffentlichten Dokumente zeigen, wie der Laientheologe seine Anhängerinnen und Anhänger geistlich beraten und seelsorgerlich betreut hat. Man besuchte sich und hielt brieflich Verbindung.

Die meisten der insgesamt 86 Briefe, die von N. veröffentlicht werden, waren der Forschung nicht unbekannt, da sie schon in den Tersteegen-Briefsammlungen des 18. Jh.s abgedruckt wurden. Aber der Autor ist auch in die Archive gegangen und ediert in seinem Buch einige gehaltvolle Tersteegenbriefe (z. B. ein Brief an Catharina Margaretha Schmitz, 12. Januar 1741, zum Thema "Nachfolge", 98 f.), die bisher noch nicht gedruckt wurden und auf absehbare Zeit nicht in einer wissenschaftlichen Ausgabe zur Verfügung stehen werden.

Interessant sind ferner bisher nicht veröffentlichte Archivalien aus den Jahren 1737 und 1740, die der Autor zitiert und teilweise sogar vollständig dokumentiert. Damals wurden in Solingen Konventikel verboten und Tersteegens Anhänger verhört und bestraft. Ausgelöst wurden die Konflikte durch das Auftreten des Grafen Ludwig Friedrich von Castell-Remlingen (1707-1772), eines Vetters und Anhängers Zinzendorfs, der von dem lutherischen Pfarrer Johann Gangolf Wilhelm Forstmann (1706-1759) nach Solingen eingeladen worden war. In diesem Zusammenhang begegnet uns die zweite Familie Schmitz, die Familie des Kauf- und Handelsmanns Johann Henrich Schmitz (1685-1741). N.s Studien ermöglichen es erstmals, zwischen beiden Familien klar zu unterscheiden.

Zu beiden Familien Schmitz und zu weiteren Familien, die in dem Buch eine Rolle spielen (Weck, Lobach, Ronsdorf) wurden vom Autor zahlreiche genealogische Daten zusammengetragen. N.s Buch bietet Texte, Daten, Fakten und viele ansprechende Abbildungen und wurde mit Sorgfalt gestaltet. Es ist ein Buch zum Nachschlagen, weniger zum Durchlesen, auf das künftige Tersteegen-Forscher gerne zurückgreifen werden. Etwas unübersichtlich ist das Werk leider im Aufbau, hilfreiche Personen-, Orts- und Bibelstellenregister erschließen jedoch die Briefe.

Der Autor ist weder gelernter Historiker noch Theologe, sondern geht mit seinen von Johann Friedrich Gerhard Goeters (1926-1996) angestoßenen regionalgeschichtlichen Forschungen einem Hobby nach. Deshalb verzichtet er darauf, das von ihm gesammelte Material inhaltlich auszuwerten und seine Relevanz für die Geschichte des Pietismus in Solingen und für die Tersteegen-Forschung aufzuzeigen. Daß der Autor nicht vom Fach ist, merkt man auch am Literaturverzeichnis, das nicht den üblichen wissenschaftlichen Standards entspricht. Die "Biogramme", in denen die im Buch erwähnten bekannten und unbekannten Personen erläutert werden, sind uneinheitlich, fehlerhaft und voller Lücken. So kann der Autor nicht näher erklären, wer "Mallaval" (221) ist. Die gängigen Lexika geben Auskunft: François Malaval (1627-1719) war ein französischer Theologe, der - obwohl er blind war - zum Kleriker geweiht wurde und eine große Bedeutung für den Quietismus erlangte. Sein wichtigstes Werk ist die "Pratique facile pour élever l’âme à la contemplation" (Paris 1664 u. 1669).

Keine neuen Materialien, dafür aber tiefgehende Interpretationen bietet der Braunschweiger Pfarrer Hansgünter Ludewig in seinem Buch über das "Gebet im Alltag bei Gerhard Tersteegen", das weit mehr enthält, als dieser Titel vermuten läßt, nämlich eine umfassende Einführung in Tersteegens Denken und in seine Spiritualität. Ganz neu sind die Dinge, die man hier lesen kann, freilich nicht, denn sie beruhen auf einer Hamburger Dissertation des Jahres 1982, deren erster Teil bereits 1986 unter dem Titel "Gebet und Gotteserfahrung bei Gerhard Tersteegen" in den "Arbeiten zur Geschichte des Pietismus" (Nr. 24) veröffentlicht wurde. Der von der Öffentlichkeit leider wenig beachtete 300. Geburtstag Tersteegens am 25. November 1997 gab den Anlaß, nun den zweiten Teil dieser Dissertation in einer bearbeiteten und erweiterten Form zu veröffentlichen.

L. ist mit Tersteegen vertraut, und zwar nicht nur aus wissenschaftlicher, sondern auch aus persönlich-spiritueller Perspektive, und er kennt die umfangreichen Quellen. Er will die Gestalt des 18. Jh.s, mit der er sich seit fast dreißig Jahren beschäftigt, für die Gegenwart erschließen. Damit ist aber auch die Grenze der Arbeit markiert. Für den Historiker und den nach geschichtlichen Zusammenhängen fragenden Theologen ist L.s Studie unbefriedigend. Es handelt sich um eine auf die Gegenwart zielende, werkimmanente Tersteegen-Interpretation, um eine einfühlsame Nachzeichnung und reflektierte Systematisierung seiner Gedanken, aber nicht um eine historisch-kritische Analyse seiner Werke im biographischen und geschichtlichen Kontext.

Der Autor weist zwar ständig auf altkirchliche, mittelalterliche und frühneuzeitlich-katholische Traditionen der christlichen Mystik hin, mit denen sich Tersteegens Denken berührt oder von denen es sich unterscheidet, aber näher untersucht werden diese Zusammenhänge nicht. Zur Frage, was Tersteegen gekannt hat und wovon er wann und wie beeinflußt wurde, gibt L. nur wenige Hinweise, zum Beispiel auf die Werke von Gottfried Arnold (1666-1714) und Jeanne-Marie Bouvière de la Mothe Guyon (1646-1717). In aller Regel bleibt sie unbeantwortet. (Vgl. hierzu Rudolf Mohrs Auseinandersetzung mit L.s erstem Buch im "Jahrbuch zur Geschichte des Pietismus" 13, 1987, 278-283, und die von ihm gezeigten Aufgaben einer wirklichen Tersteegen-Forschung.)

Das neue Buch bietet zunächst eine Hinführung zu Tersteegens Leben und Denken und widmet sich dann im Detail zwei Themen: Dem Zusammenhang von "Rechtfertigung und Heiligung" im Denken des reformierten Pietisten (30-94) und den sieben Stufen, mit denen er in seiner von der Mystik geprägten Frömmigkeit "vom Stand des Gesetzes zum Stand der Vollkommenheit" aufsteigt (95-153). Tersteegens geistliche Ansichten, Einsichten und Anweisungen werden dabei in Bezug gesetzt zu seinen Lebenserfahrungen und seinem Lebensstil, was freilich auf Grenzen stößt, denn über Tersteegens Leben und seine religiösen Erfahrungen ist kaum etwas bekannt, da er wenig über sich selbst gesprochen und geschrieben hat.

Das Anliegen L.s, Tersteegen als "orthodoxen" Protestanten zu retten, indem er die Vereinbarkeit seiner Rechtfertigungs- und Heiligungslehre mit der reformatorischen nachzuweisen versucht, ist schon vom Ansatz her fragwürdig. Zur Diskussion fordert überdies die Erklärung heraus, die er für die demonstrierte Übereinstimmung gibt: Das Beispiel Tersteegens zeige, "daß ein Laie die innere Bewegung des reformatorischen Rechtfertigungsverständnisses erfaßt und nachgezeichnet hat, und zwar ohne nennenswertes Studium der Reformatoren, allein aus dem regelmäßigen Umgang mit der Schrift und aus der inneren Dynamik eigener Gebetserfahrung" (94).

Trotz dieser kritischen Anfragen: Man muß L.s Tersteegen-Interpretation zur Kenntnis nehmen, denn sie ist theologisch durchdacht. Die Abhandlung ist in sich geschlossen und ausgesprochen angenehm zu lesen. Das Manuskript wurde allerdings in Eile hergestellt, wovon die zahlreichen Druckfehler zeugen. Zitiert werden Texte des 17. und 18. Jh.s manchmal nach sprachlich modernisierten Neudrucken und nicht - wie es in einer wissenschaftlichen Arbeit erforderlich gewesen wäre - nach den Originalen. Das Buch enthält ein hilfreiches Personenregister und eine übersichtliche Zeittafel.

L. schließt sein zum Geburtstagsjubiläum geschriebenes Buch mit einer Schilderung von Tersteegens Leiden und Sterben. Am Ende des geistlichen Wegs steht bei Tersteegen keine enthusiastische Entrückung, sondern die Erfahrung des Nichts, des Leids, des Kreuzes, der Gottverlassenheit: der "Stand der Überlassung".