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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

763–765

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Urban, Christina

Titel/Untertitel:

Das Menschenbild nach dem Johannesevangelium. Grundlagen johanneischer Anthropologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2001. X, 499 S. m. Abb. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 137. Kart. ¬ 74,00. ISBN 3-16-147604-2.

Rezensent:

Ulrich Mell

"Wer ist der Mensch?" Von dem Versuch einer angemessenen Antwort auf diese Frage kann sich keine christliche Theologie dispensieren: Zu bedrängend werden die Schwierigkeiten eines gewaltlosen Miteinanders der religiösen Kulturen erfahren, zu absurd erscheinen die biologischen Manipulierungsmöglichkeiten, und zu bedrohlich ist die Überbevölkerung der Erde. Nun ist von einer exegetischen Studie nicht zu erwarten, dass sie Probleme, ja Defizite einer neuzeitlichen Anthropologie aufarbeitet. Sie kann es jedoch leisten, dass die joh Vorgaben für ein christliches Menschenbild in einer auf dem historischen Verstehen biblischer Schriften aufbauenden Theologie Gehör finden (vgl. 6).

Die bei dem Kieler Neutestamentler Jürgen Becker angefertigte Dissertation schließt eine Lücke, hebt sie doch die Anthropologie des Joh monographisch auf den Schild. Das Buch hat drei Teile: Auf die "Einleitung" (1-13) folgt in Teil 1 eine Erörterung von "Modellen und Theorien zur Sprache und zum Denken im Joh" (12), überschrieben mit "Der Mensch unter dem Wort" (15-162). Teil 2, "Grundlagen des johanneischen Menschenbildes", bildet den Hauptabschnitt (163-441). U. exegesiert die "Jüngerberufung" Joh 1,35-51, die Szene des joh Jesus mit der Samaritanerin (4,1-42) und das Gespräch des joh Jesus mit den Juden (8,21-59). Der Schluss (443-461) bietet eine "Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse" (445-455).

Die Auswahl der joh Texte beruht auf zwei Anforderungen: Sie lassen sich auf den Evangelisten Johannes zurückführen (vgl. 173 f.). Mit dieser Entscheidung folgt U. der literarkritisch-theologiegeschichtlichen Theorie ihres Lehrers J. Becker1 zum Joh. Die Texte geben zudem Antwort auf die Fragen der anthropologischen Trias (vgl. 180): "Woher kommt der Mensch?" (vgl. Joh 8,23.44.47), "Wer oder was ist der Mensch?" (vgl. Joh 1, 38b.c: der Mensch als Fragender; 4,9.27: der Mensch als Mann und Frau) und "Wohin geht der Mensch?" (vgl. 8,21 f.).

Die Anlage der Untersuchung überrascht positiv: U. führt die Konturen eines joh Menschenbildes nicht anhand einzelner Sinalworte vor (zu amartia im Joh vgl. 319-324), sondern beachtet die sprachliche Form des Joh und erläutert seine Anthropologie entsprechend den Dialogtexten des göttlichen Gesandten Jesus. So wie die Auswahl der joh Texte ihr Recht hat, so ist sie doch begrenzt. Es fehlt u. a. eine Besprechung des Nikodemusgespräches Joh 3,1 ff. Der Titel von U.s Untersuchung erhebt mithin einen (zu) großen Anspruch.

U. schlägt sich auf dem gegenwärtigen Minenfeld der methodisch pluralen Joh-Interpretation recht wacker: Durch eine Auswertung der Joh-Exegese von R. Bultmann und E. Käsemann erarbeitet sie sich eine methodische und sprachtheoretische Kriteriologie (15-162). Der forschungsgeschichtliche Spiegel (99-158) würdigt positiv nur den Beitrag von J. Blank2, "daß der Schlüssel zum Bild des Menschen im Joh in seiner Sprachfähigkeit verborgen liegt" (158).

Sprache, so stellt U. zu Joh 1,3 f. fest, gehört nach joh Verständnis "zum fundamentalen Begreifen der Wirklichkeit" (17.30.425 u. ö.). "Sind nun aber Sprachsysteme offen, so sind sie auch immer vage" (51, vgl. 96). Verständigung werde erreicht, wenn "beim Schreiben und Reden ... Vagheiten als Deutungsspielräume mitgesetzt" werden (53). Der Beurteilung der joh Sprache als "fremd, rätselhaft, unbestimmt, unklar, ungenau" usw. (52) ist mit dem Terminus der Vagheit positiv zu begegnen. Die joh Missverständnisse (vgl. 62-98) sollten nach U. nicht länger als literarische Technik oder Ausdruck joh Christologie bewertet werden (vgl. 84.97.161). Stellt der Evangelist heraus, "daß Verstehen und Nichtverstehen durch die Vagheit der Worte Jesu bedingt ist" (80), "so liegt im Joh ein anthropologischer Dualismus vor" (83, vgl. 98.161).

Die "semantische Theorie der Vagheit" (167.445 u. ö.) entwickelt U. für die Exegese der joh Dialogszenen weiter, indem sie eine "Prozessualisierung von Vagheit" (217.288 u. ö., vgl. die Textdiagramme 223.289.422. 435) in vier Stadien erkennt: "Eingangs steht die vage Rede ..., gefolgt von dem sich daran anschließenden Deutungskonflikt", der "eine dialogische Änderung der Situation durch eine weitere Explikation der vagen Wendung oder des vagen Begriffs ein[-leitet]" (445). Dabei entstehen drei Ausgänge des Vagheitsprozesses: das Verstehen - so Joh 1,49 -, das Nichtverstehen - so 8,59 - und der offene Schluss - so für U. (!) 4,29 (vgl. 272. 285).

Die Grundlagen des johanneischen Menschenbildes sind folgende: Stellt Joh 1,35-51 die "Orientierungsbedürftigkeit" und "Be-ziehungshaftigkeit" des Menschen fest (215), so drückt 4,23f. "die den Menschen wesenhaft innewohnende Unvollkommenheit" zum Lebensgewinn aus (265). Denn die anthropologisch notwendige Beziehungsfindung ist nach den Versen 10.14 an "die Gotteserkenntnis und damit das Heil ... allein an die worthafte Selbstoffenbarung des Sohnes gebunden" (264, vgl. 241. 247.447). Die Möglichkeit von "Neukonstituierung" (447, vgl. 267. 273) wird durch den göttlichen Geist geschenkt (vgl. Joh 6,63; 14,26). Das Ziel des Menschseins besteht in der "worthaften Erschließung der göttlichen Wirklichkeit als ewiges Leben" (447), joh gesprochen: in der Gotteskindschaft (vgl. 268). Verfehlt der Mensch jedoch seine Gottesbeziehung, so bleibt ihm nur die "A-Relationalität". Mit diesem Ausdruck beschreibt U., "was im Joh mit den Termini Sünde und Lüge (vgl. bes. Joh 8,21.24.34.44) qualifiziert wird": den "Solipsismus, das menschliche Aus-sich-selbst-sein-wollen und damit ein selbstverschuldetes Nicht-Inbeziehungsetzen zum Sohn und zum Vater" (448, vgl. 302).

Die Thesen U.s zur joh Anthropologie kommen einer "traditionellen theologischen Anthropologie" recht nahe (448 f., vgl. 273). Sie verneinen, dass das Joh eine (moderne) Anthropologie des nach vorne offenen Menschseins vertritt (vgl. 265). Der joh Sündenbegriff versteht diese weder als Macht noch als sittliche Größe, sondern als Beziehungsverfehlung (zu Joh 8,21, s. 316-326). Dabei ist über den Menschen nicht prädestinatianisch entschieden: Der Kontext von 8,23.44.47, nämlich Glaubensanfang und Glaubenserhalt der Juden (V. 30 f.), sage, dass die "einai-ek-Formeln ... als Zugehörigkeitsaussagen zu qualifizieren [sind], die die wesenhaft in den Menschen angelegte Beziehungshaftigkeit in den zwei alternativen Ausprägungen der ... Beziehungskonstituierung [als Gotteskindschaft oder Sünde] präsentieren" (394).

U. macht es ihren Lesern nicht leicht. Ihre Textbetrachtung führt zu inhaltlichen Überschneidungen. U.s Stärke liegt in der Erklärung joh Dialoge. Mit ihren Erläuterungen das joh Spiel mit semantischer Vagheit zu durchschauen, gehört zu den Leckerbissen. Da U.s Ergebnisse vornehmlich auf synchroner Basis gewonnen sind, dürften sie für eine Joh-Forschung jeglicher Farbe akzeptabel sein.

Dem Rez. fielen Unsicherheiten bei der Einhaltung des Satzspiegels und einige Zeichen- und Rechtschreibfehler auf. Die Literaturhinweise entbehren der guten Sitte, bei Erstangabe eines Werkes eine vollständige Bibliographie zu geben. Misslich ist diejenige Literaturnennung, die nur pauschal auf einen Autor mit Nachnamen rekurriert. Das Werk wird von einem gegliederten Literaturverzeichnis abgerundet. Abschließend erscheinen Stellen-, Namen- und Sachregister.

Die Anthropologie des Joh sieht den Menschen als sprach- und beziehungsfähiges Wesen. Ihm eignet die worthafte Erschließung der Wirklichkeit, die sich in der immerwährenden Prozesshaftigkeit des Dialogs äußert. Das vom Menschen zu führende Gespräch ist jedoch kein Gespräch mit sich selbst. Das ist Solipsismus. Denn Gottes- und Selbsterkenntnis, so erläutert U. den Wahrheitsbegriff von Joh 8,32, ist "menschlich ... unmöglich". "Eine Selbsterkenntnis ... ist immer nur im Zusammenhang der Gotteserkenntnis möglich, die nur durch die Beziehungsfindung zur Person Jesu geschenkt werden kann" (430).

Resultat: Wer sich in der exegetischen und theologischen Zunft mit dem christlichen Bild vom Menschen beschäftigt, wird an U.s Ausführungen zur joh Anthropologie nicht vorbeikommen.

Fussnoten:

1) Das Evangelium nach Johannes (ÖTK 4/1), Gütersloh 31991, 36-41.

2) Der Mensch vor der radikalen Alternative, Kairos NF 22 (1980), 146-156).