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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

761–763

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Topel, L. John

Titel/Untertitel:

Children of a Compassionate God. A Theological Exegesis of Luke 6:20-49.

Verlag:

Collegeville: The Liturgical Press (A Michael Glazier Book) 2001. XVIII, 340 S. gr.8. Kart. US$ 29,95. ISBN 0-8146-5085-6.

Rezensent:

Jens-Wilhelm Taeger

Die Feldrede des Lukas steht im Schatten der Bergpredigt des Matthäus, wird zumeist im Zusammenhang mit dieser thematisiert und ist wohl erst einmal monographisch behandelt worden: T. hat nur die kleine Arbeit von H. Kahlefeld aus dem Jahr 1962 gefunden (Der Jünger. Eine Auslegung der Rede Lk 6,20-49). Diese war ganz bewusst, nicht bloß bedingt durch den damaligen Stand der kritischen katholischen Exegese, vor allem an der theologischen Aussage der Rede interessiert; das gilt ebenso für T.s Versuch, der nun jedoch ungleich stärker die Rede als Teil des Werkes des Lukas würdigen will. - Lediglich Teilaspekten der Rede sind zwei andere Werke gewidmet: die Dissertation von P. D. Hahn, Structure in Rhetorical Criticism and the Structure of the Sermon on the Plain [Luke 6:20-49], Marquette University 1990, die T. kennt, was aber offenbar nicht auf die - z. B. im Kommentar von F. Bovon verzeichnete- Dissertation von R. D. Worden zutrifft: A Philological Analysis of Luke 6:20b-49 and Parallels, Princeton Theological Seminary 1973. - T., der zu Lk schon früher Aufsätze veröffentlicht hat, hält deshalb eine umfassendere neue Untersuchung für überfällig. Methodisch ist er einem "composition criticism" verpflichtet, angereichert um heute übliche primär synchrone Textzugänge, die helfen sollen, "the underlying theological intent of the text" zu erheben (x); der Autor von Lk/Apg sei "a pastoral theologian" (xi), "the implied reader of Luke" ein Christ (xii).

Die Untersuchung ist in drei Hauptteile untergliedert. Im ersten wird der literarische Kontext erhoben (1-51), d. h. der Text des Lk, der der Rede vorangeht; hier gilt das Augenmerk insbesondere den Worten, Bildern, Themen und Strukturen, die den Leser auf die Botschaft der Rede vorbereiten. Mit dem Vorwort (1,1-4) gewinne Lukas das Vertrauen des Lesers, im Prolog (1,5-2,52) führe er die Hauptthemen des Werkes ein, die in der Darstellung der Anfänge der Wirksamkeit Jesu (3,1- 6,16) aufgegriffen und ergänzt werden. Der Leser erwarte nun, dass der mit göttlicher Autorität ausgestattete, sich den Marginalisierten und Unterdrückten zuwendende Jesus seine ethische Weisung, die mit der Aufforderung zur Bekehrung verbunden ist (vgl. die Parallele zum Täufer), inhaltlich fülle. Diese Botschaft, die Jesu befreiendes Wirken begleite, biete die Feldrede. Der zweite Hauptteil (53-220) ist der Exegese der Rede gewidmet. Die (vierzigseitige) Analyse der ersten Seligpreisung (6,20; "an exordium to the whole of the Sermon that follows" [85]) ergibt: Jesu Jünger gehören zu den ohnehin oder durch Besitzverzicht ökonomisch Armen und werden glücklich gepriesen, weil Gott schon jetzt in seiner Herrschaft ihre Armut beseitigt (die Besitzenden teilen mit den Armen [z. B. 12,33; 18, 22], die dann nicht mehr arm sind; vgl. Apg) bzw. - so sie arm bleiben - auf Gott, nicht auf Güter vertrauen und im Begriff sind, ihren Lohn dann in der Fülle der Gottesherrschaft zu empfangen (vgl. Lk 16, 22-25; 18,30). Analog werden die folgenden den Grad des angesprochenen Elends steigernden Seligpreisungen und die Weherufe (6,21-26) interpretiert. Wie Jesu Jünger sich konkret für die Verheißungen der Makarismen qualifizieren, entfalten das Liebesgebot (6,27-36 [kontextbedingt sei die Goldene Regel V. 31 zu interpretieren "in a revolutionary way, beyond the motives underlying the Greco-Roman and Jewish maxims": 157]) und die Kritik des Richtens (6,37-42 [die Zwischenbemerkung V. 6, 39a deute nicht auf den Beginn eines neuen Redeabschnitts; vgl. Anhang F: 286-290]). Sie erweisen sich "to be as paradoxical and counter-cultural as were the beatitudes and woes" (127) und werden abschließend im Abschnitt von der wahren Jüngerschaft (6,43-49) paränetisch eingeschärft. In diesem Teil der Untersuchung werden die analytischen und interpretatorischen Fragen sachgemäß und abgewogen erörtert. Der mit der Forschung einigermaßen Vertraute wird freilich kaum auf gänzlich neue exegetische Einsichten stoßen.

Der erheblich kürzere, aber nach meinem Eindruck fast interessantere dritte Hauptteil (221-261) ist mit "The Interpretation of the Sermon" überschrieben und befasst sich mit der Theologie der lukanischen Rede. Er setzt mit einem zusammenfassenden Überblick ein und unterstreicht dann das im antiken wie im zeitgenössischen kulturellen Kontext Befremdliche und das in mehrfacher Hinsicht "irrational" Erscheinende der Rede, deren "beyondedness" (238) sich auch bei Lk im Vergleich mit der Ethik des Täufers zeige. T. sucht sein Verständnis der Feldrede in Richtung eines "realizable ideal" (240); den dies ermöglichenden Indikativ bzw. "empowerment" findet er im Glauben (244; hier m. E. den lukanischen Befund verzeichnend), näherhin im Gedanken der einbrechenden Herrschaft Gottes und in der Gabe des Geistes (245-249). Doch im Blick auf die Ethik der Rede sei entscheidender die Konzeption der "Söhne Gottes"/der "Kinder des Höchsten" (6,35), die in ihrem Handeln ihrem Vater entsprechen (V. 36): "in this image, Children of God, Luke unconsciously [!] points to the underlying world-view", wodurch die drei zuvor genannten Faktoren (Glaube, Geist und Gottesherrschaft) zusammengehalten würden (253). Erwägungen zu gängigen psychologischen und theologischen Theorien moralischer Entwicklung und eine letzte Zusammenfassung runden die Ausführungen ab. Das in den sieben teils recht kurzen Anhängen (263-295) Gebotene hätte zum größeren Teil gut in die vorangehenden Ausführungen integriert werden können (z. B. die Ausführungen zur wissenschaftlichen Diskussion um die 'Anawîm, zur Interpretation der Gottesherrschaft [dazu vgl. schon 87 ff.245 f.]), zur Bezeichnung "Sohn Gottes" oder zur lukanischen Anthropologie).

Bei den zahlreichen exegetischen Einzelurteilen mag man manchmal anderer Meinung als der Vf. sein, doch sind seine Entscheidungen immer nachvollziehbar begründet und im Gespräch mit wichtiger Sekundärliteratur gewonnen. Obgleich T. auch die kontinentaleuropäische exegetische Literatur ausführlich einbezieht, bleiben etwa aus dem deutschsprachigen Bereich einschlägige Arbeiten zur lukanischen Ethik, Anthropologie und Reich-Gottes-Verkündigung unberücksichtigt, deren Auswertung den entsprechenden Ausführungen T.s zugute gekommen wäre. Der Vf. hat ein (nicht zuletzt durch die häufigen Vorblicke und Zusammenfassungen) gut lesbares Werk geschrieben, sicher auch kein überflüssiges; es ist ein von jedem an der Feldrede bzw. lukanischer Ethik Interessierten mit Gewinn zur Kenntnis zu nehmen, denn es entwickelt gegenüber den entsprechenden Abschnitten in den neueren Lukas-Kommentaren mit seiner Akzentuierung der theologischen Exegese ein durchaus eigenes Profil. Nicht zuletzt ist auch der Versuch zu begrüßen, die Forderungen der Feldrede unverkürzt zur Sprache zu bringen, eben nicht - wofür es ja reichlich Beispiele gibt - theologisch "weichgespült" oder auf das Praktisch-Vernünftige hin uminterpretiert.