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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

635–639

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Göckeritz, H. G. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Rudolf Bultmann - Friedrich Gogarten: Briefwechsel 1921- 1967.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XLIV, 358 S. m. 5 Abb. gr.8. Lw. ¬ 79,00. ISBN 3-16-147720-0.

Rezensent:

Hermann Fischer

Die Familien-Archive von prominenten Theologen des vergangenen Jahrhunderts, weithin immer noch eine terra incognita, haben sich mit dem neuen Jahrhundert einen Spalt breit geöffnet. 14 Jahre nach seiner gelungenen Edition von ausgewählten, zum Teil aus dem Nachlass publizierten Aufsätzen Friedrich Gogartens (vgl. die Rezension ThLZ 116 [1991], 531-533) legt H. G. Göckeritz nun den zwischen Bultmann und Gogarten von 1921-1967 geführten Briefwechsel vor. Mit diesem brieflichen Austausch wird uns nicht nur ein außerordentlich interessanter Einblick in die Werkstatt beider Theologen gewährt, er ist auch aufschlussreich im Blick auf das, was aus der Dokumentation herausfällt.

Bultmann und Gogarten hatten sich 1920 während einer Tagung der Freunde der "Christlichen Welt" auf der Wartburg kennen gelernt. Ausgelöst wird der briefliche Kontakt durch eine Anfrage Bultmanns vom Dezember 1921 über Gogartens Einschätzung der historisch-kritischen Forschung und reicht zunächst bis 1931 (1-203). Das Jahr 1932 ist eigentümlicherweise nicht durch eine Korrespondenz dokumentiert. 1933 werden wenige Briefe und Karten ausgetauscht (203-210), dann bricht der Dialog - mit Ausnahme eines Dankesbriefes Bultmanns aus dem Jahr 1937 für Gogartens Schrift "Gericht oder Skepsis" (211-213) - erneut bis 1940 ab. Ein familiäres Ereignis, die Verlobung eines Neffen Bultmanns mit einer Tochter Gogartens, bringt beide über Gogartens Frau wieder zusammen, wenngleich die Korrespondenz jetzt spärlicher ausfällt (215-234). Ab Juli 1945 bis Juni 1948 kommt es zu einer nochmaligen Unterbrechung, "falls der vorhandene Briefbestand den Tatsachen entspricht", wie der Herausgeber in seiner "Einleitung" vorsichtig anmerkt, um ab 1948 - zunächst in großen Abständen - wieder aufgenommen und bis zu Gogartens Tod 1967 geführt zu werden.

Den durchnummerierten und in den Anmerkungen vorzüglich kommentierten Briefen ist noch ein sehr interessanter "Anhang" mit wichtigen Dokumenten beigegeben (265-318), die in einigen Briefen ausführlicher zur Sprache kommen. Dazu gehören u. a. ein ausführlicher Brief Barths an Gogarten vom 23.12.1922, in dem er sich für die Übersendung der erst 1923 im Buchhandel erschienenen Vortragssammlung "Von Glauben und Offenbarung" bedankt, Emanuel Hirschs Rezension über Gogartens Schrift von 1927 "Theologische Tradition und theologische Arbeit" (280-283) sowie Gogartens Erwiderung darauf in den "Theologischen Blättern" (283-288), ein Sondervotum Bultmanns vom 27.1.1929 zur Wiederbesetzung der systematisch-theologischen Professur (Nachfolge Rudolf Otto), in dem er gegen das Votum der Fakultät (H. Frick, P. Tillich, Th. Siegfried, G. Wünsch) die seiner Meinung nach herausragende Bedeutung Gogartens - vor Barth und K. F. Schumann - darlegt (291-297), vor allem aber die Denkschrift Gogartens über das Verhältnis von Staat und Kirche, mit dem er seinen etwa ab 1930 geäußerten Vorstellungen über den Staat zu kirchenpolitischer Geltung verhelfen wollte (300-302). Gerahmt wird dieser aus Briefen und "Anhang" bestehende Textteil am Anfang durch eine instruktive "Einleitung" des Herausgebers (XI-XXVI) und am Ende durch "Biographische Skizzen" über Bultmann und Gogarten mit jeweiligen bibliographischen Hinweisen (319- 339), denen dann noch Personen- und Sachregister folgen.

Über die Lücken im Bestand des vorliegenden Briefwechsels lassen sich nur Vermutungen anstellen. Es muss als eher unwahrscheinlich gelten, dass im Jahr 1932 nicht korrespondiert und damit die brisante politische Entwicklung bis zur Machtübernahme Hitlers am 30.1.1933 nicht wechselweise erörtert worden sein sollte. Für die Unterbrechung der Korrespondenz ab 1933 hingegen würde es plausible Gründe geben. Schon 1930 äußern sich Bultmann und der auch Gogarten bekannte Gerhard Krüger "ziemlich ratlos" über Gogartens Schrift "Wider die Ächtung der Autorität" (184). 1933 grenzt sich Bultmann kirchenpolitisch pointiert gegen die von Gogarten verfasste Denkschrift über das Verhältnis von Staat und Kirche ab (vgl. 300-302) und meint, es sei jetzt eine Denkschrift notwendig, "die gegen den Totalitätsanspruch eines Staates protestiert, der nicht nur über die politische, sondern auch über die glaubende Existenz verfügen will; die protestiert gegen die direkte Gleichsetzung des empirischen Staates mit dem gottgewollten" (219). Hier verschärfen sich Differenzen zwischen beiden zu unvereinbaren kirchenpolitischen Positionen und könnten den Briefwechsel zum Erliegen gebracht haben. Leider erfahren wir dadurch auch nichts mehr über Gogartens Einschätzung der politischen, kirchenpolitischen und theologischen Entwicklung von 1933 bis 1945.

Wusste man schon aus den bisherigen Publikationen von der theologischen Sympathie beider Theologen füreinander, so vermittelt doch erst der jetzt veröffentlichte Briefwechsel ein klareres Bild über das Ausmaß der Gemeinsamkeit und über die Intensität des theologischen Austausches. Beide Theologen korrespondieren nicht nur kontinuierlich über einschlägige theologische Fragen, äußern sich nicht nur zu den in Planung begriffenen und dann fertig gestellten Publikationen des anderen, sondern besuchen sich von 1922-1931 wechselseitig über mehrere Tage oder über eine ganze Woche und kultivieren so eine ganz ungewöhnlich enge Arbeitsgemeinschaft.

Eine besondere Stellung nimmt im wissenschaftlichen Gespräch - zumindest in der Phase bis etwa 1930 - das Thema der Geschichte ein. Aus Anlass der Neubesetzung eines Extraordinariats in Marburg (Nachfolge H. Stephan) wendet sich Bultmann Ende 1921 mit der Frage an Gogarten, ob er sich eine organische Zusammenarbeit mit den Marburger Kollegen vorstellen könne. Dabei geht es vor allem um "die starke Betonung der historisch-kritischen Wissenschaft", die für die Marburger "Historiker-Theologen" charakteristisch sei (1-3). Hier sieht Bultmann offensichtlich Probleme, die Gogarten in seinem ausführlichen Antwortschreiben vom 23.12.1921 auszuräumen sucht (3-6). In Kürze formuliert er wesentliche Aspekte seines Verständnisses von Theologie, wie es sich auch in seinen Publikationen der frühen 20er Jahre findet. Nach seinem Urteil ist es unmöglich, die historisch-kritische Forschungsmethode aufzugeben, "soweit es sich um die Erforschung der historischen Wirklichkeit handelt". Dem folgt aber sofort eine - vor allem gegen Troeltsch gerichtete - prinzipielle Einschränkung: "Freilich kann die Säuberung der Historie von jeder Sentimentalität und von jedem Versuch, ihre Ergebnisse unmittelbar religiös zu nutzen, nicht rigoros genug sein" (3). Das ist Konsequenz des absoluten Gegensatzes zwischen Gott und Mensch, den Gogarten aber "gerade aus der Erkenntnis der ursprünglichen Schöpfungseinheit von Gott und Mensch" verständlich machen möchte. Man kann sich des Geschichtsproblems, bei dem es um "wahre Wirklichkeit" geht, nicht dadurch entledigen, dass man Geschichte mystisch in Symbolik auflöst oder Geschichtstatsachen orthodox vergewaltigt. "Wie dann diese (in ihren Methoden streng säkulare) Historie auch ihrerseits unter jene Dialektik des Risses und der Einheit [scil. von Gott und Mensch] gestellt wird und wie sich ihre Bedeutung dann des Genaueren bestimmt, das wäre die Frage nach ihrer Bedeutung für die religiöse Frage" (5).

Gogarten skizziert mit diesen Ausführungen nicht die Lösung des Problems, sondern umreißt Themen, die ihn in den folgenden Jahren beschäftigen werden. Dabei reflektiert er selbstkritisch die Gefahr, den Glauben in religiöse Spekulation zu verfälschen und ihn im Modus einer rein transzendental-logischen Dialektik auszulegen (vgl. 10 f.). Schon 1922 schreibt er, man müsse "aus der Dialektik herauskommen, die einen regressus in infinitum bildet, und stattdessen die Dialektik finden, die die Dialektik der Realität selbst ist" (13). Die "Lösung" des Geschichtsproblems wird dann einige Jahre später in dem Buch "Ich glaube an den dreieinigen Gott. Eine Untersuchung über Glauben und Geschichte" (1926) vorgetragen. Schon 1924, zwei Jahre vor Erscheinen des Buches, heißt es, wieder mit einer Spitze gegen Troeltsch, es komme darauf an, "den Begriff der Geschichte ganz frei zu machen von dem Sinn der Geschichtsbetrachtung, des Geschichtswissens, der Geschichtsphilosophie und all diesen Geschichtsbegriffen, die von der Idee des wissenden und begreifenden und also isolierten und ganz auf sich gestellten Ichs ausgehen" (64). Demgegenüber meint Gogarten die Behauptung wagen zu können, "daß es Geschichte überhaupt nur als gegenwärtiges Geschehen gibt" (64). Dunkel bleibt damit aber, was aus der vergangenen Geschichte, dem eigentlichen Gegenstand der historischen Forschung wird. Leider gibt es zu diesen auf einen theologischen Sondersprachgebrauch von Geschichte hinauslaufenden Ausführungen keine Antwort Bultmanns, der sich später mit der Unterscheidung von Geschichte und Geschichtlichkeit aus denjenigen Aporien zu befreien gesucht hat, in die Gogarten mit seiner "Behauptung" hineingeraten ist.

Der Briefwechsel ist natürlich auch dadurch interessant, dass beide Theologen sich unverblümt über ihre Kollegen äußern, vor allem über Karl Barth. So heißt es u. a. 1937 in einem Dankesbrief Bultmanns für Gogartens Auseinandersetzung mit Barth in dem Buch "Gericht oder Skepsis": "Von Barth las ich seit seiner Lehre vom heiligen Geist nichts mehr, weder die 2. Auflage der Dogmatik [gemeint ist der erste Band der "Kirchlichen Dogmatik" von 1932] noch das Credo [1935]. Es ist zu schlimm" (213). In einem Sondervotum für einen Berufungsvorschlag als Nachfolger R. Ottos (vgl. 291-297) beurteilt er Barths 1927 erschienene "Christliche Dogmatik" als "mißlungen" (296).

Wiederholt beziehen sich beide Gesprächspartner auf Emanuel Hirsch und bezeugen damit - wenn auch überwiegend in kritischer Absicht - dessen Bedeutung in den Auseinandersetzungen jener Jahre. Die schon erwähnte Rezension Hirschs über Gogartens Schrift "Theologische Tradition und theologische Arbeit" (vgl. 280-283) veranlasst Gogarten zu einer Replik, die er Bultmann zur kritischen Lektüre schickt. In seiner Antwort macht Bultmann (116-119) Gogarten auf den "Fehler" aufmerksam, dass er "das echte Anliegen Hirschs" nicht zur Geltung gebracht habe (117 f.). Hirsch hatte in seiner Rezension gegen Gogarten im Blick auf die göttliche Offenbarung die Notwendigkeit eines Anküpfungspunktes betont, da auch der sündige Mensch das Wort Gottes irgendwie muss vernehmen können. Hirsch: "Der natürliche Mensch steht also unter einem Widerspruch: er ist in der Sünde gefangen und Gottes Feind, kennt und vernimmt Gott nicht; und er ist doch an eben diesen Gott im Tiefsten unrettbar gebunden" (282). Bultmann hält trotz gewisser Vorbehalte gegenüber der Terminologie Hirschs dessen leitendes Anliegen für legitim und schreibt Gogarten: "Sie haben ihm [scil. Hirsch] jedenfalls nicht hinreichend deutlich gemacht, daß Sie kein Dualist und Gnostiker sind. Sie bleiben dabei, Hirsch eine Inkonsequenz vorzuwerfen, ohne zu würdigen, woher diese stammt" (118). Auch in der tatsächlich gedruckten Erwiderung auf Hirschs Rezension (vgl. 283-288) insistiert Gogarten rechthaberisch auf der eigenen Position und bekundet für das Anliegen Hirschs kein Verständnis. Bultmann selbst steht hinsichtlich der Notwendigkeit eines - später zur Theorie des "Vorverständnisses" ausgearbeiteten - Anknüpfungspunktes Hirsch näher als Gogarten, wenn er schreibt, "das Hören der (Erlösungs-)Offenbarung muß ein verstehendes sein" (118). Schon 1922 veranlasst ihn die Wendung Gogartens vom "hörenden Hören" zu der reserviert-kritischen Feststellung, dass das "Hören" nur als "Vorgang des geistigen Lebens" zu denken sei und nicht mit einem sacrificium intellectus verwechselt werden dürfe (18 f.). Bei aller Gemeinsamkeit setzen Bultmann und Gogarten die Akzente also unterschiedlich.

Auch sonst ist der Briefwechsel eine theologiegeschichtliche Fundgrube. Mehrfach äußert sich Bultmann über seinen Marburger Lehrer Wilhelm Herrmann, schreibt über seinen philosophischen Kollegen Martin Heidegger, über den zum Katholizismus konvertierenden Erik Peterson, man erfährt manches über die damalige Marburger theologische Fakultät, auch über Bultmanns Absicht, aus Anlass neuer kirchenrechtlicher Regelungen über die Berufung evangelischer Theologieprofessoren seine Professur in Marburg niederzulegen und Preußen zu verlassen (193-195). Die geplante Neugründung der "Theologischen Rundschau" (123-137), die ab 1929 als "Neue Folge" erscheint, bietet beiden Gelegenheit, sich über ihre Kollegen an den Fakultäten auszutauschen.

Über Emil Brunner hatte Gogarten sich schon 1927 abschätzig ausgesprochen (103). Der Briefwechsel bezeugt auch die wiederholten Versuche Bultmanns, Gogarten zu einer theologischen Professur zu verhelfen, während er darüber berichten muss, dass die Gemeinde in Dorndorf ihn bei seiner Wahl zum Pfarrer abgelehnt hat (91). Angesichts eines gegen Gogarten und seine in den frühen 30er Jahren entwickelte Volksnomos-Theologie gerichteten Aufsatzes von Hendrik Berkhof fordert Bultmann Gogarten im Februar 1949 auf, sich öffentlich zu seiner damaligen theologischen Position zu äußern und seine "Intentionen gegenüber Mißbrauch und Mißverständnissen endlich deutlich klarzustellen" (236 f.), wozu sich Gogarten aber nicht hat verstehen können. Karl Löwiths viel diskutiertes Buch "Weltgeschichte und Heilsgeschehen" (1949; dt. 1952) bezeichnet Bultmann als "im Grunde oberflächlich" (248), Karl Jaspers' Buch "Vom Ursprung und Ziel der Geschichte" liest er "mit Enttäuschung und gar mit Entsetzen" (249). Interessant ist auch Bultmanns Stellung zu Tillich. Nach anfänglicher Skepsis gelangt er zu einem positiven Urteil (32 f.54 f.), um ihn später als Mitarbeiter an der "Theologischen Rundschau" aber doch wieder auszuschließen (128).

Dem Herausgeber gebührt Dank für seine mühevolle und vorzügliche editorische Arbeit, die durch schöne Abbildungen noch eine besondere Note erhält. Der Briefwechsel lässt uns ein Teilstück der Theologiegeschichte des 20. Jh.s etwas deutlicher erkennen. Freilich wird sich diese Phase noch besser beurteilen lassen, wenn die Korrespondenz zwischen Barth und Gogarten und dann vor allem die Briefe Emanuel Hirschs der Forschung zugänglich gemacht sein werden. Immerhin ist mit der vorliegenden Edition ein erfreulicher Beitrag zur Klärung geleistet, selbst wenn wichtige kirchenpolitische und politische Zeiträume noch weiterer Erhellung bedürfen.