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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

446 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ratzmann, Wolfgang [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Grenzen überschreiten. Profile und Perspektiven der Liturgiewissenschaft.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 216 S. 8 = Beiträge zu Liturgie und Spiritualität, 9. Kart. ¬ 16,80. ISBN 3-374-01957-9.

Rezensent:

Thomas Bergholz

Der jüngst vorgelegte 9. Band der kleinen Leipziger Reihe "Beiträge zu Liturgie und Spiritualität" setzt die Tradition der Reihe fort, Aufsätze und Vorträge zu den anstehenden Fragen der Liturgiewissenschaft zu bieten. Äußerer Anlass war diesmal das Symposion "Kirche und Liturgiewissenschaft" zu Ehren des "Nestors" (8) der deutschen evangelischen Liturgiewissenschaft, Frieder Schulz, im Jahre 2001. Der Band dokumentiert im Wesentlichen die Vorträge des Symposions, ergänzt um einige andere Beiträge, die sich thematisch hervorragend in den Hauptkomplex einfügen. Dabei handelt es sich im Kern um die Frage nach dem theologischen Programm der Liturgiewissenschaft resp. der Liturgik - ja grundsätzlich erweist sich schon diese Nomenklatur als völlig ungeklärt, wie Olaf Richter in seinem hervorragenden Beitrag "Wissenschaftstheoretische Aspekte der evgl. Liturgik - Versuch einer fundamentalliturgischen Standortbestimmung" aufzeigt (102 f.).

Nach dem einleitenden Beitrag von Karl-Heinrich Bieritz, einer launigen biographischen Laudatio, die 1917, im Geburtsjahr von Frieder Schulz, beginnt und von da an skizzenhaft die Stationen der Liturgiewissenschaft des 20. Jh.s umreißt, beschäftigen sich sieben Beiträge mit dieser nach wie vor offenen Frage: Welches sind die theologischen Grundlagen der Liturgiewissenschaft, welcher der theologischen Disziplinen gehört sie eigentlich zu, was sind ihre grundlegenden Methoden und Ziele?

Zunächst zeichnet Hans-Christoph Schmidt-Lauber die Wendepunkte der Liturgiewissenschaft des 20. Jh.s nach, die in der ersten Hälfte dieser Zeitspanne natürlich durch den Kulturprotestantismus und die ältere liturgische Bewegung sowie die Dialektische Theologie und die jüngere liturgische Bewegung bestimmt sind. Ob seine mit geringer werdendem Abstand zunehmend kleinteiligere Beschreibung für den zweiten Teil dieser Epoche auch in historischer Perspektive Bestand haben wird, sei dahin gestellt.

Benedikt Kranemann liefert das Korreferat aus katholischer Sicht. Mit großem Schwung handelt er die Teilgebiete der Liturgiewissenschaft, nämlich die historischen, systematischen und die pastoralen Blickwinkel ab.

Paul Post wendet sich dann der zentralen Frage zu, ob die Liturgiewissenschaft eine "systematisch-theologische" Disziplin sei oder eine "systematische theologische". Dieser Ansatz, der natürlich für die ganze Frage nach Zweck und Ziel der Liturgiewissenschaft entscheidend ist, ist nach Posts Meinung in der jüngeren Vergangenheit stark unter Druck geraten. Und damit wohl auch die besonders von evangelischen Liturgikern gern benutzte Hilfskonstruktion, um ihr Fach als Teil der Systematischen Theologie aus der adiaphoristischen Position heraus zu bekommen und überhaupt erst hoffähig zu machen.

Olaf Richter geht sogar noch weiter, indem er behauptet: "Im Gegensatz zur katholischen Liturgiewissenschaft ... findet eine wissenschaftstheoretische Debatte in der evangelischen Liturgik gegenwärtig faktisch nicht statt." (101 f.) Posts These hat also im evangelischen Raum eigentlich nie bestanden. Natürlich gab und gibt es implizite wissenschaftstheoretische Weichenstellungen. Richter arbeitet schön heraus, dass die jüngere liturgische Bewegung natürlich ohne die Dialektische Theologie kaum denkbar ist und deshalb implizit dem Ansatz der Liturgiewissenschaft als systematisch-theologischer Disziplin folgte. In der Gegenwart dagegen hat deutlich, wie schon einmal in der älteren liturgischen Bewegung, der anthropologische Ansatz an Boden gewonnen. Das Fatale daran, und da ist Richter bedenkenlos zuzustimmen, ist allerdings nicht dieser humanwissenschaftliche Standpunkt an sich (der ist, wie jeder andere Standpunkt auch, zumindest diskutabel; und die phänomenologischen und anderen Zugänge zum Gottesdienst sind als methodische Hilfsmittel unverzichtbar geworden), sondern der Trugschluss, mit solch einem untheologischen Ansatz sich der Liturgie "von außen", "an sich" nähern zu können. - Wenn Richters Behauptung in dieser Schärfe stimmt, ist das, angesichts der Tatsache, dass Albert Schweitzers Erkenntnisse in der "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" schon bald ihr Jahrhundertjubiläum feiern werden, nicht mehr nur noch verwunderlich, sondern entweder erschreckend oder lachhaft.

So stimmt er der bemerkenswerten These von Angelus Häußling zu: "Liturgiewissenschaft (!) ist konkrete Ekklesiologie", insofern man Kirche, gut evangelisch, christologisch als von Wort und Sakrament her bestimmt versteht. Gottesdienst und Liturgik sind so Teil der Bewegung der Kirche in der Zeit. Damit sind übrigens auch alle anthropologischen Komponenten eingeschlossen, denn Subjekt der Liturgie ist damit auch der Mensch, allerdings der Mensch in seiner Bewegung zu Gott hin.

Auch die beiden folgenden Aufsätze von Reinhard Meßner und Peter Cornehl kreisen um diese Frage. Meßner möchte eine Lanze für eine erneuerte, dann ökumenische Liturgiewissenschaft brechen, in der der bisherige Gegensatz zwischen dem praktisch-pastoralen (dessen Beschreibung sich zu Teilen mit dem von Richter so genannten anthropologischen trifft) Ansatz und dem historisch-systematischen Ansatz aufgehoben sein müsste. Dazu aber, so Meßner, wäre die auf evangelischer Seite ausschließliche, auf katholischer Seite faktische Unterordnung der Liturgiewissenschaft unter die Praktische Theologie aufzugeben, damit sie als "liturgische Theologie" (132) in Ergänzung zur biblischen und zur dogmatischen Theologie treten kann.

Cornehl und Friedrich Lurz schließen diesen Teil des Bandes, indem sie davor warnen, die in den letzten Jahrzehnten entstandene Theorie- und Methodenvielfalt zugunsten einer neuen Engführung in Richtung der Systematik aufzugeben.

Der Band endet mit zwei Aufsätzen zum Stand der Hymnologie, vor allem zu den Fragen der hymnologischen "Kanonbildung" (178) durch die praktische hymnologische Arbeit, die in den letzten Dezennien durch die sich fast nahtlos reihende Ausgabe neuer Gesangbücher (vom Gotteslob bis zum Evangelischen Gesangbuch) stark auf dieses Gebiet beschränkt blieb. Andreas Marti gibt der Hoffnung Ausdruck, nach Abschluss dieser Arbeiten könne sich die Hymnologie wieder vermehrt der Grundlagenforschung zuwenden.

A propos Grundlagenforschung: Aus der Dokumentation des Podiumsgespräches möchte ich besonders auf das Statement von Klaus Raschzok hinweisen, der die deutschen Landeskirchen aufruft, nach dem Muster der freien Wirtschaft endlich eine Stiftungsprofessur für Liturgiewissenschaft einzurichten. Dem wird sicher jede Liturgiewissenschaftlerin und jeder Liturgiewissenschaftler (einschließlich des Rez.) zustimmen, gleichgültig welcher der in den anderen Beiträgen vertretenen Positionen er nahe steht.