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Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

188–191

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

McGinn, Bernard

Titel/Untertitel:

The Mystical Thought of Meister Eckhart. The Man from Whom God Hid Nothing.

Verlag:

New York: The Crossroad Publishing Company (Herder and Herder) 2001. XIII, 305 S. gr.8 = The Edward Cadbury Lectures 2000-2001. Geb. US$ 45,00. ISBN 0-8245-1914-0.

Rezensent:

Udo Kern

"Bernard McGinn is the Naomi Shenstone Donnelly Professor in the Divinity School of the University of Chicago", heißt es im Klappentext. In den neunziger Jahren hat McGinn drei Bücher zur Mystik veröffentlicht: The foundations of mysticism: Origins of the fifth century (1991), The growth of mysticism: From Gregory the Great to the twelfth century (1994) und The flowering of mysticism: Men and women in the new mysticism [1200-1300] (1998). Seit über vierzig Jahren "I have lived with Eckhart" (IX), sagt McGinn. Seit den 70er Jahren hat er auch zu Eckhart eine Reihe von Einzelveröffentlichungen vorgelegt (vgl. 285 f.). Der vorliegende Band gibt seine Zusammenschau des Lesemeisters und des Lebemeisters Eckhart. Sechs Kapitel hat das Buch: (1) Einer Einleitung zur Vita und den Schriften folgen (2) Überlegungen zur Charakterisierung der Eckhartinterpretation. Kapitel 3, 5 und 6 fokussieren sich auf den Eckhartschen Begriff vom Grund. Eckharts Sicht der Ewigen Geburt in den Predigten I-V der Pfeifferschen Eckhartausgabe wird in Kapitel 4 behandelt.1 Ein "Appendix", der nach den Quellen des Eckhartschen Werkes fragt, Anmerkungen, Bibliographie zur Sekundärliteratur über Eckhart und ein kombinierter Index (Index nominum und Index rerum) schließen den Band ab.

McG. plädiert trotz der Einwände von Kurt Flasch und anderer, Meister Eckhart nicht als Mystiker zu bezeichnen, sich auf Niklaus Largier berufend, dafür, Eckhart als "mystical hermeneutic" zu verstehen. Einwände dagegen werden zwar andeutend skizziert, aber letztlich nicht genügend diskutiert. Jedenfalls gebraucht McG. den Begriff Mystiker ganz selbstverständlich und letztlich unkritisch in Bezug auf Eckhart.

Es gäbe keinen Gegensatz zwischen dem lateinischen und dem deutschen Meister Eckhart. Weder "deutsche Mystik" noch "spekulative Mystik" sei Eckharts Mystik, sondern "Mystik des Grundes" sei bei Eckhart zu konstatieren (35 ff.). Wenn man also Eckhart verstehen wolle, sei dies der Fundamentalpunkt, von dem her alles zu entwerfen sei. Es ist also vom Eckhartschen grunt (einschließlich seinen lateinischen Äquivalenten, die aber nicht die Fülle dessen, was mit grunt ausgesagt ist, beinhalten) auszugehen, wenn man, wie McG. intendiert, das Gesamtwerk Eckharts grundsätzlich charakterisieren und erfassen will. Ihn versteht McG. als Schlüssel zum Gesamtwerk Eckharts. In ihm träfen sich Göttliches und Menschliches und in ihm komme es zur mystischen Vereinigung von beiden. Im grunt könne Meister Eckhart the unity of truth philosophisch und theologisch überzeugend, wie nur wenige andere Denker, denken. The living union könne im grunt verortet werden, ebenso the inner harmony zwischen Vernunft und Glauben, Philosophie und Theologie, Theorie und Praxis.

Wie John Scotus Eriugena vertrete Eckhart "a form of negative mystical anthropology", die dadurch ausgezeichnet sei, dass in ihr "Gott und Seele ultimately one sind, weil beide radically unknowable sind" (48). Entscheidend sei, dass wir mit Christus identical werden. Das seien wir dann, wenn wir Söhne Gottes sind. Das würden wir durch die Gottesgeburt in der Seele. Die Einheit mit Gott sei christologisch fundamental verwurzelt: "Eckhart's functional Christology implies that the ground in which we attain fused identity with God is rooted in the oneness of Christ's ground." (50)

Die ontologische Diskussion bei Meister Eckhart verhandelt McG. unter dem Thema The metaphysics of flow. Auf Ruedi Imbachs inzwischen fast klassische Arbeit Deus est intelligere von 1976 sich berufend untersucht er das Verhältnis von esse und intelligere bei Eckhart. Eckharts Vorordnung des intelligere vor dem esse rühre daher, dass das esse hier als esse non-indistinctum und als prima rerum creaturarum interpretiert werde, und so selbstredend nicht auf Gott angewendet werden könne.

Die Schöpfung verstehe Eckhart als ebullitio. Sie sei eine collatio esse, giving of existence after non-existence, production of things from nothing. Creatio sei als "eternal activity of God's flow into creatures" (101) productio und emanatio. Gott, dem als dem Einen das esse indistinctum eigne, setze nach Weisheit 1,14 die Dinge ins Sein. Umsichtig und in Anknüpfung an Burkhard Mojsisch interpretiert McG. den Eckhartschen Gedanken, dass Gott weder causa efficiens noch causa finalis, sondern als causa essentialis2 logos oder ratio jeder Ursächlichkeit sei. Für die Eckhartsche Schöpfungslehre wichtig sei, dass Eckhart die nothingness of creation verorte in seiner Konzeption der Schöpfung "as a fall away from Oneness" als "metaphysical sin", in der das Böse in der Welt gründe (105). Diese Interpretation des Bösen verbinde Eckhart mit dem seit Augustin in der westlichen Theologie tradierten und geläufigen Verständnis des Bösen als privatio boni. Der Schöpfungsgedanke in Bezug auf den Menschen werde für Eckhart selbstverständlich profiliert festgemacht an der imago Dei. Hier kann dann schöpfungstheologisch auch Eckharts Intellekttheorie verortet werden und der Mensch qua intelligere Dei - und gerade nicht auf Grund seiner eigenmächtigen Vernünftigkeit - in Relation zu Gott begriffen werden.

Eckharts Christologie ist für McG. zunächst dadurch charakterisiert, dass Eckhart sich um den zeitgenössischen mittelalterlichen christologischen Diskurs wenig kümmere. So beachte Eckhart zumeist nichts von den neuen christologischen Ansätzen Anselm von Canterburys, Bernhard von Clairvaux's und Franz von Assisis. Der amor carnalis Christi und die literal imitatio Christi interessierten ihn nicht. Wie Richard Schneider schon 1968, spricht McG. von funktionaler Christologie bei Meister Eckhart. Eckharts Christologie könne als eine Kommentierung des johanneischen Prologs begriffen werden. Das Thema der Eckhartschen Christologie sei die Geburt des ewigen Wortes in der Seele. Eckhart wahre mit der schon bei Augustin zu findenden Unterscheidung Sohn-von-Natur und Sohn-durch-Adoption den Unterschied zwischen Christus und den Menschen. Aber auf dieser Differenz liege bei Eckhart nicht das Augenmerk, vielmehr sei für Eckhart entscheidend, dass es derselbe Gott ist, der Christus zum Sohn Gottes und uns zu Söhnen Gottes mache. Sohn Gottes sein, bedeute total purity, emptiness, Freisein von dem esse-hoc-et-hoc des kreatürlichen Seienden. Insofern wir in der Gottesgeburt in der Seele tatsächlich Gottes Söhne je und je werdend sind, "we ourselves becomes the Second Person of the Trinity" (117 f.). Und das sei univok auszulegen. Allerdings gelte für Eckhart gleichzeitig: Aus der Perspektive unserer Existenz als eines esse-hoc-et-hoc, also aus der Perspektive der Adoption, sei das analog zu verstehen. Das "Herz" der Christologie Eckharts findet McG. in folgender Stelle vom Sermo LVI (n. 557, LW IV, 466,5-83): "Dic quomodo omnia placent patri tantum in filio. Unde oportet omnia reducere et tingere in sanguine Christi, mediante ipso filio in patrem, sicut omnia operatur pater per filium, ut refluxus effluxui respondeat." (127.249) - Der Rez. fragt, ob die Kennzeichnung von Eckharts Christologie als funktionale Christologie Eckhart christologisch gerecht wird, zumindest ist sie missverständlich, da die ontologische Dimension der Eckhartschen Christologie dadurch unzulässig geschädigt werden könnte.

McG. urgiert mit Recht eine Verbindung von Eckharts, wie er sagt, funktionaler Christologie mit dessen Lehre von der Gnade. Letztere hält er für zentral zum Verstehen des Eckhartschen Werkes überhaupt. Allerdings sei es oft nicht leicht, exakt zu bestimmen, was Eckhart unter Gnade verstünde. Mit Augustin und Thomas sei Gnade bei Eckhart "absolutely essential for the soul's return to God" (128). Bei Eckhart sei aber die Gnade more intellective als bei Thomas. Sie bewirke das intellektuelle Gewahrwerden der imago Dei. Gnade, so mit Recht McG., vereinigt nach Eckhart die Seele mit Gott. Sie ist aber nicht die Vereinigung selbst. Es gäbe quasi kontradiktorische Aussagen Eckharts in Bezug auf die Gnade. Einerseits spricht Eckhart vom Werk der Gnade, andererseits sagt er, es gäbe solches überhaupt nicht. McG. meint allerdings diese beiden unterschiedlichen Aspekte so erklären zu können: Diese Differenz sei zu deuten aus "the difference between the virtual und the formal modes of existence" (129). "The uniting with God that formal grace effects is not a real union from the perspective of the ratio gratiae, that is, the grace beyond grace which, in its virtual reality, is identical with the divine nature." (129 f.)

Eckharts detachment, seine Lehre von Abgeschiedenheit, Gelassenheit, Loslösen sei metaphysisch, ethisch und mystisch dimensioniert. Der Prozess der Abgeschiedenheit rufe die Frage nach dem Status des Ich hervor. McG. kennt z. T. die entsprechende wissenschaftliche Kontroverse4 um das Eckhartsche Ich. Die einen sähen in ihm das Aufkommen neuzeitlicher Subjektivität, die anderen verorten es streng im mittelalterlichen Denken.

McG. zieht bei seinem Versuch, vom grunt aus das Gesamtwerk des Lebemeisters und Lesemeisters Eckhart darzustellen, nicht nur die wissenschaftliche Literatur (auch die neueste) zum Werk Meister Eckharts heran, sondern verortet sie produktiv im eigenen Diskurs. Sein Buch ist im englischsprachigen Raum die wichtigste und gründlichste Gesamtdarstellung von Meister Eckhart. Es ist ein gut lesbares und wohlgegliedertes Buch. McG. gelingt es, auch diffizile theologische und philosophische Argumentationsfelder Eckharts (epistemologischer und ontologischer Art) hermeneutisch überzeugend klar zur Sprache zu bringen. Das ist eine wirkliche Stärke dieses Buches. Allerdings ist diese Stärke wohl auch der Grund dafür, dass sich der Eckhartexperte zuweilen ein längeres Verweilen beim analytischen Detail wünschte. Zu loben ist, dass McG. ähnlich wie Alois M. Haas Eckharts Denken in den Zusammenhang der theologischen und philosophischen Traditionen des Dominikanerordens stellt. Der bekannte Eckhartforscher Niklaus Largier (Philosoph an der University of California, Berkeley) sagt zu Bernard McGinns Buch: "A wonderfull book on one of the most original thinkers of medieval Europe. Bernhard McGinn succeeds at a portrait that is both scholarly and eminently readable, throwing a new and fascinating light on the religious, the theological, and the philosophical aspects of Eckhart's work." Ich stimme dieser Wertung von Niklaus Largier mit einer Einschränkung zu. Das Neue der Eckhartinterpretation McG.s ist m. E. weniger signifikant. Vielmehr arbeitet er gekonnt wichtige Ergebnisse der bisherigen Eckhartforschung in seine gute Gesamtdarstellung des Werkes Meister Eckharts ein.

Fussnoten:

1) Diese Predigten sind noch nicht in der großen Eckhartausgabe publiziert worden, werden aber von Georg Steer dafür vorbereitet. Darauf konnte Bernard McGinn zurückgreifen.

2) Hier fuße Eckhart auf Proclos, Dionysius Areopagita, Albertus Magnus und Dietrich von Freiberg.

3) Leider zitiert B. McGinn erst ab "Unde ...". Für das Verständnis der Stelle ist aber das davor von mir Zitierte zu berücksichtigen.

4) Eckhard Wulfs Tübinger Dissertation von 1972 "Das Aufkommen neuzeitlicher Subjektivität im Vernunftbegriff Meister Eckharts" und auch meinen Beitrag zur theoontologischen Wertung des Eckhartschen Ich (in: MM 24, 1996, 612-621) kennt McGinn nicht.