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Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

186–188

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Koch, Traugott

Titel/Untertitel:

Johann Habermanns "Betbüchlein" im Zusammenhang seiner Theologie. Eine Studie zur Gebetsliteratur und zur Theologie des Luthertums im 16. Jahrhundert.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2001. XIV, 425 S. m. 1 Abb. gr.8 = Beiträge zur historischen Theologie, 117. Lw. ¬ 89,00. ISBN 3-16-147499-6.

Rezensent:

Alexander Bitzel

Das "Betbüchlein" von Johann Habermann (Avenarius) (1516- 1590) gehört zu den erfolgreichsten Gebetssammlungen des Luthertums. 1567 erstmals gedruckt, erlebte es im Laufe der Jahrhunderte unzählige Auflagen. Bis ins 19. Jh. hinein ist es im lutherischen Raum sehr populär gewesen. Traugott Koch hat diesem und weiteren Werken Habermanns eine umfangreiche Studie gewidmet.

Die Untersuchung setzt ein mit der mittelalterlichen Vorgeschichte der frühneuzeitlichen lutherischen Gebetsliteratur. Luthers Verständnis des Gebets wird in seiner Entwicklung von 1516 bis 1544 dargestellt. Die Gebetslehre des Reformators dient K. als Ausgangspunkt, Folie und zuweilen auch als reformatorische Antithese zu dem, was lutherische Theologen des ausgehenden 16. Jh.s über Wesen, Sinn und Zweck des Betens schrieben.

K.s Hauptaugenmerk liegt auf dem Werk Habermanns. Neben dem Gebetbuch untersucht er alle weiteren erhaltenen Erbauungsschriften aus Habermanns Feder. Zunächst skizziert er die geistesgeschichtliche Situation, in die Habermann hineingeboren wurde. Es folgt ein tabellarischer Lebenslauf, dem sich eine Bibliographie sämtlicher erbaulicher Druckschriften Habermanns in allen erreichbaren Auflagen anschließt. In den folgenden Abschnitten untersucht K. Habermanns "Betbüchlein", sein "Trostbüchlein", seine Schrift "Leben Christi", seine Passions-Auslegung und schließlich seine "Postilla". Die weniger bekannten Habermannwerke werden jeweils knapp, das "Betbüchlein" und die "Postilla" werden ausführlich besprochen. In einem längeren Anhang prüft K. die These von Paul Althaus d. Ä., demzufolge Habermanns Gebetbuch im Gebetbuch des Jesuiten Petrus Michaelis (Brillmacher) sein Vorbild habe. Überzeugend legt K. dar, dass Althaus' Vermutung, welche ihrerseits eine beachtliche Wirkungsgeschichte hatte, durchaus nicht zutrifft.

Für Habermann ist rechtes Beten ein Beten mit den Worten der Bibel. Anders als Luther konzentriert er sich jedoch nicht auf das Vaterunser, sondern verfasst eigenständige Gebete, die er auf dem Hintergrund der lutherischen Dogmatik aus Bibelversen kompiliert. Insofern die Bibel Gottes Wort ist, ermöglicht ein Nachbeten dogmatisch regulierter Bibelverskompilationen Habermann zufolge eine auf andere Weise nicht zu erreichende Unmittelbarkeit zu Gott. Wer also Habermanns Gebete betet, der betet recht, weil er sich mit Gottes eigenen Worten an Gott wendet. K. erkennt in dieser biblischen Verankerung von Habermanns Gebeten die spezifische Bibelfrömmigkeit des frühneuzeitlichen Luthertums, dessen religiöse Sprach- und Lebenswelt von Luthers Bibelübersetzung nachhaltig geprägt wurde.

Die biblische Prägung der Habermannschen Gebete einerseits und andererseits das Bedürfnis lutherischer Christen, recht beten zu lernen, sind für K. die beiden entscheidenden Gründe für den singulären Erfolg des "Betbüchleins".

K.s Leitfrage ist zunächst, welche Auffassung vom Gebet sich in Habermanns Devotionaltexten findet. Über diese Frage dringt K. immer tiefer in die Theologie Habermanns ein und entfaltet ein Gesamtbild seines theologischen Denkens. Mit diesem setzt sich K. kritisch auseinander. Bei aller Sympathie für Habermann markiert K. deutlich Probleme, Aporien und Grenzen seiner Theologie.

Problematisch findet K. bei Habermanns Gebeten, dass in ihnen das Ich des Beters nicht wirklich zur Sprache kommt. Es ist immer ein überindividuelles Ich, das in biblischer Sprache dogmatisch korrekt betet. Die Gebete wollen nicht dazu anleiten, eine eigene Gebetssprache zu finden. Vielmehr wollen sie die biblischen Verheißungen Gottes dem Beter ins Herz einsenken. Ziel der Gebete ist die Veränderung des Beters. Er möge in den Willen Gottes, wie er sich in den augenblicklichen Lebensverhältnissen bekundet, einwilligen und sich darin einüben, gegen die Widersinnigkeit des Leidens an einen gnädigen Gott zu glauben. Habermann geht es in erster Linie darum, dass "innerlich werde, was äußerlich zuteil wird." (235)

Ein schwerwiegendes theologisches Problem der Habermannschen Theologie sieht K. in der starken Betonung des extra nos der Versöhnung des Menschen. Die Versöhnung wird als ein objektives Ereignis außerhalb des Menschen beschrieben. Erst in einem zweiten Schritt geht es darum, die Relevanz des meritum Christi für den einzelnen Menschen zu entdecken. Infolgedessen reißt Habermann auch, wie K. im Abschnitt über die "Postilla" herausarbeitet, den Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Heiligung, d. h. den Zusammenhang zwischen der Wiederherstellung der Gottesbeziehung und dem neuem Lebenswandel auseinander. Auf Grund der Dissoziierung eines für Luther gänzlich untrennbaren Zusammenhangs gerät Theologen wie Habermann der Glaube zu einem Appell an die Menschen. Diese sehen sich bei der Lektüre der Habermanntexte mit der Forderung konfrontiert, zuerst die aus der biblischen Überlieferung gewonnene Behauptung der Versöhnung zwischen Gott und den Menschen für wahr zu halten und dann in einem zweiten Schritt ethische Konsequenzen aus dieser ihnen geltenden Wahrheit zu ziehen. Der von Luther als dynamisches Geschehen beschriebene Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung wird so bei Habermann zu einer Abfolge zweier getrennter Schritte. An dieser Stelle konstatiert K. ein gravierendes theologisches Defizit auf seiten Habermanns, das sich freilich, wie K. schreibt, auf der Grundlage der Theologie Luthers beheben ließe.

Ein großer Vorteil von K.s Buch besteht darin, dass es sehr viel Quellenmaterial bietet. Habermann kommt sowohl im Haupttext als auch in den Fußnoten ausführlich zu Wort. Als Leser wird man nicht nur in ein Gespräch über, sondern auch in einen Dialog mit Habermann verwickelt. Sämtliche Zitate sind behutsam normalisiert. Aufbau und Struktur der Habermanntexte analysiert K. präzise. Über die Inhalte der Schriften verschafft er dem Leser einen guten Überblick. Mit Hilfe von Textvergleichen zeichnet K. Rezeptionswege nach. In den Fußnoten finden sich immer wieder weiterführende Gedanken.

Die seit einigen Jahren intensiv betriebene Erforschung der frühneuzeitlichen lutherischen Frömmigkeitsgeschichte bringt K.s Buch ein gutes Stück voran. Die Studie bereichert nicht nur die kirchen-, theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Diskussion. Was sie besonders lesenswert macht, sind K.s Versuche, Habermanns Denken von innen heraus zu begreifen. K. will dem Helden seiner Untersuchung systematisch-theologisch auf die Spur kommen. Regelmäßig stellt er die Frage, ob sich die eine oder andere Aussage Habermanns heutzutage wiederholen ließe. Häufig freilich kommt K. zu dem Schluss, dass vieles von dem, was zu Zeiten der lutherischen Orthodoxie theologisch einleuchtete, für das moderne theologische Bewusstsein nicht mehr nachvollziehbar, um nicht zu sagen: unerträglich ist. So wird man, wie K. schreibt, Habermanns Aussage, Kreuz und Leiden diene dem Menschen "zum Besten" und sei darum letztlich positiv zu bewerten, heute nicht mehr nachsprechen können.

K.s Untersuchung ist denen nützlich, die das Denken eines einflussreichen lutherisch-orthodoxen Theologen und seine teilweise singulär erfolgreichen Schriften kennenlernen wollen. Das Buch ist auch für diejenigen eine anregende Lektüre, die sich angesichts der theologischen Defizite heutiger Gebetstexte dahingehend informieren wollen, was man aus der Frömmigkeitsliteratur des lutherisch-orthodoxen Zeitalters lernen kann und mit welchen theologischen Schwierigkeiten man beim Versuch einer Wiedergewinnung dieser klassischen lutherischen Tradition konfrontiert wird.