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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1295 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Arnal, William E.

Titel/Untertitel:

Jesus and the Village Scribes. Galilean Conflicts and the Setting of Q.

Verlag:

Minneapolis: Fortress Press 2001. XIV, 290 S. m. Abb. gr.8. Kart. US$ 26,00. ISBN 0-8006-3260-5.

Rezensent:

Thomas Hieke

Waren die ersten Sammler und Überlieferer der Worte Jesu galiläische Dorfschreiber? William E. Arnal legt in seiner Studie einen neuen Ansatz zur soziokulturellen Einordnung der synoptischen Wortüberlieferung in der Logienquelle bzw. dem Spruchevangelium Q vor. Weite Strecken dieser aus seiner Dissertation (Betreuer: John S. Kloppenborg Verbin, Toronto) hervorgegangenen Arbeit sind daher der Auseinandersetzung mit dem bisherigen Forschungskonsens gewidmet. A. geht von zwei unhinterfragten Ausgangspunkten aus: 1) die Existenz des Spruchevan- geliums Q als griechisch geschriebenes Dokument und gemeinsame Quelle der Evangelisten Matthäus und Lukas (nach der Rekonstruktion des Internationalen Q-Projekts, vgl. J. M. Robinson/P. Hoffmann/J. S. Kloppenborg, The Critical Edition of Q, Minneapolis: Fortress/Leuven: Peeters, 2000), 2) die literarische Schichtung in drei Strata (Q1, Q2, Q3; nach J.S. Kloppenborg, The Formation of Q, Philadelphia: Fortress Press, 1987).

Während die kritische Ausgabe des rekonstruierten Textes des Spruchevangeliums Q mittlerweile zu den "bibelwissenschaftlichen Hilfsmitteln" zählt, ist das literarhistorische Entstehungsmodell Kloppenborgs zu Q nicht unumstritten. A. verwendet nur wenige Seiten darauf, dieses Modell zu rechtfertigen - zu Recht, denn für seine eigentliche These tut die literarische (diachrone) Schichtung von Q wenig bis nichts zur Sache. Was A. mit Erfolg aufs Korn nimmt, ist die landläufige Auffassung, die ersten Tradenten der Q-Sprüche seien urchristliche Wanderprediger mit einem radikal einfachen und asketischen Lebensstil gewesen (Stichwort "Wanderradikalismus"). A. zeichnet die Geschichte dieser These von ihren Anfängen bei Adolf von Harnack und dessen Auslegung der Didache bis hin zu ihrem prominentesten Vertreter der Gegenwart, Gerd Theißen, sorgfältig nach. Schon in diesem interessanten Abschnitt ist es eher hinderlich, dass das ansonsten optisch ansprechende Layout die Dokumentation der Thesen in Endnoten (im Anhang) bietet. A. begnügt sich nicht mit einer Darstellung der Auffassung Theißens, sondern erwähnt auch Kritikpunkte in Details sowie Variationen wie etwa die Kyniker-These (u. a. B. L. Mack, J. D. Crossan).

Gerade bei der Frage nach dem Verhältnis der Frauen zum Wanderradikalismus zeigt sich, dass A. kaum die deutschsprachige Forschungslandschaft wahrnimmt, denn man vermisst etwa den Beitrag von H. Melzer-Keller, Jesus und die Frauen, HBS 14, Freiburg i. Br.: Herder, 1997, 330-353. Auch sind nur zwei Titel des deutschen Q-Forschers Paul Hoffmann in der Bibliographie zu finden (zu ergänzen wären u. a. seine Aufsatzsammlungen Tradition und Situation, NTA 28, Münster: Aschendorff, 1995, und Studien zur Frühgeschichte der Jesus-Bewegung, SBAB 17, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1994).

Das dritte Kapitel von A.s Studie versucht, die These der Wanderprediger als Q-Tradenten methodologisch und sachlich zu falsifizieren, an der in der Tat textliche Fehlinterpretationen und unrealistische Szenarien zu kritisieren sind. A. bemüht sich ausführlich um eine Neuinterpretation der relevanten Stellen in der Didache (Did 11-15) und kann so die These von Theißen als Erklärung für die soziokulturelle Situierung von Q problematisieren. Für ein Alternativmodell holt A. weit aus und liefert eine ausführliche sozioökonomische Beschreibung der Lage im Galiläa des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Einige Fotografien illustrieren das Gesagte, ebenso eine Karte (entnommen aus: J. S. Kloppenborg Verbin, Excavating Q, Minneapolis: Fortress Press/Edinburgh: T&T Clark, 2000, 216-217; nicht nur die Karte, sondern auch einige Thesen A.s verdanken sich Kloppenborgs neuem Standardwerk; vgl. Rezension durch C.-P. März, Sp. 1301-1303). In diesem vierten Kapitel findet sich eine Fülle an interessantem Datenmaterial über die Dorfbevölkerung und die landwirtschaftliche Produktion, über Handel und Transport, Geldwirtschaft und Münzen sowie die Urbanisierung und die Ausbeutung des Landes durch neu gegründete Städte (Tiberias, Sepphoris), die als Verwaltungszentren den Überschuss des Landes abschöpften.

Hier verdichtet sich die These A.s: Diese Veränderung in der sozioökonomischen Landschaft habe eine Krisensituation heraufbeschworen. Die bisher weitgehend autonomen galiläischen Siedlungen hätten nun an Einfluss verloren und seien der wirtschaftlichen Ausbeutung anheim gefallen. Galiläische Dorfschreiber (griechisch komogrammateus), die bisher als wichtige Führungspersönlichkeiten zwischen der Bevölkerung und der Besatzungsmacht vermittelten, seien entmachtet worden. Sie, die eine mittlere Bildung hatten und - was sonst sehr selten war- schreiben konnten, seien für die Übernahme und Strukturierung der Q-Botschaft, der mündlichen Tradition der Jesus-Worte, verantwortlich gewesen. Mit ihrem Werk kritisierten sie die neue ausbeuterische soziale Ordnung und formulierten mit Hilfe der Jesus-Botschaft ein alternatives soziales Programm. A. demonstriert dies anhand der sogenannten Aussendungsrede (Q 10) und der Seligpreisungen (Q 6,20b-23b).

Man wünschte sich mehr Arbeit am Text, um die vorgelegte These an Q besser nachvollziehen zu können. Insgesamt geht es nach A. nicht um Wanderprediger und um einen radikalen Lebensstil, sondern um eine Alternative zu den als unsozial und menschenfeindlich empfundenen gegenwärtigen Verhältnissen. Die Rhetorik der Heimat- und Wurzellosigkeit stamme nicht aus einem Lebensideal, sondern aus der konkret erlebten Wirklichkeit, der die Ideale der Vergangenheit gegenübergestellt werden. Der Bezug dieser galiläischen Dorfschreiber zu Jesus sei eher indirekt, daher stamme nicht alles von Jesus, der als lokaler Volksheld eine geeignete Identifikationsfigur für die Botschaft war.

Bezüglich Lokalisierung und Datierung von Q muss A. bei dieser soziokulturellen Verortung entsprechende Schlüsse ziehen und eine relativ frühe Entstehung von Q1 weit vor dem Jüdischen Krieg 66-70 n. Chr. in Galiläa annehmen. Es stellt sich am Ende die Frage, ob die Geschichte des frühesten Christentums und die Einleitungen in die synoptischen Evangelien und in Q neu geschrieben werden müssen. Vielleicht nicht so, wie A. das gerne hätte. Die Annahme enthusiastischer Elemente mit einem radikalen Lebensstil in der frühen Jesus-Bewegung ist sicher nicht vom Tisch. Aber das ist nun - dank A.s soziologischer Studie - nicht mehr das alleinige Erklärungsmodell für die soziokulturelle Situierung von Q. A. hat eine plausible Alternative vorgelegt, die die etwas absurde Vorstellung herumziehender Bettelmönche, die auf Schriftröllchen Jesus-Worte verteilen, wohltuend korrigiert und eine realistischere und dem Alltagsleben des Galiläa des 1. Jh.s n. Chr angemessenere Theorie verfolgt. Eine sozialgeschichtliche Verortung bleibt immer Spekulation. "Jesus and the Village Scribes" ist eine vernünftig begründete Spekulation.