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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1233–1236

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ploeger, Albert K., en Joke J. Ploeger-Grotegoed

Titel/Untertitel:

De Gemeente en haar Verlangen. Van praktische theologie naar de geloofspraktijk van de gemeenteleden. [Die Gemeinde und ihre Sehnsucht. Von der Praktischen Theologie zur Glaubenspraxis der Gemeindemitglieder.]

Verlag:

Kampen: Kok 2001. 782 S. gr.8. Geb. ¬ 46,74. ISBN 90-435-03339.

Rezensent:

Hans-Günter Heimbrock

Das aus der Romantik abkünftige Wort "Sehnsucht" ist - zwanzig Jahre nach Henning Luther - aus der deutschen Praktischen Theologie fast ganz verschwunden. So überrascht es um so mehr, wenn es in einem neuen Werk der zeitgenössischen Praktischen Theologie Hollands gerade zum Leitbegriff gewählt wird. Das vorliegende Buch, zentriert um die "Sehnsucht der Gemeinde", bietet ein quantitativ wie qualitativ imponierendes Resultat der Koproduktion eines Theologenehepaars. Der Autor ist langjähriger und international bekannter Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Groninger Fakultät; die Autorin bringt neben jahrzehntelanger Erfahrung im Gemeindepfarramt auch intensive Erfahrungen bei der Pfarrerfortbildung mit ein. Auf 780 eng bedruckten Seiten und in 12 Kapiteln respektive 50 Paragraphen wird der ambitiöse Versuch einer integralen Praktischen Theologie unternommen. Und ambitiös ist dieser Versuch gleich in mehrfacher Hinsicht zu nennen. Denn das Autorenehepaar will nicht nur eine Gesamtdarstellung des Faches - inklusive aller wichtigen Teildisziplinen (!) - auf der Höhe der wissenschaftlich-theologischen Diskussion bieten. Sondern in der Grundorientierung einer Praxis-Theorie im Sinne des Untertitels soll diese Gesamtdarstellung über den internen akademischen Diskurs einer Pastorentheologie hinaus theoretische und praktische Reflexion über Gemeindemitglieder vermitteln und sogar eine praxisorientierte Praktische Theologie entwerfen, die Mitarbeitern vor Ort Anleitung in Praxisproblemen gibt (Wie versteht man einen "schwierigen" Hausbesuch? Wie erarbeitet man eine Predigt? usw.)

Das ist wahrlich kein leichtes Unternehmen, zumal wenn es die Bezugnahme auf die mittlerweile respektablen holländischen Traditionen des Faches (Firet, Schippers, Heitink, Dingemans und van der Ven) stetig verbindet mit internationalen Perspektiven, insbesondere mit Vertretern der Fachdiskussion in Deutschland und den USA.

Bei näherem Hinsehen erschließt sich mir der nicht explizit hergeleitete Aufbau des Werkes als Folge von drei großen Partien. Ein erster Teil (Kap. I-III; 1-17) erörtert die Prinzipienfragen Praktischer Theologie als theologischer Wissenschaft im Kontext der nationalen und internationalen jüngeren Fachdiskussion. Es folgt ein zweiter Teil (Kap. IV-VIII; 18-35), der so etwas wie eine praktisch-theologische Kirchentheorie bietet, die freilich biblisch- und systematisch-theologische Grundansätze ebenso berücksichtigt wie neuere kultur- und mediensoziologische Analysen. Ein dritter und letzter Teil (Kap. IX-XII; 36-50) erörtert auf solchem Fundament Theorie und Praxis der Teildisziplinen, wobei das Spektrum von Liturgik und Homiletik über Diakonik, Seelsorge, Gemeindepädagogik bis hin zu Pastoraltheologie (reformierter, presbyterial-synodaler Prägung!) und Kirchenrecht reicht.

Über das Grundinteresse seines weit gespannten Unternehmens legt das Autorenteam im ersten Teil sehr eingehende Rechenschaft ab. Diejenigen deutschsprechenden Leser, welche sich weder von der Sprachbarriere noch vom voluminösen Inhalt dieses opus magnum abhalten lassen, finden vor allem hier einen originellen Beitrag, der die Grundprobleme des Faches an der Schwelle zum neuen Jahrhundert kompetent und im Diskurs mit wesentlichen Positionen entfaltet. Diese Praktische Theologie will theoriefähige Forschung auf der Höhe der Probleme und Herausforderungen der gegenwärtigen Kultur bieten, welche die methodologischen Erträge der Fachdiskussion der letzten Jahrzehnte, insbesondere die Öffnung zu Sozial- und Kulturwissenschaften sichert. Sie will aber zugleich ihre Identität wahren, das heißt nichtsdestoweniger Theologie sein, welche ihre Theorie- wie Praxisorientierung von einer systematisch-theologischen Grundoption her begreift und normiert.

Das heißt für die Autoren, Theologie im Angesicht von Informationsgesellschaft und pluralistischer, multimedialer Alltagskultur zu betreiben, mit Mitteln der Wissenschaft nach den Bedingungen, Widerständen und Entfaltungsmöglichkeiten des christlichen Glaubens zu suchen. Freilich nicht einer solchen, die in der "Säkularisierungsthese" der Negativität der eigenen Kampfposition immer schon erlegen ist, sondern die mit N. Mettes "Evangeliumsthese" von Beginn ab mit der kontrafaktischen Realisierung des Reiches Gottes auch in der Postmoderne rechnet.

Als Gegenstand der Praktischen Theologie gilt eine breit gefasste Glaubenspraxis, genauer gesagt: "Praktische Theologie untersucht die Praxis von Glauben, Leben und Handeln von Christen als Personen, in Gemeinde und Gesellschaft in Bezug auf Bibel, Tradition, und gegenwärtige Kultur, um schließlich Anweisungen geben zu können für Glauben, Leben und Handeln von Personen und Gemeinden, die die Integrität allen menschlichen Lebens und der Schöpfung im Licht der Vision von Gottes kommendem Reich befördern" (138).

Solche Glaubenspraxis wird jedoch nicht einfach als Repetition oder Adaption von Tradition begriffen. Vom Interesse einer spezifisch Praktischen Theologie der "Sehnsucht" wird sie hier einerseits universalanthropologisch hergeleitet als universalmenschliches mentales Verlangen nach Geborgenheit, Liebe, Gerechtigkeit, kurz als "gerechtes und gutes Leben", welches nicht unbedingt mit religiösem Inhalt einer spezifischen Religion gefüllt sein muss. Christlich theologisch kann dies jedoch zugleich als "Leben im Geist", also pneumatologisch reformuliert und rehabilitiert werden. Dazu nehmen Ploeger/Ploeger-Grotegoed die theologische Bewegung von einem christologisch zentrierten Gemeindeverständnis hin zur trinitarisch offenen Gemeinde auf. Die Konstruktion dieses kulturoffenen pneumatologisch vermittelten Begriffs der Sehnsucht scheint mir ein Angelpunkt des Werkes zu sein, und eine besondere theologische Leistung zugleich. Denn damit kommen als Quellen des Glaubens neben Bibel und Tradition ausdrücklich (und im Verlauf des Buches immer wieder erörtert) auch außerkirchliche, alltagsbezogene Äußerungen von Geist-begabten Eingebungen ("influisteringen van Godswege", 44) in ihrer Relevanz für den Glauben in Betracht. Gedacht wird hierbei nicht nur an Elemente von Volksfrömmigkeit und Alltagsreligiosität und außerchristlichen Weltanschauungen, sondern auch von Kunst und Philosophie - und dies als theologisch gleichwertige Quelle für gegenwärtige Glaubenseinsichten. Allerdings setzen sich die Autoren klar von einer Praktischen Religionstheorie ab, welche überhaupt nicht mehr zwischen Religion und Glaube unterscheidet.

Es ist nur konsequent zu nennen, wenn zu solcher offenen Gegenstandsbestimmung auch eine adäquate praktisch-theologische Methode entwickelt wird. In einem nicht gerade leicht zu lesenden Durchgang durch eine Reihe von aktuellen methodologischen Offerten (von Dingemans, Groningen über Heitink, Amsterdam bis Don Browning, Chicago) wird das Konzept einer dreifachen Hermeneutik entwickelt, welche auf der Basis von P. Ricur (Oneself as Another) auch theoretisch die Bewegung zwischen Glauben und Leben (der Gläubigen! vgl. 63), zwischen der Tradition des Glaubens und dem gegenwärtig gelebten Glauben vollziehen soll.

Die Autoren beschreiben ihr Instrumentarium als Integration einer theologischen Hermeneutik mit einer sozialwissenschaftlichen sowie einer kulturwissenschaftlichen. Als Strukturkern der theologischen Hermeneutik insgesamt ergibt sich eine Wechselbewegung zwischen einer Hermeneutik A (verstehende Übertragung von Bibel und Tradition für heute als Aufgabe von Bibeltheologie und Dogmatik) mit der Hermeneutik B (Gemeindeglieder übertragen das Verstehen ihrer Glaubenspraxis für die akademische Theologie). Auf eine Kurzformel gebracht verstehen Ploeger/Ploeger-Grotegoed praktisch-theologische Forschung "als Wahrnehmen und Erfahren verbunden mit der Sehnsucht, intuitives Verstehen, beschreibendes Verstehen und distanziertes Erklären, besser zu begreifen in der eigenen Lebenswelt" (139). Wie hier die so verstandene Hermeneutik schon intensive Anleihen bei neueren phänomenologischen Ansätzen des Fachs gemacht hat, geht aus vielen Einzelpassagen hervor.

Die Form der Durchführung dieses Programms lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Denn Passagen mit traktathaft argumentativem Stil, Referate und Exkurse, wechseln oft mit eher persönlich gehaltenen Notizen und eher narrativen Elementen, die normalerweise in anregenden Vorlesungen ihren Platz haben. Einzelne Kapitel sind didaktisch überlegt durchstrukturiert. Grundgedanken werden dazu an gezielt ausgewählten Beispielen erläutert, etwa das Forschungsprogramm der Praktischen Theologie an unterschiedlichen Zugangsweisen zum Kyrie-Gebet (159 ff.), Sachreferate münden ein in bilanzierende Fragen.

Trotz des voluminösen Umfangs kann ich mir die Lektüre einzelner Kapitel deshalb im akademischen Unterricht und - wenigstens zum Teil - in Gruppen theologisch gebildeter Laien sehr gut vorstellen.

Dass eine so umfassend dimensionierte Einführung nicht in allen Einzeldarstellungen über kundige Markierungen des Dis-kussionsstandes hinausgelangen kann, vermerken die Autoren selbst. Lesenswert scheint mir dieses Buch gleichwohl aus mehreren Gründen. Dazu gehören für mich nicht nur die vielen erhellenden Einsichten in spezifisch niederländische Wege der jüngsten kirchlichen Bemühungen um Einheit zwischen den innerprotestantischen Zersplitterungen. Sondern auch die kritische Rekonstruktion deutscher Konzepte und Argumente aus einer etwas distanzierteren Sicht ist wertvoll. (In diesem Zusammenhang steht übrigens der Vergleich mit P. C. Bloths Konzept, wo ebenfalls "Gemeinde" ins Zentrum der Praktischen Theologie rückt, noch aus). Es stellt darüber hinaus wohl eine besondere niederländische Spezialität dar, ein Glaubens- wie Kirchenverständnis Barthscher Prägung mit einer kulturoffenen Praktischen Theologie zu verbinden. Hier bieten die Autoren eine ungewöhnliche Kombination zwischen dem Versuch einer theologisch kohärenten Konzeption einerseits und dem offenen Wahrnehmen dessen, das (noch) nicht im System vereinnahmt werden kann: dazu gehören Phänomene wie Glaube mit Körper und Geist (382 ff.); Popularkultur (396 ff.); Religion in der Großstadt, mit überraschend konkreten und detaillierten Kenntnissen z. B. über die City-Kirchenarbeit im westfälischen Hagen (430 ff.) u. a.

Wenn das Buch mit solchen Stärken sicher weit über den niederländischen Kontext hinaus von Relevanz für die Fortentwicklung einer lebensweltoffenen und kulturfähigen Praktischen Theologie in Europa ist, so dürften im Gegenzug neuere Bemühungen um einen spezifisch theologischen Begriff von Kultur in der deutschen Praktischen und Systematischen Theologie für einige noch ungelöste Probleme im Band neue Anstöße geben können. So wird es gerade für eine nicht vereinnahmende Kulturtheologie von Belang sein, die Relevanz "säkularer Bilder des gerechtfertigten und guten Lebens" (61) für die entwickelte Hermeneutik des Glaubens zu entfalten. Verbunden damit wird es für eine im Glaubensgeschehen zentrierte Praktische Theologie wichtig, expliziter zu vermerken, wo eine dementsprechende Theorie des Glaubens nicht mehr allein auf inhaltliche Momente narrativer Gehalte aus Bibel und Tradition rekurriert, sondern Glauben als Sehnsucht, von der ästhetischen Erfahrung her als Weltverhältnis bestimmt.