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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1227–1230

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Failing, Wolf-Eckart, Heimbrock, Hans-Günter, u. Thomas A. Lotz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion als Phänomen. Sozialwissenschaftliche, theologische und philosophische Erkundungen in der Lebenswelt.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2001. VI, 215 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 111. Geb. ¬ 78,00. ISBN 3-11-016852-9.

Rezensent:

Matthias G. Petzoldt

Der Inhalt des anzuzeigenden Bandes hat seinen Ort im Wandlungsprozess der Disziplin Praktische Theologie, die sich von der ausschließlichen Gegenstandsbindung an kirchliche Funktionsvollzüge freigemacht hat und ihre Aufmerksamkeit auf die bunte Vielfalt der religiösen Lebenswelt richtet. Versteht sie sich als Wahrnehmungslehre (wie z. B. bei Grözinger und Heimbrock), rückt die Frage in den Vordergrund, wie belastbar die "Phänomenologie für Konstitution, Gegenstandsbereiche, Verfahrensweise und Forschungsstrategien der Praktischen Theologie" ist (1 f.).

Auf einer nicht näher datierten "Frankfurter Konsultation" ist dieses Problem diskutiert worden. Die dort gehaltenen bzw. daraus hervorgegangenen Beiträge sind mit ihren Bezugnahmen auf die unterschiedlichsten Entwürfe von Phänomenologie und durch ihre vielfältigen fachlichen Perspektiven nicht dazu angetan, ein schlüssiges Konzept etwa einer phänomenologischen Praktischen Theologie zu entwerfen. Das ist auch gar nicht das Ziel der Herausgeber. In ihrem Bemühen um eine "phänomenologische Orientierung" (2) macht der Band auf den Leser eher den Eindruck eines Werkstattberichts. Gerade darin ist er über die Fragestellungen der Praktischen Theologie hinaus anregend und setzt dennoch eigene Akzente etwa gegenüber der systematisch-theologischen Diskussion um den Wirklichkeitsbezug des Glaubens und phänomenologische Begründungsmuster der Theologie im MJTh 6, 1994.

Der einleitende Aufsatz der beiden Herausgeber Wolf-Eckart Failing und Hans-Günter Heimbrock (Praktische Theologie als Theorie Gelebter Religion. Problemhorizonte und Leitbegriffe; 15-45) zeichnet sich vor allem durch seine präzisen Fragestellungen aus. Zu klären ist nach ihrer Sicht "die Rolle der bereits mehrfach in Anspruch genommenen Phänomenologie [...]. Liefert sie der Praktischen Theologie neue Prolegomena, auf die aber im Hauptteil eigentlich nicht mehr rekurriert wird, wo dann munter empirisch, hermeneutisch oder auch instrumental-pragmatisch gearbeitet wird? Hat sie eine Scharnier-, Gelenk- oder Fundierungsfunktion? Ist sie eine mitlaufende methodische Grundhaltung? Oder besteht ihre Hilfe darin, mit Bezugnahme auf Alltag und Lebenswelt neue, bislang übersehene Gegenstände für (praktisch-)theologische Reflexion zu erschließen? Oder ist sie gar eine neue theologische Meta-Theorie, der weit über ein Fach hinaus Bedeutsamkeit zukommt?" (32)

Mit Henning Schröer (Die Bedeutung der Phänomenologie für die Konstitution Praktischer Theologie; 46-59) kommt ein Praktischer Theologe zu Wort, der schon vor Jahrzehnten die Rezeption der Phänomenologie für sein Fach eingefordert hatte. Er entwickelt hier sieben Punkte "einer Praktischen Theologie als integraler Erfahrungswissenschaft mit Wahrnehmung, Erörterung und Erwartung als Forschungshorizonten" (58).

Der Bochumer Philosoph Bernhard Waldenfels (Phänomenologie der Erfahrung und das Dilemma einer Religionsphänomenologie; 63-84) hat als ein namhafter Vertreter gegenwärtiger Phänomenologie mit seinem Aufsatz einen hilfreichen Beitrag geliefert, indem er zentrale Begriffe wie Erfahrung, Intentionalität, eidetische und transzendental-phänomenologische Reduktion und die Husserlsche Parole "Zu den Sachen selbst" zu klären sucht. Sein Ziel ist, auf die Paradoxie in der Erfahrung aufmerksam zu machen, insoweit solcher Zugang zu den Sachen selbst immer verbunden ist mit dem Erfassen dessen, "was sich im Sichzeigen der Sache nicht zeigt" (75). Daraus ergibt sich für das phänomenologische Reden von religiöser Erfahrung ein spezifisches und damit eben nicht auflösbares "Dilemma", etwas zu beschreiben, "das nur da ist, indem es sich entzieht" (84).

Der Hamburger Systematiker Michael Moxter (Die Phänomene der Phänomenologie; 85-95) zeigt an der vielfachen Kritik, die sich im Laufe des 20. Jh.s von Seiten der Philosophie und Wissenschaftstheorie gegen Husserl und alle ihm auf je eigene Weise Nachfolgenden erhoben hat, dass Phänomenologie als Schuldbildung nicht überzeugen konnte. Für unverzichtbar hält er aber - auch für die theologische Arbeit - deren "methodische Einstellung" (95 u. ö.). Diese charakterisiert Moxter als "präzise Ungenauigkeit" (92) und meint damit "denjenigen Adäquatheitsstandard [...], der zur phänomenologischen Beschreibung gehört. Diese wird versuchsweise vollzogen, [...] wo sich dem Seienden noch nicht auf den Kopf zusagen lässt, unter welchen Begriff es fällt, in Fällen also, in denen Unbestimmtheit zur Gegebenheitsweise selbst gehört" (92).

Eine solche Beschreibungsdevise, die die Sache selbst in den Phänomenen zu erfassen sich bemüht und sie in dem Verhältnis von Gegebenem und Entzogenem wahrnimmt, steht quer zu jenen Wissenschaftsdiskursen, die entweder naiv die Dinge unmittelbar und als solche zu entdecken und abzubilden meinen oder welche die Sache hinter den Phänomenen suchen. "Immer schon über den naiven Status bloßer Abbildung hinaus zu sein und dennoch beschreiben zu müssen, konstituiert insofern die phänomenologische Methode. [...] Die Kehrseite dieses Eingeständnisses ist eine kaum übersehbare Argumentationsabstinenz. Der Phänomenologe weiß von keiner anderen Begründung als der, die Phänomene zeigten sich nun einmal so, wie er sie zu beschreiben sucht. Dass sie sich auch anders zeigen, ist ihm nicht unbekannt. Aber der Hinweis darauf kann nur ein Anlass zu erneuter Beschreibung sein, kein Gegenargument gegen seine Arbeit" (95). So sind die "Tugenden des Phänomenologen [...] die Beschreibungsnotstände des Theoretikers" (92).

Die semiotische Phänomenologie, die der Frankfurter Systematiker Hermann Deuser (Instinkt und Symbol. Semiotische Phänomenologie der Religiosität; 99-120) auf der Basis der Theorieentwürfe von Peirce und Neville entwickelt, passt sich nur schwer ein in die meisten anderen Beiträge, die stärker europäische Ansätze rezipieren. Für Deuser steht die Schlussform der Abduktion im Zentrum, also die mit instinktiver Überzeugungskraft sich aufdrängenden Hypothesen, welche sich in der Lebenspraxis bewähren (müssen), und die ihre Religiosität darin aufweisen, dass sie aus sich heraus auf kosmologische und metaphysische Einsichten führen, die aber ihrerseits auf symbolische Vermittlung angewiesen sind. Semiotische Phänomenologie - so der Vf. - öffnet den Blick dafür, dass Religiosität Wirklichkeit erschließt; "ein Erfahrungsbegriff, der Religiosität ausdrücklich nicht berücksichtigen würde, wäre fehlerhaft" (120).

In dem Beitrag des Kölner Sozialwissenschaftlers Wolf-Dietrich Bukow (Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen im systemischen, lebensweltlichen und kommunikativen Kontext; 121- 143) begegnet man bekannten Thesen aus der Religionssoziologie: Verlagerung von kirchlicher Religion auf individuelle Deutungspraxis; Politik und Werbung als Beispiele von Religion im gesamtgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang. Sosehr auch bei seiner Erörterung der Theorieansatz von Alfred Schütz Pate steht, fragt man sich doch, wo hier das Spezifische einer phänomenologischen Soziologie zum Vorschein kommt, wenn nicht schon die Inanspruchnahme des Wortes "Lebenswelt" den phänomenologischen Gehalt einer Studie sicherstellen soll.

Der Filmbeauftragte der EKD Werner Schneider-Quindeau (Bewegte Blicke. Erfahrungen mit dem Sehen in Film und Glaube; 147-158) analysiert auf dem Hintergrund sowohl der semiotisch orientierten Filmtheorie von G. Deleuze als auch phänomenologischer Studien von B. Waldenfels zur Wahrnehmung des Fremden die "spezifische Seherfahrung" (147) des Kino-Films. In seiner Verschränkung von Bildhaftigkeit und Bewegung erweitert der Film, zusammen mit dem Erlebnisraum Kino, der durch Verdunklung und Organisation des Blickfeldes künstliche Bedingungen der visuellen Wahrnehmung herstellt, die natürlichen Seherfahrungen. Diese Einsicht wird dem Vf. zur Verstehensbrücke für den Glauben und sein Reden von Gott: "Da wird die Wirklichkeit noch einmal anders in ihrer Gleichnisfähigkeit und Gleichnisbedürftigkeit erkennbar" (156).

Der Praktische Theologe Thomas A. Lotz (Zeichen; 159- 191) diskutiert in sehr grundsätzlicher Weise unterschiedliche Zeichen-Theorien und die Frage nach ihrer Tragfähigkeit sowohl für die empirische Orientierung der Praktischen Theologie als ganzer als auch für ihre traditionellen Teildisziplinen Liturgik, Homiletik, Religionspädagogik und Seelsorgetheorie. Aufschlussreich ist dieser Aufsatz besonders in zweierlei Hinsicht. Zum einen begründet der Vf. die These "Der Zeichenbegriff muß also selbst phänomenologisch gefaßt werden" (159) und erörtert unter dieser Zielstellung in dichter Weise die Frage nach möglicher Konkordanz wie Divergenz zwischen der linguistischen Semiotik Ecos und der phänomenologischen Zeichentheorie Peirces (gerade auch bezüglich der Theorie einer unbegrenzten Semiose). Auf diesem Hintergrund führt der Vf. zum anderen eine kritische Diskussion mit praktisch-theologischen Rezeptionen der Semiotik bei Schiwy, Bieritz, Engemann, Meyer-Blanck, Volp, Fleischer, denen er zum Teil eine lebensweltvergessene Loslösung der Zeichenpraxis von deren Realitäts- und Lebensbezug vorwirft, durch welche die Praktische Theologie einem bloßen Spiel mit Bedeutungen aufsitze.

Failing und Heimbrock greifen "in der Hoffnung auf mehr Wirklichkeitsgewinn der Theologie" (206) zum Abschluss ein klassisches und heute (z. B. durch Josuttis) wieder intensiv traktiertes Thema auf: Das Heilige (192-207). Die unkritische Art und Weise, wie in den Ausführungen Beispiele von Höchstschätzungen in der Lebenswelt von Jugendlichen (das ist mir heilig) zum Beleg dafür herangezogen werden, "daß das Heilige [...] eine eigene Seins-Qualität und Wirkmächtigkeit hat, wenn anders Menschen diese nicht erfahren könnten oder als Erfahrung tradiert haben" (200), ist kein überzeugendes Plädoyer für die phänomenologische Methode. Unterschätzt wird die Wirkmächtigkeit von Deutungskulturen, die etwas als heilig oder als höchstrelevant oder als tabu usw. werten. Und der Faktor in-nerchristlicher Wertungsdifferenzen mit den starken protestantischen Traditionen theo- bzw. christozentrierter Kritik an Sakralisierungen vorfindlicher Wirklichkeit und ihrer säkularisierenden Wirkungsgeschichte wird nivelliert.

Die Herausgeber erhoffen sich von der Integration phänomenologischer Entwürfe und Methodik "ein Mehr an theologischer Wahrnehmung" in der Praktischen Theologie (8). Aber nicht nur für diese Disziplin, sondern auch im Hinblick auf das theoretische Geschäft der Theologie im Ganzen sowie der Philosophie und der Sozialwissenschaften ist aus den Beiträgen ein Hunger nach Wirklichkeit zu spüren. Er verbindet sich in der Theologie mit einem Überdruss an kirchlicher Binnenorientierung einerseits und an der Sterilität bewusstseinstheoretischer Selbstreflexion andererseits. Wieweit Phänomenologie (vor allem als methodische Einstellung) hier wirklich heraushilft und wie sinnvoll und konsistent dabei ihre Beschreibungsarbeit mit der semiotischen Problemorientierung ineinandergreift, darauf haben die Aufsätze weniger Antwort zu geben als vielmehr Fragestellungen zu präzisieren vermocht. Aber was könnte auch Besseres über einen Diskussionsband gesagt werden?