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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1192–1194

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rolin, Patrice

Titel/Untertitel:

Les controverses dans l'Évangile de Marc.

Verlag:

Paris: Gabalda 2001. IV, 383 S. gr.8 = Études bibliques, Nouvelle série, 43. Kart. ¬ 45,74. ISBN 2-85021-132-1.

Rezensent:

Wolfgang Weiß

Die Streit- und Schulgespräche des Markusevangeliums, im Wesentlichen die Textkomplexe Mk 2,1-3,6 und 11,27-12,34, haben in den letzten zehn Jahren aus unterschiedlicher Forschungsperspektive (z. B. Vollmacht Jesu; Gesetz; vormarkinische Sammlungen) und in Studien der Einzelkomplexe oder -texte Beachtung gefunden. Diese Arbeiten treffen sich in ihrer diachronen Vorgehensweise und z. T. auch in dem gegenwärtig wieder erwachten Vertrauen auf die Tradition. Demgegenüber nimmt die Studie von P. Rolin erneut beide Textkomplexe in den Blick und geht einen konsequent redaktionskritischen Weg, auf dem er synchron die Argumentation und den Erzählstil des Markus erhellen will.

Die Untersuchung lag 1997 seiner Doktorthese (unter der Leitung von F. Vouga) am Pariser Institut Protestant de Théologie zu Grunde.

Einleitend zeichnet R. den Forschungsstand nach und nimmt zur inneren historischen Frage der Form Stellung. Die Forschung sieht er durch zwei Stadien repräsentiert, zum einen durch die klassisch formgeschichtlichen Werke von M. Dibelius, R. Bultmann, M. Albertz und V. Taylor (7-11), andererseits durch die Neuaufnahme der Frage in den Arbeiten von A. J. Hultgren und R. C. Tannehill für die angelsächsische und W. Weiß für die deutschsprachige Forschung (14-18). Gegenüber einem Vergleich mit den Chrien antiker Rhetorik übt R. Zurückhaltung (12 f.). Für seine eigene Untersuchung hat die Formbetrachtung nicht nach ihren inneren, sondern nach den äußeren Kriterien Gewicht, da die Verwendung durch Markus keinen entscheidenden Unterschied zwischen Kontroversen und Schulgesprächen (des controverses et des dialogues didactiques) erkennen lasse.

Aus dieser Perspektive heben sich für R. innerhalb des Markusevangeliums zwei von ihrer Form her vergleichbare Textkomplexe durch ihre symmetrische Anordnung und klare Abgrenzung vom Kontext heraus: Mk 2,1-3,6 und insgesamt (!) Mk 11,27-12,44. Diese Texte bilden seinen Untersuchungsgegenstand, der sowohl exklusiv (Mk 3,22-30.31-35; 7,1-13; 10,1-12) als auch inklusiv (Mk 12,1-12.35-37.38-40.41-44) begründet wird (19-21). Die Analysen der Einzeltexte verlaufen recht gleichartig nach einem klassisch historisch-kritischen Methodenkanon von Abgrenzung, literar(krit)ischer Analyse, Geschichte der Tradition und markinischer Redaktion. Methodisch zeigt R. ein bemerkenswertes Zutrauen zur Vokabel- und Stilstatistik. Obgleich R. dieses Zutrauen methodologisch bedenkt (24-27) gibt es seinem Analyseverfahren einen schematischen Charakter, der sich am Ende in einem Anhang von für Markus typischen Wort- und Stilformen niederschlägt (347- 353).

Traditionsgeschichtlich trägt R. nicht nur Hypothesen zur Entwicklung der einzelnen Überlieferungseinheiten vor, sondern weiß die Prozesse auch verschiedenen Stadien der vielfältigen frühchristlichen Geschichte (28-30) zuzuweisen. Die Analysen (zu Mk 2,1-3,6: 32-120; zu Mk 11,27-12,44: 129-310) verzichten fast durchgehend auf einen Anmerkungsapparat, geben aber die wesentliche Fachdiskussion in Form vorgestellter Hypothesen und durchsichtiger Entscheidungsfindung wieder. Die Analysen von Mk 11,27-12,44 sind daher weit komplexer, zum "Erb"-Motiv in Mk 12,1-12 werden die biblischen und außerkanonischen Belege in einem zweiten Appendix gesammelt (354-356). Jede Einzelanalyse schließt mit einem Resümee ab, ebenso bietet R. nach der Behandlung der beiden Textkomplexe jeweils eine Zusammenfassung der Ergebnisse und erhebt die theologische Intention der jeweiligen markinischen Redaktionstätigkeit (121-128 und 313-326).

Innerhalb Mk 2,1-3,6 sieht R. durch Markus eine soteriologische Perspektive entwickelt, das traditionell in den Stoffen enthaltene Thema der Vollmacht Jesu (Mk 2,10.28) werde zur Manifestation des Befreiers Jesus gesteigert. Parallel dazu steigere Markus den Gegensatz zwischen radikaler Neuerung (Mk 2,12.21.22 vgl. 1,27) und alter Ordnung.

Solche Dramatisierung und Radikalisierung der Tradition lasse sich auch am Handlungsablauf beobachten, die Befreiungsmanifestation stoße auf die sich vom Blasphemie-Vorwurf (Mk 2,7) bis zum Todesbeschluss (Mk 3,6) dramatisch steigernde Opposition der Verfechter der alten Ordnung. Das befreiende radikal Neue im Gegensatz zur alten Ordnung stelle Markus in den Horizont der Passion, die Ablehnung Jesu sei durch das radikal Neue, das Jesus verkörpert, und seine Demonstration der Befreiung provoziert. Die Kontroversen führten den Leser selbst in die Entscheidung von Annahme oder Ablehnung. Die Breite der Gegnernennungen biete ein Spektrum negativer Identifikationsfiguren.

Auf der Ebene des Markus gehe es gar nicht mehr um Probleme der Gemeindepraxis, die mit christologischen Argumenten gelöst werden, sondern um die Soteriologie auf Grund der zu Gunsten des Lesers effektiven Manifestation der befreienden Vollmacht Jesu. Einen "wahrscheinlichen" Hintergrund denkt sich R. in einer Situation, in der die alte Praxis bedeutungslos geworden sei. So erscheine, bestätigt durch diesen faktischen Ausgang, dem Leser des Markusevangeliums Jesus als "champion des Lumières" im Kampf gegen die zwischenzeitlich obsolet gewordene alte Ordnung. Jesus sei somit als derjenige zu erkennen, der nicht nur faktisch befreit hat unter Einsatz seines Lebens, sondern der den Leser von allem befreit, was ihn bedrückt. Der Leser sei zu einer radikal freien Existenz aufgefordert (127 f.).

Auch für Mk 11,27-12,44 bestimmt R. die markinische Redaktionstätigkeit von einer dominant soteriologischen Dimension her. Nach seinem Sieg in den Kontroversen 11,27-12,34 ergreife Jesus offensiv die Initiative gegenüber den Schriftgelehrten, schließlich gegenüber den Reichen, der Menge, eben allen (Mk 12,41-44), womit die Identifikationsfiguren des Lesers benannt seien (323 f.). Markus stelle Jesus und dessen befreiende Autorität in die Mitte seiner Darstellung. Die Ablehnung trägt ihn an das Kreuz. Die Lehrtätigkeit Jesu lasse den in die befreiende Autorität eingebundenen Leser an dem Drama der Passion unmittelbar teilnehmen. Ohne 11,27-12,44 wäre der Leser lediglich Zuschauer einer Tragödie und könnte Mitleid empfinden angesichts des ungerechten Ereignisses der schuldlosen Kreuzigung (324). In den unterschiedlichen Darstellungsformen vor und nach 12,34 spiegelten sich die verschiedenen Gruppen, gegenüber denen Markus den Ausgleich suche, einerseits die Apokalyptiker und konservativen Judenchristen, andererseits die Vertreter der hellenistischen Weisheit (325 f.).

Dem Vertreter einer christologischen relecture der Tradition durch Markus könnte die soteriologische Interpretation eine Alternative bieten. Allerdings sehe ich die Leser von den Praxis- und Glaubensfragen nicht befreit, sondern Markus bietet Antworten innerhalb der indizierten Praxis für Leser, die von diesen Fragen noch immer betroffen sind. Ein soteriologisches Selbstverständnis ist dem hellenistischen Christentum sicher nicht fremd, jedoch sollte in dieser Frage die Annahme durchlässiger Strukturen vor Abgrenzung gehen, zumal m. E. für das Mar-kusevangelium der Einfluss judenchristlicher Kreise (nach 66 n.Chr.) veranschlagt werden kann.

Die Gesamtzusammenfassung (327-345) nimmt noch einmal die wichtigsten Aspekte der markinischen Redaktionstätigkeit auf besonders auch im Blick auf die implizite und vermutliche Leser- und Hörerschaft (344 f.). In diesem letzten Teil vermisse ich die Berücksichtigung erzähltheoretischer Studien zum Markusevangelium.

Dem Vf. ist zu danken, das Thema der Streit- und Schulgespräche insgesamt für die Markusforschung wieder aufgegriffen und die Diskussion durch einen Beitrag aus der frankophonen Exegese (18) befruchtet zu haben.