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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

960–962

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Scheuer, Manfred

Titel/Untertitel:

Weiter-Gabe. Heilsvermittlung durch Gnadengaben in den Schriftkommentaren des Thomas von Aquin.

Verlag:

Würzburg: Echter 2001. XI, 360 S. 8 = Studien zur systematischen und spirituellen Theologie, 32. Kart. ¬ 24,50. ISBN 3-429-02286-X.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Mag Thomas v. Aquin auch nicht mehr "der" maßgebliche Lehrer in der römisch-katholischen Theologie und Kirche der Gegenwart sein, so ist doch das scharfe begriffliche Denken des Aquinaten nach wie vor faszinierend und eine Herausforderung auch im protestantischen Raum geblieben. Das hat noch jüngst die kontroverse Diskussion um die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" gezeigt. Die Nähe von Thomas und Luther - bei allen Unterschieden - hat schon O. H. Pesch auf inzwischen "klassisch" zu nennende Weise herausgestellt, und nun bietet Manfred Scheuer, seit kurzem Professor für Katholische Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Trier, mit seiner in Freiburg i. Br. von G. Greshake betreuten Habilitationsschrift einen weiteren Gesichtspunkt an, die thomanische Theologie zu erschließen und zumindest vom Ansatz her auf protestantische Grundüberzeugungen hin zu öffnen: Er stellt Thomas v. Aquin als entschiedenen Schrifttheologen dar, dem "die Schriftauslegung Basis und Kriterium aller Theologie" sei (34). Auch das von Sch. in den Mittelpunkt gerückte Thema der Gnadengaben und ihre kommunikative Vermittlung in kritischer Fortführung der Thesen von H. U. v. Balthasar, H. Küng, O. H. Pesch u. a. dürfte von besonderem ökumenischen Interesse sein. Deren Interpretation richtet sich nicht nur nach der bekannten, aber vergleichsweise schmalen Textbasis der "Summa theologiae" (STh II-II,171-179), sondern sie stützt sich vielmehr auf die weniger bekannten Schriftkommentare des "doctor angelicus", die zu diesem Thema umfassend herangezogen werden.

Nach scholastischer Unterscheidungskunst differenziert Thomas grundsätzlich zwischen der gratia gratum faciens, der heiligmachenden Gnade, "... durch die der Mensch selbst mit Gott verbunden wird" (5), und den gratiae gratis datae, den Gnadengaben nach 1Kor 12, als "nicht für das eigene Heil notwendige, je individuell zugeteilte Befähigungen zum Dienst am Heil anderer bzw. zur Auferbauung der Kirche" (3). Dabei nimmt Thomas in den Schriftkommentaren und im Unterschied zu den einschlägigen Passagen in der "Summa theologiae" interessanterweise keine Höherbewertung der gratia gratum faciens gegenüber den gratiae gratis datae vor (305). Gedacht ist dabei z. B. an das charisma der Prophetie, der Weisheit und Wissenschaft, an die Befähigung zu Lehre und Verkündigung, an die Gabe der Sprache und der wunderbaren Heilungen (198) - an all das, was zum Nutzen der Gemeinschaft und der Kirche eingesetzt werden kann. Insofern lässt sich hier - mit Blick auf den alten Streit zwischen R. Sohm und A. v. Harnack über die ursprüngliche Gestalt und Verfasstheit der Kirche - nach Sch. kein Gegensatz von charisma und Amt bzw. Institution konstruieren. Unterstreichen kann man in diesem Zusammenhang die Interpretation der Gnadengabe "Wissenschaft", die von Sch.- wie alle anderen charismata auch - als Kommunikationsgeschehen aufgefasst wird. Denn so bietet sich eine bedenkenswerte Abgrenzung von Theologie als Wissenschaft gegenüber bloßem Fideismus, Fundamentalismus und esoterischem Geheimwissen an, sofern zur Wissenschaft die öffentliche Kommunizierbarkeit gehört (230).

Wenn aber der durch die gratiae gratis datae zum Dienst an anderen befähigte Mensch zur "Rechtfertigung der anderen" (5) vor Gott mitwirkt und beiträgt, erhält so die Kirche eine erstaunliche soteriologische Aufwertung im Sinne eines Synergismus, der nicht nur auf Protestanten befremdlich wirken muss, sondern auch gleichsam system-immanente Irritationen hervorruft, und zwar gerade dann, wenn es keine Hierarchie zwischen der gratia gratum faciens und den gratiae gratis datae geben soll. Denn von der Seite der gratia gratum faciens her gesehen stellt sich die Frage: Warum sollte Gott den Umweg über die doch auch immer durch Misslingen gefährdete Kommunikation über die gratiae gratis datae zum Heil der anderen wählen (167), wenn er dieses auch unmittelbar und sicherer über die gratia gratum faciens erreichen kann? Und von den gratiae gratis datae her gefragt: Gibt es faktisch überhaupt ein isoliertes Gottesverhältnis des einzelnen, das außerhalb und ohne eine irgendwie geartete sprachliche Vermittlung durch andere zustande kommt? Sch. selbst betont ja gerade, dass es bei der Heilsvermittlung durch die gratiae gratis datae nicht um ein personales Geschehen in bloßer "Innerlichkeit" gehen kann (33.72), und so ist der zum Heil führende Glaube immer als "vermittelte Unmittelbarkeit" zu verstehen (247).

Aber so scheinen das eine Mal die Gnadengaben, das andere Mal die heiligmachende Gnade selbst fraglich bzw. obsolet zu werden, solange das Verhältnis dieser beiden Typen von Gnade zueinander noch ungeklärt ist. Dieses systematische Hauptproblem der vorliegenden Studie wird noch nicht dadurch gelöst, dass immer wieder auf analoge kommunikative Verhältnisse und Strukturen in Gott (Trinität; Christologie; Pneumatologie) (28 f.) sowie in der Kirche (30 u. ö.) hingewiesen und "communicatio" zum Schlüsselbegriff der insgesamt mehr thetisch-referierend als argumentativ-kritisch entwickelnd vorgehenden Interpretation erklärt wird (31 u. ö.). Denn mit Blick auf das intersubjektive Kommunikationsgeschehen der kirchlichen Heilsvermittlung wird man es nur schwer realisieren können, dass es sich bei der mitteilenden Weitergabe um Gott selbst in der Einheit von Gabe und Mitteilung, trinitarischem Sein und schöpferischem Wirken (32) handelt, auch wenn auf diese Weise mit Recht die personale statt dingliche Relation zwischen Gott und Mensch in der Heilsvermittlung herausgestellt wird (32). Kann denn irgendeine menschlich vermittelte Gabe eindeutig als Selbstgabe Gottes identifiziert werden? Welche Kriterien stünden dafür zur Verfügung? Für eine solche steile theologische These sind die kirchlichen Kommunikationsstrukturen insgesamt doch zu zweideutig. Wie wäre sonst Anfechtung, Skepsis oder gar Ablehnung der Heilsgabe zu erklären?

Will man dennoch an der theologischen These von der Einheit von Gott, Gabe und Weitergabe festhalten, müssten auch solche negativen Erfahrungen von gestörter oder misslingender Kommunikation im Blick auf das zu Grunde liegende Gottesbild (Deus absconditus) reflektiert werden, wozu aber weder Thomas selbst noch sein Interpret systematische Ansätze bieten. Es fehlt der Blick für die kategoriale Differenz zwischen intersubjektiven Kommunikationsstrukturen, wie sie unter Menschen (coram mundo) statthaben, und solchen, die das Gottesverhältnis (coram Deo) konstituieren. Daher ist es auch zu harmlos, das kommunikative Verhältnis zwischen Gott und Mensch bei der Heilsvermittlung mit dem Paradigma der "Freundschaft" zu erläutern (132), als ob sich Gott und Mensch wie Menschen untereinander gleichsam symmetrisch auf ein und derselben Ebene befinden würden. In dieser allzu harmonisch-affirmativen Sicht des kommunikativen Verhältnisses zwischen Gott und Mensch sowie zwischen Menschen untereinander als Explikation des thomanischen Grundsatzes vom ergänzenden Verhältnis von Natur und Gnade ("gratia non tollit naturam sed perficit", zit. nach S. 191, Anm. 798) geht das kritische Gegenüber Gottes zur Welt - auch und gerade gegenüber der Kirche - verloren.

Insgesamt handelt es sich bei vorliegender Studie um eine gut lesbare (was bei akademischen Qualifikationsarbeiten leider selten geworden ist), klar aufgebaute, dogmengeschichtlich lehrreiche und systematisch anregende, wenn auch einige offene Fragen zurücklassende Thomas-Interpretation.