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Ausgabe: | September/2002 |
Spalte: | 937–939 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Neuzeit |
Autor/Hrsg.: | Noll, Mark A. |
Titel/Untertitel: | 1) Das Christentum in Nordamerika. Aus dem amerik. Manuskript übers. v. V. Jordan. |
Verlag: | 1) Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000, 276 S. gr.8 = Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, IV/5. Geb. ¬ 24,80. ISBN 3-374-1814-9. |
Rezensent: | Hartmut Lehmann |
Mark A. Noll vom Wheaton College ist einer der führenden amerikanischen Historiker, die sich mit der Geschichte des Christentums in den Vereinigten Staaten beschäftigen. Die Herausgeber der "Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen" sind zu beglückwünschen, dass es ihnen gelungen ist, Mark Noll als Autor für den Band Das Christentum in Nordamerika zu gewinnen. Denn Nolls Darlegungen sind auf der Höhe der aktuellen Forschung. Er versteht es außerdem, seinen Stoff klar zu gliedern. Zugleich ist er präzise und anschaulich im Detail. Noll hat, wie er einleitend betont, "in erster Linie für Menschen geschrieben, die auf irgendeine Weise über die Geschichte des Christentums in Europa informiert, aber neugierig darauf sind, wie die Verwandlung des europäischen Christentums [in Amerika] in eine Vielfalt von Formen und Ausdrücken, die keine direkte Entsprechung in Europa haben, vonstatten ging" (5 f.).
Bei Nolls Geschichte des Christentums in Nordamerika, die zunächst in deutscher Übersetzung und inzwischen, 2002, auch in leicht revidierter Fassung auf Englisch im Druck erschienen ist, handelt es sich um ein wissenschaftliches Werk von außerordentlicher Qualität, das aber zugleich auch für einen weiteren Leserkreis geeignet ist.
1. Noll kennt zwar die großen Verdienste des Protestantismus in Nordamerika, ist in seinen Ausführungen aber weit von einem protestantischen Triumphalismus entfernt.
2. Er räumt der Geschichte der verschiedenen christlichen Richtungen gebührenden Raum ein, dem Katholizismus ebenso wie den orthodoxen Kirchen.
3. Noll schildert ausführlich das religiöse Leben in den Kirchen der Afroamerikaner; er würdigt die eher ambivalente Bedeutung des Christentums für die amerikanischen Ureinwohner, die Indianer; außerdem erörtert er auf außerordentlich kundige Weise die Geschichte der jüdischen Gemeinden in Nordamerika.
4. Er vergisst auch nicht den speziellen Beitrag der französischen, der spanischen und der niederländischen Kirchen zur Geschichte des Christentums in Nordamerika. Sein Band enthält somit wichtige Kapitel zur Kirchengeschichte Kanadas und Mexikos.
5. Noll behandelt ausführlich und differenziert die großen Themen der amerikanischen Kirchengeschichte: also die komplexen Probleme der bereits im ausgehenden 18. Jh. verfügten Trennung von Kirche und Staat; die großen "Wellen" von Erweckungen, also von "Awakening" und "Revival", die vom frühen 17. bis zum späten 20. Jh. zu beobachten sind; die höchst unterschiedliche Entwicklung des Christentums in den großen Regionen; die Rolle der Einwanderer und ihrer kirchlichen Traditionen, speziell die nachhaltigen Wirkungen sowohl des Katholizismus wie des deutschen und des skandinavischen Luthertums, schließlich die Ursachen und Folgen der Zersplitterung des Protestantismus in eine Vielzahl von konkurrierenden Gruppierungen.
6. Sorgfältig bemüht sich Noll darum, die für die Geschichte des Christentums in Nordamerika charakteristischen Züge und Entwicklungen zu kennzeichnen, wobei er von Epoche zu Epoche die Größenordnungen von Kirchen und religiösen Bewegungen durch Zahlenangaben verdeutlicht und seine allgemeinen Aussagen durch Beispiele zu veranschaulichen versucht.
7. Nach einem chronologischen Abriss diskutiert Noll die Unterschiede zwischen der Geschichte des Christentums in Nordamerika und Europa. Er geht auf die Theologie ein, wobei er theologische Einflüsse aus Europa in Nordamerika ebenso erörtert wie Einflüsse aus Nordamerika in Europa; er beschreibt die signifikanten Spannungen zwischen Wissenschaft und Theologie und in diesem Zusammenhang die in Nordamerika besonders einflussreichen Formen einer populären erwecklichen und zum Teil fundamentalistischen Theologie; er geht ein auf die christliche Alltagsfrömmigkeit, speziell auf die Rolle der Magie, der Hymnen, der Bekehrung und des Umgangs mit der Bibel.
Was vor uns liegt, ist somit ein modernes, kritisches, reflektiertes Werk von hoher Qualität, ein Werk über eine höchst komplexe und komplizierte Thematik freilich, dessen Übertragung vom englischen Original ins Deutsche besondere Anforderungen stellte. Diese Anforderungen haben den vom Verlag engagierten Übersetzer, wie zu konstatieren ist, offensichtlich völlig überfordert. Der von ihm produzierte deutsche Text steckt voll von schiefen Bildern. Die Übersetzung ist sprachlich gestelzt und in der für das Thema wichtigen Terminologie ungenau. Manche Sätze haben im Deutschen überhaupt keinen Sinn. Bei anderen ahnt man nur, was Noll gemeint haben könnte, wenn man vorher schon etwas von der Sache versteht. Viele Sätze sind einfach schlechtes Deutsch. Einige wenige Beispiele müssen hier genügen.
An einer Stelle (S. 69 der deutschen Ausgabe) werden wir darüber informiert, dass für die Deutschamerikaner nach der Amerikanischen Revolution "die eher privaten Praktiken der Württemberger" wichtiger wurden als in der Zeit vorher. Was ist damit gemeint? Gemeint sind die im Pietistenedikt von 1743 in Württemberg konzedierten pietistischen Privaterbauungsstunden; gemeint sind also religiöse Versammlungen in kleinen Gruppen zusätzlich zu den offiziellen sonntäglichen Gottesdiensten.
An einer anderen Stelle (70) erfahren wir, die Kolonien Spaniens in Mexiko und dem amerikanischen Südwesten hätten "eine kaiserliche Aufbürdung eines relativ monolithischen Katholizismus auf eingeborene amerikanische Bevölkerungsgruppen" erlebt. Was will der Übersetzer damit sagen? Aus der englischen Ausgabe (35) erfahren wir, dass es um eine imperiale, das heißt um eine von der kolonialen Obrigkeit nachhaltig unterstützte katholische Durchdringung dieser Gebiete ging.
Überprüfen wir in der englischen Ausgabe, was die Formulierung "der ehrwürdige Martin Luther King Jr." bedeutet, die in der deutschen Ausgabe S. 167 zu finden ist, so steht dort (169) "the Rev. Martin Luther King Jr.", also der Geistliche, der Pastor, der Pfarrer Martin Luther King Jr. Nicht dass es falsch wäre, Martin Luther King Jr. als ehrwürdige Gestalt zu bezeichnen. Nur hatte Noll das nicht geschrieben, sondern Kings Beruf erwähnt.
"Keith Thomas' Magisterarbeit Religion and the Decline of Magic", so im deutschen Text S. 232, ist, wie wir in der englischen Ausgabe S. 254 lesen können, dessen "magisterial study", also dessen Meisterleistung oder meisterhafte Leistung!
Noch ein Beispiel aus der Zeittafel, und zwar das Stichwort zum Jahr 1880: "Die Heilsarmee eröffnet ihre Arbeit in den Vereinigten Staaten (zwei Jahre später in Kanada)", schreibt da der Übersetzer, "und sponsert bald die wirksamste protestantische Bemühung um die hervorsprießenden Großstädte des Kontinents" (264).
Solche Stellen sind es, die ich meine, wenn ich betone, dass der Übersetzer seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Offensichtliche Unkenntnis der zu übersetzenden Materie hat sich bei ihm auf fatale Weise mit sprachlichem Unvermögen verbunden. Die Beispiele ließen sich unschwer mehren. Es ist dem Übersetzer nicht gelungen, Mark Nolls in der Sache präzisen, sprachlich spielerisch leichten Stil angemessen ins Deutsche zu übertragen.
Damit die deutschen Leser, die sich für die amerikanische Kirchengeschichte interessieren, über dieses Thema so klar und gründlich informiert werden, wie dies Mark Noll in seinem englischen Text macht, hat der Verlag entschieden, umgehend eine gründliche Überarbeitung der Übersetzung zu veranlassen und eine neue deutsche Ausgabe dieses wichtigen Bandes vorzubereiten.