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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

831 f

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Görisch, Christoph

Titel/Untertitel:

Kirchenasyl und staatliches Recht.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2000. 291 S. gr.8 = Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft, 129. Kart. ¬ 72,00. ISBN 3-428-09897-8.

Rezensent:

Hans-Richard Reuter

Die Kirchenasylpraxis, d. h. die durch Kirchengemeinden gewährte Zuflucht für von Ausweisung bedrohte Flüchtlinge, die in ihrem Heimatland menschenrechtswidrig verfolgt werden, birgt nachhaltiges Konfliktpotential im Kirche-Staat-Verhältnis. Sie hat in der Bundesrepublik im Zuge der Einschränkung des staatlichen Asylgrundrechts Verbreitung erfahren und wurde von Anfang an von zum Teil massiver politischer Kritik begleitet. Die staatlichen Behörden reagieren uneinheitlich, im letzten Jahr nahmen die Fälle zu, in denen die Polizei in Gemeindehäuser eindrang, vereinzelt wurden Pfarrer als Schlepper angeklagt. Auch innerhalb der EKD gibt es tendenziell unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob und inwieweit der Beistand für Bedrängte über die individuelle Christenpflicht hinaus Sache der verfassten Kirche und ihrer Organe sein sollte.

Nach einer breiteren in den Fachwissenschaften geführten theologischen, ethischen, juristischen und kirchenrechtlichen Debatte liegt nun mit der Münsteraner rechtswissenschaftlichen Dissertation von Chr. Görisch eine erste umfassende Monographie vor, die die Kirchenasylproblematik aus der Perspektive des staatlichen Rechts behandelt. Angesichts gegenläufiger Pauschalurteile und populistischer Parolen mag die dezidierte Leitfrage der Untersuchung überraschen: Sie lautet, ob es Grundlagen für ein Kirchenasylrecht im staatlichen Recht gibt, und wird im 1. Teil der Arbeit auf der einfachrechtlichen, im 2. Teil auf der verfassungsrechtlichen Ebene überprüft.

Der 1. Teil kommt zwar zu der Erkenntnis, dass es kein einfachrechtliches Kirchenasylrecht gibt, das einer staatlichen Beendigung oder einer strafrechtlichen Sanktionierung des Kirchenasyls entgegensteht, weist aber auf die Notwendigkeit der Einzelfallprüfung hin: Während verwaltungsrechtliche und strafprozessuale Ergreifungsmaßnahmen gegen Kirchenasylflüchtlinge ebenso wie Beendigungsmaßnahmen gegen Kirchenasylgewährer in weitem Umfang möglich seien, könnten einer strafrechtlichen Sanktionierung des Kirchenasylgewährers Gesichtspunkte der Sozialadäquanz (etwa im Fall einfacher Beherbergung des Flüchtlings) und Schuldausschließungsgründe (Verbotsirrtum, entschuldigender Notstand) entgegenstehen. Zeichnet sich schon dieser 1. Teil durch die umsichtige Berücksichtigung aller einschlägigen Normen des Ausländer-, Polizei- und Straf(verfahrens)rechts aus, so ist doch der Hauptertrag der Arbeit im 2. Teil zu finden.

Die Prüfung der höherrangigen, verfassungsrechtlichen Grundlagen für ein Kirchenasylrecht erfolgt anhand von fünf grundrechtlichen oder grundrechtsähnlichen Garantien: des staatlichen Asylrechts nach Art. 16a GG, der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG), des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Art. 137 III WRV i.V.m. Art. 140 GG) sowie der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG). Im Blick auf Art. 16a stellt der Vf. fest, dass das Kirchenasyl zwar nicht unmittelbar durch die staatliche Asylgewährung mit umfasst wird, jedoch mittelbare Wirkung im Sinn eines rechtlich gerechtfertigten subsidiären Menschenrechtsschutzes entfalten kann, allerdings nur in krassen (und unter rechtsstaatlichen Bedingungen sehr seltenen) Fällen der Vorenthaltung staatlicher Rechtskontrolle. Auch die grundrechtlich geschützte Unverletzlichkeit der Wohnung gebe nur insofern einen (schwachen) Rechtstitel ab, als Eingriffe in deren Schutzbereich unter einem prinzipiellen Richtervorbehalt stehen. Kern der verfassungsrechtlichen Ausführungen ist indessen das Kapitel zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht, also der Befugnis der Religionsgemeinschaften, "ihre eigenen Angelegenheiten selbstständig innerhalb des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen und zu verwalten". Gemäß kirchlichem Selbstverständnis und historischer Tradition wird zunächst in überzeugender Weise der Schutzauftrag zu Gunsten Verfolgter dem Schutzbereich des Selbstbestimmungsrechts zugerechnet. Auf der Schrankenebene ergebe die Abwägung zwischen Kirchenfreiheit und den schrankengesetzlich geschützten Rechtsgütern des Staatswohls und des Wohls der eigenen Bevölkerung kein absolutes Vorrangverhältnis, zur Lösung bedürfe es darum der Herstellung praktischer Konkordanz zwischen Kirchenfreiheit und Schrankenzweck. Der Vf. sieht von daher die Grundlage für ein verfassungsrechtliches (die einfachrechtlichen Eingriffsmöglichkeiten des Staates einschränkendes) Kirchenasyl gegeben, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: Motivation durch den Gedanken des karitativen Beistands, der intercessio (also nicht durch die Heiligkeit des Kirchenraums oder den Zweck politischer Demonstration und Einwirkung), ultima ratio zur Abwendung einer Gefahr für Leib und Leben des Flüchtlings, Öffentlichkeit der Kirchenasylgewährung, Bereitschaft des Kirchenasylgewährers zur Versorgungsübernahme, Beschränkung auf den räumlichen Verfügungsbereich der Kirchen, keine Schaffung von Einwanderungsanreizen. Weitgehend Entsprechendes ergebe sich für kirchenasylgewährende Einzelpersonen aus der Glaubens- und Gewissensfreiheit, allerdings ergänzt um erhöhte Darlegungspflichten.

Die subtile rechtsdogmatische Grundsatzerörterungen einschließende Arbeit zeichnet sich durch eine umfassende Berücksichtigung nicht nur der juristischen, sondern auch der theologisch-ethischen Literatur sowie kirchenamtlicher Stellungnahmen aus. Auch wenn ihre Ergebnisse im etatistischen Lager der verfassungsrechtlichen "Zunft" kaum ungeteilte Zustimmung finden werden: Sie setzt der weiteren Diskussion Maßstäbe, die nicht mehr unterboten werden sollten. An diesem Buch kann niemand vorbeigehen, der in Wissenschaft, Rechtsprechung oder administrativer Praxis mit der Kirchenasylproblematik befasst ist.