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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

827 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Grethlein, Christian

Titel/Untertitel:

Grundfragen der Liturgik. Ein Studienbuch zur zeitgemäßen Gottesdienstgestaltung.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2001. 334 S. 8. Kart. ¬ 24,95. ISBN 3-579-05326-4.

Rezensent:

Friedrich Lurz

Zwölf Jahre nach seinem "Abriß der Liturgik" legt Christian Grethlein ein neues Studienbuch vor, für das eine veränderte Situation den Impuls gibt, die er durch die zwischenzeitliche liturgische Forschung (13-16) und eine veränderte Zeitsignatur (16-18) gekennzeichnet sieht. Das Buch möchte auf überschaubarem Raum Theologinnen und Theologen (unter bewusster Einbeziehung von Religionslehrerinnen und -lehrern) sowie Studierenden die Grundlagen vermitteln, die eine begründete Entscheidung in aktuellen gottesdienstlichen Gestaltungsaufgaben ermöglichen. Das dazu anzuwendende breite Methodenspektrum spiegelt sich im Aufbau des Buches und seiner Gliederung in drei Teile wider.

Ein erster Teil "Die heutige liturgische Situation in neutestamentlicher Perspektive - empirische und neutestamentliche Grundlagen liturgischer Urteilsbildung" (21-75) wirft zunächst einen Blick auf die aktuelle Situation evangelischen Gottesdienstes und bemängelt, dass das negative öffentliche Meinungsbild zu sehr vom schlecht besuchten Sonntagsgottesdienst der Gemeinde ausgeht, während die positiven Entwicklungen wie die wachsende Bedeutung von Gottesdiensten an Festen, an Übergängen des Lebens und im Fernsehen sowie die Produktion ritueller Handlungen und häuslicher Rituale nicht gewürdigt werden. Die durch die aktuelle Situation aufgeworfenen Fragen nach neuen Zeitrhythmen, nach Individualisierung und Ästhetisierung des Lebens werden zu wenig beachtet. Zu sehr werde von den den Gottesdienst bestimmenden Milieus her gedacht, der Gottesdienst als Gegenkultur verstanden und so die notwendige Kontextualisierung bzw. Inkulturation behindert. In einem zweiten Schritt wird die Analyse mit neutestamentlichen Perspektiven konfrontiert, unter denen G. die Pluriformität gottesdienstlichen Handelns, den kultkritischen Ansatz und das Fehlen einer Feststruktur sowie fester Gottesdienstorte hervorhebt. Gottesdienstliche Konsequenzen aus dem Christusereignis sind vor allem das Verständnis von Gemeinschaft über die soziale Dimension hinaus als Teilhabe an Jesus Christus, die Verortung der Taufe gegenüber dem Abendmahl in einer stärker individualgeschichtlichen statt allein heilsgeschichtlichen Anamnese und die Forderung nach Verständlichkeit der Liturgie sogar für Außenstehende. Die vielleicht bedeutendste Folgerung in Bezug auf die aktuelle Situation: Alle nachfolgenden Feiern an Übergängen des Lebens (Kasualien) erhalten ihr theologisches Profil allein als feierliche Tauferinnerung.

Der zweite Teil "Liturgie in geschichtlicher und anthropologischer Perspektive" (77-179) konzentriert sich zunächst auf die konfessionsspezifische Perspektive, die sich auf Grund der konfessionellen Durchmischung der Bevölkerung und des Dialogs auf wissenschaftlicher Ebene zugleich als ökumenische erweist, ohne dass G. direkt eine "ökumenische Liturgiewissenschaft" fordert: "So erscheint es - innerhalb des ökumenischen Fachgesprächs - sinnvoll, wenn evangelische Liturgiker vorrangig die praktisch-theologische Perspektive, also vor allem die mit der Kontextualität von Gottesdienst in der Gegenwart zusammenhängenden Fragen, bedenken." (83) Zunächst steht Luthers Gottesdienstverständnis im Vordergrund, ohne die Umsetzung der von ihm gewonnenen Einsichten unkritisch zu sehen: "Allerdings gelang es in den evangelischen Kirchen weithin nicht, diese theologischen Impulse in überzeugende Gestaltungsformen umzusetzen." (80) G. macht die Probleme an Predigtgottesdienst, Abendmahl, Taufe und am Alltagsbezug des evangelischen Gottesdienstes deutlich. Daneben wirft er einen Blick auf das Gottesdienstverständnis in der römisch-katholischen Kirche nach dem II. Vatikanum (bei dem er eine starke Annäherung an reformatorische Positionen feststellt) sowie den orthodoxen Kirchen und benennt deren mögliche Impulse für den evangelischen Gottesdienst wie deren Probleme. Anschließend betrachtet er unter anthropologisch-kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten die wichtigen Kategorien "Zeit", "Raum" sowie "sinnliche Wahrnehmungen und Ausdrucksmöglichkeiten" in der christlichen Liturgie. Er bietet nicht nur jeweils einen knappen liturgiegeschichtlichen Durchgang, der die enge Verknüpfung des Gottesdienstes mit dem jeweiligen kulturellen Kontext deutlich macht, sondern zeigt auch in prägnanter Weise bei jeder Kategorie heutige Probleme und Lösungsversuche auf.

Erst ein dritter Teil "Evangelische Gottesdienste in Deutschland - Bestand und Innovationen" (181-325) widmet sich einzelnen Gottesdienstformen, indem jeweils (knapp aber solide) liturgiegeschichtliche Grundkenntnisse vermittelt, die heutige Situation charakterisiert, die aktuellen agendarischen Formulare vorgestellt und Innovationsmöglichkeiten bzw. liturgiedidaktische Anstöße entwickelt werden. Dabei erhält die Taufe als grundlegendes Sakrament einen wesentlich höheren Stellenwert, als die aktuelle liturgische Praxis ihr einräumt, während die Konfirmation nur gestreift wird. Der zuvor entwickelte Bezug aller Feiern an Lebenswenden zur Taufe wird exemplarisch anhand der Trauung herausgestellt. Im Kirchenjahr widmet sich G. den stark frequentierten Gottesdiensten an Ostern und Weihnachten, während beim Sonntagsgottesdienst das Abendmahl nur eine unter verschiedenen praktizierten Feierformen darstellt. In einem letzten Kapitel "Gottesdienst zwischen Kirche und Leben des Einzelnen" werden die Dimensionen des Gebets und des Segens miteinander in Verbindung gebracht und diese Verbindung an der im evangelischen Raum mittlerweile häufiger praktizierten Krankensegnung deutlich gemacht. Ein Personen- und ein Sachregister schließen den Band ab.

Das Studienbuch wird seinem Titel gerecht, indem es wirkliche Grundfragen der Liturgik behandelt und "Studierende" zur weiteren Reflexion anregt. Schwerpunkte und Durchführung zielen primär auf evangelische Leserinnen und Leser (für einen katholischen Leser fällt die Behandlung des Abendmahls sehr knapp aus), aber die Durchdringung der Bereiche geschieht nicht nur durchweg in ökumenischer Perspektive, sondern auch unter Bezugnahme auf die ganze Breite der liturgiewissenschaftlichen Literatur beider Konfessionen - ohne sich in Marginalien zu verlieren. Beispielhaft ist die Anwendung eines weiten Methodenspektrums, das zwar wie beabsichtigt den Schwerpunkt auf praktisch-theologische Fragestellungen legt, zugleich die historischen und systematischen Aspekte wenigstens mit bedenkt und Hinweise für ein vertieftes Studium gibt. Prägnant bezieht der Autor soziologische Erkenntnisse in die Fragestellungen mit ein und leistet gerade so den angestrebten Beitrag für ein ökumenisches Fachgespräch, ohne inhaltlich einerseits der Versuchung zu erliegen, christlichen Gottesdienst als konsequente Gegenkultur verstehen und feiern zu wollen, und ohne andererseits für eine unreflektierte Anpassung an gesellschaftliche Milieus und Trends zu plädieren. Damit sind die für die aktuelle liturgiewissenschaftliche Diskussion grundlegenden Spannungen zwischen theologischem Kern und kontextgebundener Gestalt des Gottesdienstes sowie zwischen kirchlicher Gemeinschaft und gläubigem Individuum eingeholt, die quer durch die Konfessionen als Grundprobleme jeder theologischen Bewertung gottesdienstlicher Feiern gelten können.