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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

697–700

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gilles, Beate

Titel/Untertitel:

Durch das Auge der Kamera. Eine liturgie-theologische Untersuchung zur Übertragung von Gottesdiensten im Fernsehen.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2000. 362 S. m. zahlr. Abb. u. Tab. gr.8 = Ästhetik - Theologie - Liturgik, 16. ¬ 25,90. ISBN 3-8258-5150-8.

Rezensent:

Lutz Friedrichs

Das Titelbild des Buches zeigt - durch das Auge der Kamera - eine gottesdienstliche Szene. Der Priester in der Totale, umgeben von einem Kreis von Menschen, offensichtlich zur Eucharistie versammelt. Das Bild ist nicht gestochen scharf, ein Hinweis auch auf zahlreiche offene Fragen zum Thema Übertragung von Gottesdiensten.

Die Untersuchung der katholischen Theologin Beate Gilles - ihre von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn im Jahr 2000 angenommene Dissertation - zeichnet sich dadurch aus, dass sie zumindest eine Frage hinter sich lässt, nämlich die den Diskurs bisher bestimmende und auch einengende nach der Legitimität von Gottesdienstübertragungen. Da solche Übertragungen nahezu selbstverständliche Praxis (geworden) sind, konzentriert sie sich auf den Untersuchungsgegenstand und seine medialen und liturgischen Funktionsmechanismen selbst.

Damit läutet G. eine neue Phase ein. Gottesdienstübertragungen im Fernsehen werden als ernstzunehmendes, interdisziplinär zu beackerndes Forschungsfeld begriffen, mit entsprechenden Fragen an die vorfindliche Übertragungspraxis: Was für ein Konzept liegt vor? Wer ist das Zielpublikum? Wie wird das Konzept umgesetzt? Was wird erreicht, was nicht? Solche Fragen markieren einen handlungswissenschaftlichen Zugang, der Praxis mit dem Interesse zu verstehen versucht, auch zu neuer, veränderter, verbesserter Praxis voranzuschreiten. Dieser Herangehensweise entsprechend ist das Herzstück der Arbeit eine empirische Untersuchung von 52 Gottesdienstübertragungen aus dem Zeitraum 1997-1998.

Deren wesentliches Ergebnis ist: Gottesdienstübertragungen haben eine "relationale Eigenständigkeit" im Verhältnis zum Gottesdienst der Übertragungsgemeinde: "Die Eigenständigkeit der Gottesdienstform Fernsehübertragung erweist sich in zwei Bereichen. Zum einen ist die Feierform Gottesdienstübertragung das von den Zuschauern am Bildschirm rezipierbare Geschehen. Auf dieser Ebene sind vor allem Elemente zu beachten, die ausschließlich Teil der Übertragung sind (z. B. der Rahmen). Zum anderen ist jedoch auch der von der Übertragungsgemeinde gefeierte Gottesdienst als besondere Feierform in den Blick zu nehmen, denn auch die konkrete liturgische Feier verändert sich (z. B. Zeitstruktur, Rollengestaltung)." (339) Diesem Ergebnis nähert sich G. schrittweise und nachvollziehbar zunächst historisch und systematisch (Kapitel 1-5), dann empirisch (Kapitel 6-7).

Kapitel 1 steckt den Fragehorizont ab und nennt ausdrücklich das Ziel der Untersuchung: "Ziel der Analyse ist es, die Bedingungen medialer Kommunikation sowie das Gestaltungspotential und die Gestaltungsaufgaben der Übertragungen sowohl auf der liturgischen als auch auf der medialen Ebene zu bestimmen." (15) Dieses Ziel, das empirisch angegangen werden soll, wird "über den nicht ganz mühelosen Weg" (15) der geschichtlichen (Kapitel 3) und konzeptionellen (Kapitel 4) Rahmenbedingungen angebahnt. Zuvor wird das "Verhältnis von Kirche und Medien" eher allgemein dargestellt. In kritischer Analyse kirchlicher Verlautbarungen zum Thema stellt G. zunächst ein deutlich erkennbares medientheoretisches Reflexionsdefizit fest: "In der Kirche basiert [noch immer] die Interpretation der Massenmedien in weiten Teilen auf dem Modell der Beeinflussung der Menschen durch die Medien." (38) Demgegenüber heben neuere medientheoretische Ansätze besonders die Komplexität des Rezeptionsprozesses und die Eigenständigkeit der Rezipientinnen und Rezipienten hervor. Solche Ansätze können auch einsichtig machen, dass Gottesdienstübertragungen "eher Menschen erreichen, die der Kirche nahe stehen." (41) Sodann werden die Übertragungskonzepte der Sender ZDF und ARD (und der Niederlande) dargestellt und typisiert: nach G. repräsentiert die ARD einen "missionarischen", auf ein weiteres Publikum ausgerichteten, das ZDF hingegen einen partizipativen, ein fest umrissenes Publikum ansprechenden Sendetyp, die Übertragungen im ZDF seien "Zielgruppenprogramm für Alte und Kranke" (84). Eine wesentliche Grundentscheidung der Arbeit fällt an diesem Punkt: G. schränkt ihr Untersuchungsinteresse auf Übertragungen katholischer Gottesdienste im ZDF ein, nicht ohne einen kritischen Seitenhieb gegen das ARD-Konzept mit seinen Suchbewegungen nach innovativen gottesdienstlichen Sendungen: "Es geht für die Zuschauer nicht um einen religiösen Impuls für ihr Leben, sondern um die Partizipation am gemeindlich-gottesdienstlichen Geschehen." (87)

In Kapitel 5 wird dieser Aspekt hinsichtlich der Zielgruppenfrage vertieft. Auf der Basis insbesondere der Daten empirischer Zuschauerforschung differenziert sich das Forschungsfeld. Einerseits wird deutlich, dass Annahmen zur Frage der Zielgruppe bestätigt werden. Der typische Zuschauer von Fernsehgottesdiensten - sie werden im Schnitt von etwa 700.000 Menschen gesehen - ist eine Zuschauerin, kirchennah, katholisch, älter, "mit niedriger Schulbildung." (175) Auf der anderen Seite ist auffallend, dass etwa ein Drittel nicht in diese Kategorie fällt: "Insgesamt kann konstatiert werden, dass es neben den Zuschauern, die durch die Übertragung des Gottesdienstes im Fernsehen ihre Gottesdienstpraxis fortsetzen, auch Zuschauer gibt, die trotz fehlender Kirchenbindung die Gottesdienste anschauen." (177) Damit ist, wie mit der Feststellung, dass die Gemeinde am Fernseher "ökumenisch" ist, eine nicht unwesentliche Herausforderung markiert, weil diesem Zuschauerprofil konzeptionell bisher nicht entsprochen wird.

Mit Kapitel 6 vollzieht sich ein methodischer Perspektivenwechsel, "da nun die Gottesdienstübertragungen selbst zur Quelle werden." (177) G. bleibt in ihren Ansprüchen bescheiden, sie begreift, nicht zu Unrecht, ihre Untersuchung als "explorative Feldstudie" (194), ihrem Untersuchungsgegenstand stellt sie sich in "fünf Annäherungen" (194), die in Kapitel 7 nacheinander entfaltet werden: 1. Gottesdienstübertragung als Reihe (Spannung zwischen Kirchenjahr und besonderen Anlässen), 2. Zielgruppe der Übertragungen (Analyse der Eröffnungssequenz in ihrer Signalwirkung), 3. Mediale Gestaltung der Gottesdienstübertragung, 4. Liturgische Besonderheiten der Gottesdienstübertragung (hohe Laienbeteiligung) und 5. Exemplarische Einzelanalyse von vier Gottesdiensten. Dieser fünfte Schritt wird in Kapitel 6 methodisch vorbereitet, für die anderen Annäherungen bleibt es bei einem knappen Hinweis auf "qualitative und quantitative Verfahren" (194) der Sozialwissenschaft. Die Methodik ist nicht ausgefeilt, Fragen bleiben, wie etwa die, warum nun doch auch ein ARD-Gottesdienst untersucht wird.

Im Abschreiten dieser empirischen Annäherungen verdichtet sich, was G. im 8. Kapitel nochmals zusammenfasst, die These einer "relationalen", medientheoretisch präzisierbaren "Eigenständigkeit" der Gottesdienstübertragung, die im Zusammenspiel mit liturgietheologischen Überlegungen drei weiterführende Perspektiven eröffnet: 1. Lässt diese Sicht zu, Kriterien einer dem Medium Fernsehen entsprechenden Übertragungspraxis zu bestimmen (etwa in Form einer Bestimmung der Theologie der Kamera), 2. provoziert diese Sicht kritische Rückkopplungen auf den "normalen" Gottesdienst (etwa in Form der Sensibilisierung für inszenierende Aspekte) und 3. kommt es mit dieser Sicht zu einer entlastend-konstruktiven Würdigung des Übertragungsgottesdienstes im Sinn einer Feier "für und mit den Rezipienten am Bildschirm" (339)?

Die Kamera hat eine Theologie, die es kritisch wahrzunehmen gilt. Die These von G. ist einleuchtend, weil naheliegend. Der Gottesdienst, der übertragen wird, wird nicht einfach reproduziert, sondern auch produziert: "Regie, Kamera und Schnitt bestimmen den Gottesdienst ganz wesentlich mit." (191) Das muss, auch in seinen Gestaltungsspielräumen, nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie sehr viel deutlicher reklamiert werden als das bisher der Fall war. Das aber gilt auch für die Einsicht in die empirische Differenzierung des Zielpublikums. Hier deutet G. nur an, die "Fernstehenden" bleiben am Rand. An diesem Punkt wäre es wichtig, konzeptionell weiterzudenken - nicht zuletzt in einer Zeit, die G. - freilich um für ihr Konzept zu werben - am Schluss ihres anregenden Buches so aufziehen lässt: "In einer Zeit, wo Religion Hochkonjunktur hat, gleichzeitig sich aber auch Religiosität oft in einem eher wahllosen Aufgreifen von Segmenten [...] ausdrückt, kann der Gottesdienst [...] einen besonderen Stellenwert einnehmen, weil er einen Zugang zur spezifisch kirchlichen Feierform ohne Schwellenangst bietet." (343)