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Ausgabe:

Mai/2002

Spalte:

538 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Saard, Riho

Titel/Untertitel:

Eesti rahvusest luterliku pastorkonna väljakujuneemine ja vaba rahvakiriku projekti loomine, 1870- 1917. Zusammenfassung: Die Herausbildung der lutherischen Pfarrerschaft estnischer Nationalität und die Gründung des Projekts der freien Volkskirche in den Jahren 1870 bis 1917.

Verlag:

Helsinki: Suomen kirkkohistoriallinen Seura. Societa Historiae Ecclesiasticae Fennica 2000. 374 S. m. Abb. 8 = Finska Kirkohistoriska Samfundets Handlingar, 184. ISBN 952-5031-18-7.

Rezensent:

Nicholas Hope

Der Este Riho Saard und der Finne Mikko Ketola, dessen Buch "The Nationality Question in the Estonian Evangelical Lutheran Church, 1918-1939" als Band 183 der Reihe ebenfalls im Jahre 2000 veröffentlicht wurde, sind neue junge Talente - sowohl in Tartu wie in Helsinki -, die sich hauptsächlich mit der estnischen kirchlichen Zeitgeschichte befassen.

Vorweg sei gesagt: Es ist zu hoffen, dass die vornehmlich regionale Ausrichtung der Autoren die vergleichende und internationale Dimension in Zukunft nicht außer Acht lassen wird. Beide behandeln die skandinavische bzw. nordische, deutsche und westeuropäische kirchenhistorische Entwicklung in dieser gesamten Periode von 1870 bis 1940 als fest vorgegebene Größe. Dennoch bieten sie eine Fülle neuer Erkenntnisse, geschöpft aus ungedruckten Quellen in den kirchlichen Akten der Archive von Tallinn und Tartu sowie den zeitgenössischen estnischen Periodika und der Tagespresse (Fotos von den estnischen Kirchenmännern und Pressekarikaturen bereichern beide Bände).

S. gliedert seinen Band in zwei Teile. Der erste Teil stellt die Esten dar, die zwischen 1875 und 1916 an der Universität Dorpat ein Theologiestudium aufnahmen, und beschreibt, wie viele von ihnen später in den zur russischen evangelisch-lutherischen Kirche gehörenden Konsistorialbezirken Estland, Livland, Ösel, St. Petersburg und Moskau als Pfarrer ordiniert wurden.

Sieben Tabellen und vier Anlagen machen die Angaben recht anschaulich für den nicht mit dem Estnischen vertrauten Leser. In den Jahren 1875-1916 wurden insgesamt 218 Esten in Dorpat immatrikuliert, von denen 128 das Examen ablegten und 93 zum Pfarrer ordiniert wurden. Ende Mai 1917, als der erste estnische Kirchenkongress in Tartu tagte, waren 69 Esten noch im Amt (Livland hatte etwa 180 Pfarrgeistliche, Estland 69). In Landeskirchen wo die einheimische deutsche Ritterschaft das Ius Patronatus bis 1918 innehatte, blieb der estnische seelsorgerische Anteil daher recht bescheiden, ebenso wie in livländischen und estnischen Pfarrgemeinden, welche schon 1862 ein Verhältnis 1:5000 u. m. aufzeigten (Tab. 2). S. zeichnet aber eine sehr nuanciertes Bild. Vor 1905 - auch ein Datum für eine national geprägte kirchenpolitische Weichenstellung in Livland und Estland - war es keineswegs so, dass Esten konsequent immer nur nach Pfarrern estnischer Herkunft fragten. Das Verhältnis zu Geistlichen aus dem eigenen Volk war mitunter so schlecht, dass bei Tod oder Gemeindewechsel eines estnischen Pfarrers ein deutscher Pfarrer als Nachfolger gewählt wurde. Auch war das Verhältnis zwischen den estnischen Pfarrkandidaten und den deutschen Patronen und Gemeindegliedern keineswegs immer gespannt. Viele Esten wurden mit den Stimmen der deutschen Gemeindeglieder zum Pfarrer gewählt. Andererseits machte das Ius Patronatus bis zu den großen staatlichen Landreformen zwischen ca. 1918 und 1922 eine estnisch-deutsche Integration auf Gemeindeebene unmöglich.

Der zweite Teil des Buches zeigt, mit welchem Einsatz Esten auf kirchliche Reformen hinarbeiteten, besonders auf die Realisierung ihrer Vision von einer so genannten freien Volkskirche. Ihre ersten programmatischen Entwürfe auf dem Kirchenkongress vom 31.5. bis 1.6.1917 in Tartu werden recht ausführlich in Kap. 8 dargestellt. Erst nach der Revolution von 1905 und der Zuspitzung des politischen Kampfes begannen Esten in verschiedenen Teilen des Landes ausschließlich Landsleute als Pfarrer einzustellen.

Doch die geringe Anzahl estnischer Theologen an der immer noch deutsch-geprägten Universität Dorpat setzte ihren Forderungen Grenzen. Die wissenschaftlich-theologischen Leistungen der estnischen Pfarrer waren auch sehr bescheiden. Sie wirkten daher mehr als seelsorgerische Aufklärer, weckten das Interesse für die Geschichte Estlands, forderten das Antialkoholikertum, und traten als Sammler traditioneller Volkskunst und Sponsoren von Volksfesten auf.

Andererseits blieb die Vision einer freien Volkskirche im skandinavischen Sinne (wie z. B. in Dänemark seit Juni 1849) unrealisierbar. S. bestätigt daher die traditionelle Vorstellung von einer sehr schroffen nationalen und sozialen Konfrontation zwischen Esten und Deutschen. Die lutherische Kirche verstand es nicht, zu einem solchen Hort der Integration zweier Völker zu werden, wie sie ihrem Wesen nach hätte sein können. Auch auf der Ebene der Pfarrerschaft trat eine vollständige Integration nicht ein, obgleich sich ein Teil der Pfarrer estnischer Abstammung germanisieren ließ (364). Diese Kirche blieb während dieser Periode, wie Grenzstein es schon 1899 ausdrückte, eine Herrenkirche. Eine Entwicklung zur freien estnischen Volkskirche blieb aber auch nach 1918, wie Ketola zeigt, sehr begrenzt, bis die letzten deutschen Gemeindeglieder 1939 heim ins Reich gingen.

S.s Arbeit ist eine beachtliche Leistung - leider aber in der schwierigen estnischen Sprache. Der Rez. plädiert daher für die Wiedereinführung des Lateins als gemeinverständlicher Sprache - ob Microsoft das heutzutage zulässt?