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Ausgabe:

Mai/2002

Spalte:

514–517

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bechard, Dean Philip

Titel/Untertitel:

Paul outside the Walls. A Study of Luke's socio-geographical Universalism in Acts 14:8-20.

Verlag:

Rom: Editrice Pontificio Istituto Biblico 2000. 541 S. m. Abb. gr.8 = Analecta Biblica, 143. Kart. ISBN 88-7653-143-2.

Rezensent:

Wolfgang Reinbold

Dass Lukas auf Geographie Wert legt, ist seit langem bekannt. Das Evangelium rückt Jerusalem ins Zentrum, die Apostelgeschichte erzählt den Weg von Jerusalem nach Rom. Lukas informiert den Leser über die Reiserouten des Paulus, bemüht sich um Lokalkolorit, interessiert sich dafür, wer wo wohnt und welche Sprache gesprochen wird. Der Ort, an dem etwas geschieht, ist nicht gleichgültig. Die Areopagrede hält Paulus in Athen, und er kann sie nur hier halten, denn Athen steht Apg 17 stellvertretend für das geistige und kulturelle Erbe der klassischen Antike. Auch in Lystra hält Paulus eine Rede, die erste vor ausschließlich paganem Publikum (Apg 14,14-17). Doch warum gerade hier, im abgelegenen Lykaonien? Welche Funktion hat Apg 14,8-20 innerhalb der Apostelgeschichte?

Diesen Fragen geht Dean Philip Bechard in seiner 1997 bei W. A. Meeks in Yale abgeschlossenen Dissertation nach.

Kap. I (15-85) sichtet die Forschungsgeschichte zur sog. ersten Missionsreise (Apg 13-14). B. lässt die Tendenzkritik Revue passieren (22-29), skizziert die Grundprobleme der Quellenkritik (29-34) und der historischen Forschung im 19. und frühen 20. Jh. (34-58) und referiert die wichtigsten Thesen der Literarkritik bis E. Haenchen (59-77). Sein eigener Zugang verdankt sich wesentlichen Einsichten von C. H. Talbert, C. Breytenbach und R. I. Pervo (77-85). Sein Ziel ist es, die folgende These aus den Quellen zu belegen: "these narrative details [in Apg 13-14, Rez.] constituted a recognizable cluster of images and motifs, sufficient to allow Luke's original readers not only to reconstruct the social circumstances of this scene at Lystra but also to recognize how Paul's initial decision to prescind from the increasing hostility of his Jewish antagonists in favor of a direct appeal to a purely Gentile audience coincided with an extension of his missionary preaching outside strictly urban settings to include the rustic inhabitants of rural Lycaonia" (85).

Kap. II (87-140) analysiert die Struktur der Reise und ihre Funktion in der Apg. Sie ist für B. ein "proleptic précis of what Luke understood as Paul's unique contribution to the history of Christian evangelism" (93). Lukas hebe die besondere Bedeutung dieser ersten "properly constituted mission" (99) durch die singuläre Szene Apg 13,1-3 hervor und kennzeichne sie mit dem bedeutungsvollen Codewort to ergon (13,2.41; 14,26; 15,18 [gegen NTG27]; 15,38) (99-123). In drei gleich aufgebauten Kreisen (13,4-13; 13,14-51; 14,1-21a) schreite die Handlung fort (123-140): Einer Synagogenpredigt folgten jeweils unterschiedliche Reaktionen des Publikums, eine "divine vindication" und ein "dénouement". Apg 13-14 sei eine "tightly organized literary composition, whose coherence is achieved through the repetition and variation of important themes within a cyclical progression of sequenced events" (140).

Kap. III (141-169) erarbeitet die Fragestellung für Kap. IV-V. Lukas habe ein Interesse an "world geography and ethnography" (145-157). Paulus sei auserwählt, das Evangelium allen Völkern zu verkünden (Apg 9,15; vgl. Lk 24,47) (157- 164). Dies tue er nach der Wende in Apg 13,46 zum ersten Mal in Lystra - und provoziere so das Apostelkonzil Apg 15 (165-169). Apg 14,8-20 sei insofern eine "key episode not only in Luke's portrait of Paul but also in the Acts narrative as a whole" (166). Um sie recht zu verstehen, sei es nötig zu klären: "How does Luke integrate the land and people of Lycaonia within his own imago mundi?" (169).

Kap. IV (171-231) fragt nach den jüdischen Quellen für Lukas' Weltbild und skizziert die Auslegungsgeschichte der Völkertafel Gen 10 (173-209: 1Chron 1,1-2,2; Ez 38-39; Jes 66; Dan 11; Jub 8-9; Jos., in starker Anlehnung an J. M. Scott). Texte wie Apg 2,1-13 (211-224) und 1,8 (224-231) zeigten, dass Lukas diese Tradition kenne. Er schildere, wie sich die Kirche ausbreite unter den Nachfahren der Noahsöhne Sem, Ham und Japhet (vgl. Apg 8,4-25; 8,26-39; Apg 11,19-21) (228- 231).

Kap. V (233-353), das Kernstück der Arbeit, fragt nach den griechisch-römischen Quellen für Lukas' Weltbild. Die Geschichte Lykaoniens in der Antike bis in die Mitte des 2. Jh.s (235-279) zeige, "how the ancient Lycaonians gained a reputation for being an essentially uncivilized ethnic group" (278). Rom habe die Region nie wirklich kontrollieren können, sie sei eine "frontier region within the boundaries of the Empire in the East" gewesen, die "ignoble Lycaones [...] anti-types of the summi homines of Rome" (ebd.). Zugleich spiele Lykaonien eine eminente Rolle in der Mythologie (279-337). Lykaon, der rohe König von Arkadien (bzw. Lykaonien), versuchte nach Ovid, Met. 1,211-348 Zeus zu ermorden und provozierte so die große Flut, der nur Deucalion und Pyrrha entkamen (279-291). Diese Tradition sei in verschiedenen Ausprägungen im südlichen Kleinasien sehr populär gewesen (291-337: Philemon und Baucis; Apameia Kibotos [für B. die Stadt der Arche] u. a.). B. postuliert, dass man schon früh Verbindungen gezogen habe zwischen dem legendären Land des Königs Lykaon und dem historischen Lykaonien (vgl. Justinian, Nov. 25; 325-328). So seien die Lykaonier in den Ruf gekommen, "a singularly primitive tribe" zu sein (332). Lukas sei diese Tradition vermutlich nicht unbekannt gewesen (338-353). Ebenso wie andere antike Schriftsteller kenne er sich in den zivilisierten Küstenregionen aus, Lykaonien aber stehe für ihn stellvertretend für das unzivilisierte, rauhe Bergland (345-353).

Kap. VI (355-431) kontrastiert nach einem Überblick über die Forschung zu Apg 17 (355-369, v. a. E. Norden, M. Dibelius) die Mission des Paulus in Athen und in Lystra (369-431). Die Passagen seien gleichwertig (372), "intentionally complementary episodes" (370), die den Universalismus der christlichen Mission betonten, die Bedeutung von Lystra "fully Luke's own invention" (371). Athen sei stilisiert als typische Küstenstadt (epi ten thalassan 17,14) mit ihren Tempeln, dem Handel und der kultivierten Offenheit für neue Ideen (377- 383) - die erste Missionsreise führe Paulus durch das Gebiet der Söhne Japhets ins ländliche Lykaonien (perichoros Apg 14,6) (383-396). In Athen agiere Paulus auf der Agora vor einer kritischen Öffentlichkeit - in Lystra vor einem ländlichen Tempel und einer leichtgläubigen Menge (Ort der ganzen Szene seien die pylones des Tempels 14,13). Paulus nutze die Leichtgläubigkeit der hinterwäldlerischen Lykaonier indes nicht aus, ganz wie es sich für einen wahren Weisen gebühre (vgl. Dio, Orat. 35,9-10) (408-427 mit erneuter Forschungsgeschichte 397- 407). Die Konklusion (427-431) erwägt, ob Apg 14,8-20 auf eine Kritik am Christentum antwortet, wie wir sie später bei Kelsos u. a. finden: "in Acts 14:8-20 we may find Luke's apologetic response to those who claimed that converts to the new movement were mainly uneducated and gullible rustics" (430).

Die Arbeit hat viele Stärken. Sie informiert zuverlässig über die ältere Forschung zur Apg, diskutiert mit großem Anmerkungsapparat eine Fülle von Einzelfragen, kennt sich aus in der griechisch-römischen Literatur. Besonders profitieren wird der Leser von der material- und kenntnisreichen Präsentation der Quellen zur Geschichte Lykaoniens, seinem Image bei den antiken Geographen, der Rolle Lykaons in den paganen Mythen und zu den Spuren der Rezeption der Tradition von einer vorzeitlichen Flut im südlichen Kleinasien. Dem Vf. gelingt es, seine Grundthese plausibel zu machen, dass beim antiken Leser beim Stichwort Lykaonien vielfältige Assoziationen angeklungen sein werden, u. a. die eines rohen, unzivilisierten Bergvolkes. Lystra ist insofern das Gegenstück zu Athen, beide Szenen stehen in einer noch engeren Beziehung als man bislang gesehen hat.

Schwächen sehe ich v. a. in der Konzeption der Arbeit. Insbesondere in den Anmerkungen behandelt sie vieles, das zur Sache wenig beiträgt. Wichtiges wird z. T. sehr oft wiederholt. Manches ist verzichtbar oder könnte massiv gekürzt werden (warum rekapituliert der Vf. in Kap. IV Scotts Ergebnisse, anstatt sie kurz zusammenzufassen oder, besser noch, sich kritisch mit ihnen auseinander zu setzen?).

Vielfach vergeblich blättern wird, wer in B.s Studie Antworten auf all die Fragen sucht, die Apg 14,8-20 der Exegese aufgegeben hat. Tradition und Redaktion werden selten geschieden, historische Fragen kaum je diskutiert, von Barnabas, V. 19-20 und 16,1-5, findet sich fast keine Spur, eine sorgfältige Diskussion dessen, was man heute über einen Zeus-Hermes-Kult in der Region sagen kann, fehlt (vgl. 299 f.). So fällt die Exegese, die nach 350 Seiten Vorarbeiten für Kap. VI angekündigt ist, am Ende etwas enttäuschend aus (zumal sie auch Apg 17 behandelt und sogar nochmals Forschungsgeschichte enthält). Gemessen am Ertrag ist die Studie zu lang ausgefallen, 200-250 konzentrierte Seiten hätten dem Anliegen des Vf.s m. E. einen besseren Dienst erweisen können.

Kleinere Schwächen: Die Untersuchung ist oft nicht auf der Höhe der aktuellen Apg-Literatur (beträchtliche Lücken, nicht nur bei der deutschsprachigen Literatur, die der Vf. ansonsten gut kennt; vgl. exemplarisch 345 f., Anm. 327), zugleich ist der Unterschied zur älteren Forschung nicht immer so groß wie behauptet. Manche der vom Vf. entdeckten Parallelen, gleichen Strukturen und Bezüge wirken konstruiert (z. B. 104 f.128 ff.370, m. E. auch 427 ff.). Die Pointen und Anspielungen, die Lukas in sein Werk eingebaut haben soll, sind zuweilen so kompliziert, dass man sich fragt, wer sie eigentlich verstanden haben soll (227 f.387: der Leser denkt bei Lykaonia an Jesu Wort von den Schafen unter den Wölfen [lykoi Lk 10,3], das ihn seinerseits an die z. B. 1Hen 89 bezeugte Rede von den Völkern als Wölfen denken lässt, ergo: in Lykaonien beginnt die Mission der Völker, "[t]he reader [...] would scarcely fail to notice this lexical connection" [387]). Hier und andernorts wirkt die Arbeit manchmal etwas betriebsblind: Sie stellt originelle Bezüge her, versäumt es aber, gegenläufige Beobachtungen angemessen zu diskutieren: Was ist davon zu halten, dass die Mehrheit der Forschung Apg 10 für den Wendepunkt der Apg hält (10,46; 11,1.18; auch 15,7!)? Wie kann man Apg 8,4-25; 8,26-39 und 11,19-21 zu paradigmatischen Geschichten erklären, die "signal the beginning of the Spirit-impelled mission to all the nations of the world" (229), ohne von Apg 10,1-11,18 zu sprechen, dessen großes Thema eben diese Wende ist?

Der Vf. interpretiert die Apostelgeschichte in ihrer jetzigen Gestalt und arbeitet die Architektur des Textes heraus. So gewinnt jedes Detail potentielle Bedeutung. Lukas entscheidet sich dafür, die Reise des Paulus so oder so zu erzählen, und er will damit etwas sagen, im konkreten Fall: eine universalistische Botschaft vermitteln. So richtig das im Grundsatz sein wird, so sehr verbindet sich mit einer solchen rein synchronen Interpretation ein methodisches Problem: Was, wenn der Verfasser der Apg an diesem oder jenem Punkt Tradition wiedergegeben haben sollte, ohne dass sie für seine eigene Konzeption tiefere Bedeutung hatte? Dann würde manches in einem etwas anderen Licht erscheinen, und es könnte sein, dass die ältere Forschung so falsch gar nicht lag, als sie eines der Fundamente der Architektur der ersten Missionsreise in den Quellen des Lukas sah.