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Ausgabe:

April/2002

Spalte:

434–436

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lessing, Eckhard

Titel/Untertitel:

Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart. Bd. 1: 1870-1918.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 493 S. gr.8. Geb. ¬ 64,00. ISBN 3-525-56196-2.

Rezensent:

Michael Basse

Eine Gesamtdarstellung der Geschichte evangelischer Theologie ist ein ebenso notwendiges wie gewagtes Unternehmen. Notwendig ist es, damit alle, die an der evangelischen Theologie interessiert und mit ihr befasst sind, sich deren inneren Zusammenhang vergegenwärtigen, gewagt ist es angesichts der Vielfalt an Aspekten und Themen in den verschiedenen Disziplinen, die für den Einzelnen kaum noch zu überschauen sind. Um so mehr Respekt ist dem hier anzuzeigenden Werk zu zollen, dessen erster Band nunmehr vorliegt.

Das auf vier Bände angelegte Gesamtwerk ist in konzeptioneller Hinsicht zwei Beschränkungen unterworfen, die Lessing ebenso wie seine methodischen Grundentscheidungen in einer Einleitung begründet. Die Beschränkung auf die deutschsprachige evangelische Theologie wird selbst unter Berücksichtigung der wegweisenden Rolle der deutschen Theologie im 19. Jh. und der ersten Hälfte des 20. Jh.s "nur als Wahrnehmung einer Teilaufgabe verstanden" (21). Den Einsatz um das Jahr 1870 begründet L. mit der tiefgreifenden "Veränderung der theologischen Landschaft" (17), die sich in dieser Zeit vollzogen hat, insofern sich die einzelnen theologischen Disziplinen etablierten und theologische wie kirchliche Standortbestimmungen notwendig wurden, womit die Wissenschaftlichkeit der Theologie und deren kirchlicher Bezug zur Diskussion standen. Die Konflikte, die damit einhergingen, versucht L. mit einer terminologischen Unterscheidung zwischen Parteien, Richtungen, Gruppierungen und Schulen zu erfassen. Ist die Darstellung primär als Problemgeschichte im Sinne einer Ideengeschichte konzipiert, so korreliert dem wiederum eine personengeschichtliche Perspektive in dem Maße, in dem einzelne Theologen richtungsweisend geworden sind.

Von diesen Grundentscheidungen her ergibt sich die Struktur des vorliegenden Bandes, der den Zeitraum von 1870 bis 1918 umfasst. Ein erster Teil befasst sich mit der "Theologie als Wissenschaft" in der Zeit von 1870 bis 1890, ein zweiter Teil mit der "Religion als Problem der Theologie" nach 1890. Es wird jeweils zunächst die allgemeine Entwicklung der Theologie unter besonderer Berücksichtigung der einzelnen Schulen dargestellt, um dann die Forschung in den einzelnen Disziplinen nachzuzeichnen, wobei auch hier erst die jeweilige Problemlage umrissen wird, bevor die einzelnen Richtungen zu Wort kommen. Im zweiten Teil wird die Praktische Theologie noch durch eigenständige Abschnitte zur Missionswissenschaft und zum Kirchenrecht ergänzt.

Im Mittelpunkt des ersten Teils steht, ausgehend von den richtungsweisenden Ansätzen Albrecht Ritschls und Hermann Cremers, die fundamentaltheologische Erörterung der "Frage nach der Eigenart des evangelischen Christentums" (35), die über den innertheologischen Diskurs hinaus von öffentlichem Interesse war. Die primäre Orientierung an einer Verknüpfung von Traditions- und Gegenwartsbezug erforderte eine Reflexion des zu Grunde liegenden Geschichtsverständnisses und konzentrierte sich in dogmatischer Hinsicht auf das "Dreieck Schrift-Rechtfertigung-Christologie" (34). Neben Ritschl und Cremer sowie Martin Kähler sind es die Ansätze von Frank, Pfleiderer und Lipsius, die eingehender erläutert werden, um dann die Entstehung und Entwicklung der darauf aufbauenden theologischen Schulen aufzuzeigen, wobei die Ritschlschule und die Greifswalder Schule im Vordergrund stehen. Die anschließende Darstellung der Forschung in den Einzeldisziplinen erhellt den allgemeinen theologiegeschichtlichen Bezugsrahmen noch einmal und macht darüber hinaus auf besondere Entwicklungen und Problemstellungen aufmerksam. Die entscheidende Rolle, die L. der Systematischen Theologie beimisst, indem er sie als Leitperspektive der evangelischen Theologie insgesamt bestimmt, kommt darin zum Tragen, dass sie auch im Überblick über die Einzeldisziplinen den größten Raum einnimmt, wobei hier nun die spezifische Bedeutung der Ethik betont wird. Die Geschichte der theologischen Disziplinen unterstreicht, wie sehr das erkenntnisleitende Interesse an der "Tatsächlichkeit des geschichtlichen Prozesses" (169) und die methodische Orientierung an dem "historische[n] Objektivitätsideal" (195) dominierten, wobei das jeweilige Geschichts- und Offenbarungsverständnis zwischen den einzelnen Schulen erheblich differierte und ein "Auseinandergehen von historischer und theologischer Forschung" (169) zu beobachten ist.

Der zweite Teil befasst sich mit der veränderten Lage der Theologie in den 1890er Jahren, als mit der religionsgeschichtlichen Schule und der modern-positiven Theologie zwei neue Richtungen entstanden, die in ausdrücklicher Abgrenzung zur bisherigen Theologie konzipiert wurden, und sich darüber hinaus generell ein "verändertes Weltverständnis" (274) abzeichnete, das einerseits durch den machtpolitischen und sozialgeschichtlichen Kontext der Zeit geprägt und andererseits von neuen wissenschaftlichen Fragestellungen bestimmt wurde. Im Blick auf die Religionsgeschichtliche Schule stellt L. zunächst mit Lagarde, Duhm und Eichhorn deren Begründer vor, um dann ihre systematischen Hauptgedanken zu entfalten und schließlich mit Troeltsch den "Systematiker" dieser Schule zu Wort kommen zu lassen. Wird hier die Religion zum "Problem der Theologie" (273), so stand für die modern-positive Theologie im Gefolge Reinhold Seebergs die Frage im Vordergrund, wie sich das Christentum in der Moderne behaupten kann. Dazu wurde ein umfassender Offenbarungsbegriff mit einem idealistisch verstandenen Begriff der Entwicklung verknüpft, um so den Traditions- und Gegenwartsbezug zu sichern. Diese beiden neuen theologischen Paradigma sorgten mit ihren Thesen und Anfragen schließlich auch dafür, dass sich die anderen theologischen Richtungen weiterentwickeln mussten. Die Konzentration auf den Religionsbegriff wird auch im Blick auf die Forschung in den einzelnen Disziplinen deutlich. In exegetischer Hinsicht rückte die Frage nach der religionsgeschichtlichen Eigenart Israels bzw. des Christentums in den Mittelpunkt, und damit war zugleich in wissenschaftstheoretischer Hinsicht "die Bedeutung und die Reichweite des Analogiebegriffs [zu] bestimmen" (332). Tauchte hier die Krise des Historismus am Horizont auf, so blieb doch zunächst noch das historische Paradigma bestimmend, wobei die Abgrenzung zwischen der Profan- und Kirchengeschichte aufgehoben und die Religions- bzw. Kulturgeschichte zum umfassenden Bezugsrahmen wurde.

Insgesamt wird in diesem theologisch fundierten und gut zu lesenden Band sowohl ein problemorientierter Überblick über die Geschichte neuerer evangelischer Theologie als auch ein Einblick in die Spezialforschungen vermittelt und zugleich deren Zusammenhang aufgezeigt. Die klare Strukturierung bietet den großen Vorteil, dass sich die übergreifenden Abschnitte ("Ansätze" und "Problemlage" in den einzelnen Disziplinen) auch separat lesen lassen und zugleich der gesamte Band als Nachschlagewerk zu einzelnen Theologen und Detailproblemen genutzt werden kann. Die folgenden Bände dürfen mit Spannung erwartet werden!